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1 Was wusste die Wissenschaft schon vor der COVID-19-Pandemie?

In den letzten Jahrzehnten gab es wiederholt epidemische und pandemische Ausbrüche neuer oder sich neu ausbreitender Erreger. Es war in der Wissenschaft allgemein bekannt und oft kommuniziert, dass es auch künftig zu Ausbrüchen und Pandemien kommen wird; unklar war allerdings durch welchen Erreger. Als mögliche Erreger galten vor allem RNA-Viren, wie etwa Influenza-, Corona-, Flavi- oder Paramyxoviren. Zu erwarten war auch, dass die auslösenden Erreger von Tieren wie Fledermäusen, Nagern oder Geflügel auf den Menschen überspringen würden – dass es sich also um Zoonosen handeln würde. Ebenso war lange klar, dass das Überspringen der Viren vom Tier auf den Menschen und die rasante Ausbreitung von Viren von menschengemachten Faktoren massiv verstärkt werden: Reisen, globaler Handel, Migration, die Ballung in Megacities, Armut, Krieg und Klimawandel; dies alles trägt dazu bei.

Unklar war allerdings, wann und wo es zu neuen Ausbrüchen kommen würde und wie pathogen der betreffende Erreger sein würde, also welche Krankheitslast dadurch verursacht wird. Aber auch dazu gab es Modelle: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter Federführung des Robert Koch-Instituts sagten in der Risikoanalyse „Pandemie“ durch Virus „Modi-SARS“ bereits 2013 [1] ein Szenario vorher, das in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeiten mit der SARS-CoV-2-Pandemie hat.

1.1 Was hat zu falschen Einschätzungen geführt?

Diese Risikoanalyse haben Politik, Wissenschaft und Gesellschaft, so mein Eindruck, erst nachträglich – im Laufe der jetzigen Pandemie – richtig zur Kenntnis genommen. Die Gefahr neuer Pandemien war zwar allgemein bekannt und auch im öffentlichen Bewusstsein verankert, aber diese Gefahr wurde weithin unterschätzt. Dazu hatten auch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte beigetragen. Die Zeiten der spanischen Grippe von 1918/1919 sowie die asiatische und die Hong Kong Grippe in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts waren lange vorbei, und die größeren Ausbrüche und Pandemien der jüngeren Vergangenheit haben die Wahrnehmung und unsere Erwartungshaltung geprägt. So hatte sich SARS nach seinem ersten Auftreten beim Menschen in Südchina Ende 2002 zwar sehr schnell in viele Länder verbreitet, aber der Ausbruch konnte mit weltweit insgesamt weniger als 10.000 Fällen innerhalb weniger Monate kontrolliert und beendet werden. Entscheidend dafür war die Tatsache, dass SARS bei fast 10% Letalität zwar sehr pathogen war, aber der Erreger erst in späteren Stadien der Erkrankung von Mensch zu Mensch übertragen wurde und nicht im frühen oder gar im asymptomatischen Stadium. So gelang es, durch Isolierung der Erkrankten die weitere Ausbreitung rasch einzudämmen.

Bei der weltweiten Ausbreitung der Schweinegrippe in den Jahren 2009/2010 waren dagegen die Infektionsraten sehr hoch und der Erreger, ein Influenzavirus vom Typ H1N1, wurde zum weltweit dominierenden Erreger der Grippe. In diesem Fall war jedoch die Pathogenität des Erregers für den Menschen relativ gering, die anfänglich befürchteten Szenarien traten nicht ein. Ebenso gewarnt wurde vor dem Vogelgrippe-Erreger H5N1: Dieses Virus zeigt eine sehr hohe Pathogenität, aber es breitet sich fast nicht von Mensch zu Mensch aus; für die Infektion ist sehr enger Kontakt mit infiziertem Geflügel erforderlich. Insgesamt betrachtet entstand so der Eindruck, wir hätten die „emerging infections“ (neu auftretende Infektionskrankheiten) weitgehend im Griff. Zwar würde es immer wieder Ausbrüche und auch weltweite Ausbreitungen geben, aber diese wären vermutlich rasch unter Kontrolle zu bringen und nicht mit hoher Krankheitslast verbunden. Die aktuelle COVID-19-Pandemie zeigt, dass dies ein Irrtum war.

Eine gewisse Warnung war die Ebola Epidemie in Westafrika: Zwischen 1976 und 2014 hatte es rund 25 Ebola-Ausbrüche in Zentralafrika, aber nie in Westafrika gegeben. Im Durchschnitt starben bei jedem dieser Ausbrüche etwa 100 Menschen, die Ausbrüche wurden in der Regel schnell kontrolliert. Obwohl die präklinische Entwicklung eines Impfstoffs gegen Ebolavirus in den frühen 2000er Jahren weit fortgeschritten und der Impfstoff bei Nagetieren und Primaten sicher und wirksam war, wurde angesichts der geringen Fallzahlen die Entwicklung nicht fortgeführt, klinische Studien erfolgten nicht. Dann kam 2014/2015 die Ebola-Epidemie in Westafrika mit mehr als 25.000 Infizierten und 11.000 Toten. Das hat das Bild der Bedrohung, die von Ebola ausgehen kann, auch in der breiten Öffentlichkeit verändert und hat uns gezeigt, wie wichtig Impfstoffe gegen potentiell pandemische Erreger sind. Dementsprechend wurden im Verlauf der Ebola-Epidemie in Westafrika klinische Studien mit mehreren zuvor präklinisch entwickelten Impfstoffen erfolgreich durchgeführt und diese Impfstoffe in der Folge in zahlreichen Ländern zugelassen.

2 Wie hat die Wissenschaft auf die COVID-19-Pandemie reagiert?

Entgegen mancher Berichte und Kommentare hat die Wissenschaft in der frühen Phase der Pandemie sehr schnell und außerordentlich erfolgreich reagiert und agiert. Die weltweite wissenschaftliche Zusammenarbeit und deren offen kommunizierte und frei verfügbare Ergebnisse haben entscheidend zur Abmilderung des Krankheitsgeschehens beigetragen. So hat die Wissenschaft unter anderem:

  • den Erreger schnell identifiziert.

  • spezifische Nachweisverfahren unmittelbar etabliert und breit verfügbar gemacht.

  • die geographische Herkunft und die Verbreitung des Virus frühzeitig nachgewiesen.

  • die Übertragungswege geklärt.

  • Risikofaktoren und Risikogruppen rasch identifiziert.

  • die Pathogenese und die klinischen Verlaufsparameter zumindest teilweise aufgeklärt.

  • nicht-pharmazeutische Interventionen validiert.

  • den Erreger molekularbiologisch und strukturbiologisch charakterisiert.

  • die Immunantwort charakterisiert und Immunflucht identifiziert.

  • sehr schnell wirksame Impfstoffe nach neuen Prinzipien entwickelt.

  • Virus-Varianten unmittelbar entdeckt und deren Ausbreitung verfolgt.

  • therapeutische Maßnahmen entwickelt.

Darüber hinaus haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit Politik und internationale Organisationen umfassend beraten und zur wissenschaftsgeleiteten Information der Bevölkerung beigetragen.

3 Sind wir jetzt besser auf die nächste Pandemie vorbereitet?

Niemand kann sicher wissen, welcher Erreger, der vom Tier auf den Menschen überspringt, den nächsten Ausbruch oder die nächste Pandemie verursachen wird und wie gefährlich diese sein wird. Aber je mehr wir über die natürlich vorkommenden Viren in den Tierarten wissen, von denen in der Vergangenheit Viren auf den Menschen übergesprungen sind, desto besser können wir uns darauf einstellen. Dabei ist besonders an Nagetiere, Geflügel und insbesondere an die riesige Zahl von Fledermausarten zu denken. Mit neueren Methoden der molekularbiologischen Forschung – Stichwort: next generation sequencing – wurde es möglich, die Gesamtheit der Virengenome in einem Organismus, das so genannte Virom, zu bestimmen. Mit solchen Sequenzierungen wurden zum Beispiel mit dem SARS-CoV-2 sehr nah verwandte Viren in Fledermäusen in verschiedenen Regionen von China und seinen Nachbarländern entdeckt, so dass die Fledermaus als zoonotischer Wirt des Erregers inzwischen als gesichert angenommen werden kann. Je mehr wir über das Virom verschiedener Tierarten wissen, desto besser können wir uns auf zukünftige Zoonosen vorbereiten, auch wenn der dann tatsächlich auftretende Erreger nicht vorherzusagen ist. Eine aktuelle Publikation [2] charakterisierte beispielsweise das Virom von 1.941 Tieren aus 18 verschiedenen Arten, die in China gejagt und auf Tiermärkten zum Verzehr angeboten werden. Die Autoren identifizierten dabei 102 Viren, von denen 21 theoretisch zoonotisches Potential haben.

Durch diese Methoden können wir also potenziell zoonotische Erreger besser aufspüren und frühzeitig diagnostische Nachweismethoden entwickeln. Um das zoonotische Potential, die Anpassung an den Menschen und die mögliche Pathogenität besser vorhersagen zu können, braucht es zusätzlich standardisierte Methoden, um potenziell relevante Erreger funktionell zu charakterisieren. Derartige Untersuchungen lassen sich nur in großen nationalen und internationalen Netzwerken durchführen, in denen die Fachkenntnisse von Experten für die verschiedenen Viren mit denen anderer Fachrichtungen kombiniert werden. Solche Netzwerke bieten auch die Voraussetzungen, breit wirksame antivirale Wirkstoffe gegen bestimmte Virusgruppen zu entwickeln.

Hier ist die Rolle des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) [4], das vor rund zehn Jahren gegründet wurde, besonders hervorzuheben. Es hat die wissenschaftliche Zusammenarbeit über Standorte und Institutionen hinweg und über den Bereich der akademischen Forschung hinaus ermöglicht und gefördert. So haben sich zahlreiche wissenschaftliche Arbeitsgruppen aus allen sieben DZIF Standorten zusammengeschlossen, um relevante virale Erreger in Systemen unterschiedlicher Komplexität (Zellkultur, Organoid, Tiermodell), sowie die Immunantwort des Wirtes (Tier und Mensch) zu untersuchen und zu bewerten. Ein zentrales Anliegen dieses Netzwerkes ist es, im Rahmen der Antiviral Compound Testing Platform (ACTP) [3] potentiell breit wirksame antivirale Substanzen zu finden.

Ebenfalls etabliert wurden nationale und internationale Partnerschaften zwischen Industrie und akademischer Forschung, um auf Basis verschiedener Technologien Impfstoffe zu entwickeln und rasch zu testen. Weiterhin wurde damit begonnen, Entwicklungs- und Produktionskapazitäten für Impfstoffe aufzubauen und vorzuhalten. So wurde vor kurzem das Zentrum für Pandemie-Impfstoffe und -Therapeutika (ZEPAI) am Paul-Ehrlich-Institut gegründet [5]. Das ZEPAI wird sich mit dieser Vorhaltung sowie mit der Logistik der Impfstoffproduktion und Impfstoffbereitstellung beschäftigen.

4 Was benötigen wir zusätzlich, um auf die nächste Pandemie vorbereitet zu sein?

Vorbereitet sein bedeutet, möglichst viele Werkzeuge etabliert, validiert und vollständig einsatzfähig zu haben, ohne zu wissen, ob und wann man sie benötigen wird. In diesem Zusammenhang müssen wir uns folgende Fragen stellen, die nicht allein durch die Wissenschaft, sondern auch von der Politik und der Gesellschaft beantwortet werden müssen:

  • Was muss, was kann und was will sich unsere Gesellschaft zur Pandemievorsorge leisten?

  • Wie stellt sich Deutschland bei der Pandemievorsorge im internationalen Kontext auf?

  • Können wir die notwendigen sektorübergreifenden Infrastrukturen und Netzwerke auch über die aktuelle pandemiebedingte hohe Aufmerksamkeit und wahrgenommene Relevanz hinaus langfristig entwickeln und funktionell halten?

Beispiele für Werkzeuge und Aktivitäten, die für die Pandemievorsorge benötigt werden, sind:

  • Um Impfstoffe schnell an neue Erregervarianten anzupassen, sollten etablierte und validierte Plattformtechnologien einsatzbereit sein und bleiben.

  • Breit wirksame Impfstoffe gegen Erregergruppen sollten bis zur klinischen Phase I/IIa vorsorglich entwickelt werden.

  • Breit wirksame antivirale Wirkstoffe sollten zentren- und sektorübergreifend entwickelt und getestet werden. Hier haben wir der Bundesregierung eine Nationale Allianz vorgeschlagen, in der die akademische Forschung, die Industrie und die Zulassungsbehörden zusammenarbeiten. Dieser Vorschlag wurde trotz vielfältiger Unterstützung aus der Industrie und von internationalen Organisationen von der Politik bisher leider nicht aufgegriffen.

  • Die pandemische Erfahrung sollte dazu führen, dass fehlende oder dysfunktionale Strukturen oder Regularien neu bewertet und an die Erfordernisse angepasst werden. Beispielsweise gilt es, Datenschutz mit institutionsübergreifenden Datenerhebungen und Datenauswertungen in Einklang zu bringen. Es ist kein Zufall, dass wir in Deutschland kein Impfregister haben, oder nur wenige Genomsequenzierungsdaten aus Deutschland kommen. Weiterhin benötigen wir vereinfachte Genehmigungsverfahren für experimentelle und klinische Studien, ohne dabei die Patientensicherheit zu beeinträchtigen. Außerdem müssen die stationären Versorger mit dem ambulanten Bereich und insbesondere mit dem öffentlichen Gesundheitswesen sowie den lokalen Entscheidungsträgern viel besser vernetzt werden, regional koordiniert von der Universitätsmedizin [6]. Universitätsmedizin und öffentliches Gesundheitswesen hatten vor der Pandemie kaum Berührungspunkte, aber an manchen Orten hat die Zusammenarbeit in der Pandemie sehr gut funktioniert; das hat sich ausgezahlt und kann als Modell für die Zukunft dienen. Schließlich sollte eine schnell umsetzbare und rechtssichere Zusammenarbeit unterschiedlicher Einrichtungen im öffentlichen und privaten Sektor, national und international, ermöglicht werden.

  • Die starke Grundlagenforschung in Deutschland sollte weiterentwickelt und über institutionelle Grenzen hinweg mit translationaler und klinischer Forschung verknüpft werden.

  • Der offene und vorurteilsfreie Diskurs über Fächer- und Disziplingrenzen hinweg sollte verbessert und verstetigt werden. Hier kommt den Akademien der Wissenschaft eine wichtige Rolle zu.

Die Pandemie ist noch nicht vorbei und wir müssen vorbereitet bleiben sowie über die aktuelle Pandemie hinausdenken – das erfordert eine schwierige Balance zwischen unberechtigtem, schädlichem Alarmismus auf der einen Seite, und notwendigem Nachdruck angesichts realer Risiken auf der anderen.