Ganz herzlich möchte ich Sie alle auch im Namen der gesamten Arbeitsgruppe Infektionsforschung und Gesellschaft bei unserem Symposium begrüßen. Besonders begrüße ich den ersten Bürgermeister, lieber Herr Tschentscher, und danke dafür, dass Sie mit ihrer Anwesenheit die Bedeutung des Themas und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema auch seitens des Senates unterstreichen.

1 Babylonische Hybris

„Jeder Tote ist ein Toter zu viel“ ist eines der Zitate von Olaf Scholz, aber auch von anderen öffentlichen Vertretern, das in der Pandemie öfters zu hören war. Aber nicht nur gehört der Tod zu unser aller Leben, auch der unerwartete, der frühzeitige Tod gehört zur menschlichen Existenz. Die Angst oder Ur-Angst davor und unser Urstreben, diesem frühzeitigen Tod zu entrinnen oder ihn zu verhindern, sind Ur-Eigenschaften des Menschen, ohne die Menschsein wahrscheinlich gar nicht möglich wäre, da es den notwendigen Kampf gegen die Widrigkeiten der Natur ermöglicht. Dabei glauben wir aber irrigerweise immer wieder, dass durch unsere Vorsichtsmaßnahmen, durch unsere Regelungen und Gesetze, und durch den wissenschaftlich fundierten Fortschritt diese Gefahr doch bald vollständig gebändigt werden kann. Aber diese Hoffnung zu einer Erwartung werden zu lassen gleicht dann doch eher einer babylonischen Hybris als einer realistischen Einschätzung dessen, was möglich ist. Und wenn wir gesundheitspolitische Maßnahmen und Entscheidungen abwägen, dann sollten neben Mortalität die Kriterien Morbidität und dabei nicht nur der Verlust an Lebensjahren, sondern an Qualitäts-adjustierten Lebensjahren, QALYs – das ist eigentlich der international übliche Standard – gemessen beziehungsweise abgeschätzt werden. Dies sollte auch für die nächste Pandemie gelten, denn es gilt immer unterschiedliche Maßnahmen gegeneinander abzuwägen.

2 Beispiel Schulschließungen

Die Kinder sind unsere Zukunft, aber in dieser Pandemie waren sie nie wirklich gefährdet. Hier die Zahlen aus der Schweiz, die heute durch zwei exzellente Vertreter ihres beratenden Expertengremiums vertreten ist (Abb. 1).

Abb. 1.
figure 1

Anzahl Todesfälle in Zusammenhang mit dem Coronavirus in der Schweiz nach Altersklasse (Statista 2022) [1]

Die Schweiz hat ähnlich wie Schweden einen sehr viel zurückhaltenderen Umgang mit Schulschließungen gepflegt als Deutschland. Was haben denn eigentlich Schulschließungen bewirkt? Wenn wir den groben Parameter zusätzliche Mortalität (Excess Mortality) mit der Zeit der Schulschließungen in verschiedenen Ländern korrelieren, ergibt sich Abb. 2.

Abb. 2.
figure 2

(Eigene Darstellung) [2, 3]

Korrelation zwischen der Überschussmortalität in verschiedenen Ländern und der Dauer der kompletten Schulschließungen

Das gleiche Bild zeigt sich, wenn wir Teil-Schließungen der Schulen plus komplette Schließungen mit der zusätzlichen Mortalität korrelieren (Abb. 3).

Abb. 3.
figure 3

(Eigene Darstellung) [2, 3]

Korrelation zwischen der Überschussmortalität in verschiedenen Ländern und der Dauer partieller und kompletter Schulschließungen

Man sieht hier wirklich keinen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Möglicherweise, und wir wollen ja vor allem in die Zukunft schauen, sähe das Bild bei einer Influenza-Pandemie anders aus, aber leider wissen wir es überhaupt nicht. Und so zeigt sich, dass es nicht nur eine Frage ist, ob die Politik auf die Wissenschaft hört, sondern dass vielmehr die Wissenschaft sehr großen Forschungs- und Diskussionsbedarf hat. Wir Wissenschaftler haben es einfach nicht gewusst, aber in Ermangelung einer ausreichenden Faktenlage sehr unterschiedlich eingeschätzt.

3 „Nebenwirkungen“ verhinderter Infektionen

Aus infektiologischer Sicht kann man sagen, dass jede verhinderte Infektion eigentlich ein Erfolg ist, aber aus gesamtmedizinischer Sicht ist auch das unsicher, denn es gibt schon seit langem sehr gute Daten, dass die Reduktion von Infektionserkrankungen, die ohne Zweifel unsere Lebenserwartung verlängert hat, durchaus auch Nebenwirkungen hat. So hat Jean François Bach in einer klassischen Arbeit schon 2002 darauf hingewiesen [4], dass der Rückgang von Infektionskrankheiten mit einem deutlichen Anstieg allergischer und immunologischer Erkrankungen verknüpft ist. Dieser Zusammenhang (Abb. 4) gilt inzwischen als gut belegt.

Abb. 4.
figure 4

(Eigene Darstellung)

Schematische Darstellung der Inzidenzen von Infektionskrankheiten, Autoimmunkrankheiten und Allergien zwischen 1950 und 2000

Allerdings ist auch hier anzumerken, dass eine zeitliche Assoziation nicht unbedingt eine kausale Assoziation bedeutet. Aber auch die aktuellen Fälle schwerer akuter Hepatitis bei kleinen Kindern beruhen vermutlich auf nicht mehr ausreichender natürlicher Virusimmunität durch die Schutzmaßnahmen der letzten zwei Jahre.

4 Falsche Modellrechnungen

Warum waren viele der Prognosen und Modelle des Pandemieverlaufs so falsch? Wahrscheinlich weil wir noch viel zu wenig über die Infektionsausbreitung nicht nur dieses Virus, sondern auch anderer Infektionen wissen. Aus England stammt diese gerade in Nature Medicine publizierte hervorragende Studie, in der nach sorgfältiger Abwägung 36 junge Erwachsene mit einer niedrigen Virusdosis gezielt nasal infiziert wurden. Nur 18 von den 36 Probanden erkrankten, 18 blieben gesund. Alle Modellrechnungen aber waren bis dahin davon ausgegangen, dass jeder ausreichend Exponierte erkranken würde. Eigentlich hätten wir etwas ähnliches zumindest ahnen können, denn es gilt für praktisch alle Infektionen. Die enorme genetische Vielfalt des Menschen hat sich in der Evolution deswegen entwickelt, weil nur durch diese Vielfalt die Menschheit überleben konnte, da immer einige vor bestimmten Infektionen zumindest relativ geschützt sind.

Von den Engländern haben wir fast alles klinisch Relevante in dieser Pandemie gelernt, und eine der Lehren aus der Pandemie für Deutschland muss sicherlich sein, dass wir die klinische Forschung in Deutschland erleichtern und verbessern müssen. Dies gilt auch für die epidemiologische Forschung, wo die Engländer zum Beispiel eindrucksvoll zeigen konnten, dass die Mortalität in der Pandemie extrem vom sozialen Status und Umfeld abhängig war.

Ob, wie in der letzten Woche im New England Journal of Medicine berichtet [5], der plötzliche Anstieg an Todesfällen durch Schusswaffen und schweren Vergiftungen beziehungsweise Drogen-Überdosierung in den USA im Jahre 2020 auch Folge der Pandemie und ihrer Maßnahmen war, bleibt zurzeit spekulativ, aber fordert unsere Aufmerksamkeit.

5 Wissen schützt

Unsere Arbeitsgruppe ist sich ihrer Aufgabe als Mahner bewusst. Wir haben bereits 2019, also deutlich vor der Pandemie, das erste Symposium „Infektionen und Gesellschaft“ geplant, welches dann im Oktober 2020 stattfand. Der bei Springer erschienene Tagungsband mit den Vorträgen wurde inzwischen über 66.000-mal heruntergeladen. Das heutige Symposium haben wir als Blick zurück und vor allem in die Zukunft organisiert, und wir haben die Notwendigkeit einer soliden wissenschaftlichen Basis durch Aufbau eines unabhängigen Institutes für Pandemie- und Krisenforschung dargelegt – bisher allerdings noch ohne den gewünschten Erfolg. Gefahren-Vorhersage ist bekanntermaßen nicht beliebt, denn da geht es der Politik leider manchmal so wie dem Impfgegner: das kleine Risiko jetzt, die Kosten für das Institut beziehungsweise die Schmerzen für den Impfgegner, scheinen schlimmer als das mögliche schlimme große Risiko irgendwann, von dem man hofft, dass es einen vielleicht doch nicht trifft. Für alle, die wir heute hier versammelt sind, gilt aber, dass wir uns vorbereiten wollen auf das, was in der ein oder anderen Form sicher wieder eintreten wird – zumindest ein großer epidemischer Ausbruch, aber wahrscheinlich früher oder später auch wieder eine neue Pandemie.

Wissen schützt – daran wollen wir gemeinsam arbeiten. Ich wünsche uns eine interessante Tagung.