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1 Das Informationsökosystem

In mehreren vorangegangenen Vorträgen wurde erwähnt, dass Veränderungen im Ökosystem, beispielsweise durch Umweltzerstörung, Massentierhaltung, Urbanisierung, Mobilität und Klimawandel das Risiko für Pandemien erhöhen. Als Wissenschaftsjournalist sehe ich mich auch als Teil eines Ökosystems, des Informationsökosystems. In diesem gibt es analog zum Ökosystem Megatrends, die es beeinflussen und teilweise schädigen: Fragmentierung, Polarisierung, Vertrauensverlust und Informationsflut (Stichwort Infodemie) zum Beispiel. Hinzu kommen ökonomische Interessen: Das Informationsökosystem wird größtenteils strukturiert durch Algorithmen, die nicht darauf ausgelegt sind, wahre Informationen zu begünstigen, sondern unsere Zeit im Internet zu maximieren. So wie die Veränderungen im Ökosystem, in dem wir leben, die Ausbreitung von Krankheitserregern begünstigen, so begünstigen die Veränderungen im Informationsökosystem, in dem wir leben, die Ausbreitung von Fehlinformation.

Zwei Dinge sind mir wichtig bei dieser Analogie. Erstens: Das Informationsökosystem ist ähnlich komplex wie das Ökosystem. Zweitens: Das Informationsökosystem wandelt sich noch schneller und noch radikaler als das Ökosystem. Zusätzlich verstehen wir es aber auch schlechter, weil es viel weniger untersucht ist und weil es durch die ständigen Veränderungen auch sehr schlecht zu untersuchen ist. Und manche Teile entziehen sich unserem Wissen, da Unternehmen wie Google oder Facebook die Daten nicht zugänglich machen.

2 Evolutionäre Fehlanpassung

Ich glaube, dass unser Verhältnis zum modernen Informationsökosystem ein „evolutionary mismatch“ ist. Wir bewegen uns also in einem Umfeld, auf das wir evolutionär nicht gut vorbereitet sind. So führt zum Beispiel die hochgradige Vernetzung der Welt dazu, dass Informationen anders bewertet werden müssten als es unser Gehirn gleichsam automatisch macht. Berichtetem einem vor tausend Jahren fünf Personen, dass sie einen Wolf gesehen haben, so musste dies ernst genommen werden. Verbreiten heutzutage fünf Leute, dass die COVID-19-Pandemie in Wirklichkeit eine Verschwörung ist, so haben sie wahrscheinlich den gleichen Telegram-Kanal von Atila Hildmann abonniert. Zum anderen triggern soziale Medien über Likes und Retweets – ähnlich wie der Zucker in Softdrinks – das Belohnungssystem. Zucker war einst ein Zeichen für wertvolle, weil seltene energiereiche Nahrung. Und in einer kleinen Gemeinschaft waren gute Verhältnisse mit den Mitmenschen überlebenswichtig. Heute gibt es energiereiche Nahrung im Supermarkt im Überfluss – und auf den sozialen Medien hunderttausende Menschen oder mehr, nach deren Zustimmung wir lechzen. In der Pandemie hat man gesehen, dass auch Wissenschaftler anfällig sein können, sodass sie in Polarisierungsfallen tappen, da sie sich Follower aneignen, die die Wissenschaftler wiederum mit Likes konditionieren.

3 Ein Beispiel für gezielte Falschinformation

Ende Januar 2020 veröffentlichte das New England Journal of Medicine einen Bericht über eine Geschäftsfrau aus Shanghai, die mehrere GeschäftspartnerInnen mit dem Coronavirus angesteckt hatte. Es kam zu einem Cluster an Infektionen [1]. In dem Bericht hieß es, dass die Frau die anderen angesteckt hatte, obwohl sie keine Symptome aufwies. Der Schwachpunkt war, dass die Autoren des Berichts die Frau nicht erreicht hatten, um diese Aussage zu verifizieren. Über diesen Schwachpunkt und die Frage der Allgemeingültigkeit veröffentlichte ich am 3. Februar 2020 in Science den Artikel „Study claiming new coronavirus can be transmitted by people without symptoms was flawed“ [2]. In dem Artikel steht explizit: „The fact that the paper got it wrong doesn´t mean transmission from asymptomatic people doesn´t occur.“ (Die Tatsache, dass der Bericht falsch liegt, bedeutet nicht, dass eine Übertragung durch asymptomatische Menschen nicht vorkommt.) [2] Ebenfalls wird am Ende der Virologe Christian Drosten zitiert, der sagt, dass klargeworden ist, dass auch Menschen mit sehr milden Symptomen anstecken können. Mit milden Symptomen bleibe man nicht zwangsläufig zuhause.

Im Mai 2020 registrierte Science auf einmal hohe Zugriffszahlen für den Artikel. Daraufhin wurde untersucht, warum sich der Artikel vier Monate nach Veröffentlichung so großer Beliebtheit erfreute. Es stellte sich heraus, dass der Artikel als Quelle benutzt wurde, um gegen eine Maskenpflicht zu argumentieren, da ein Argument für die Masken war, dass diese vor einer Ansteckung durch asymptomatische Personen schützen sollten. Bei Science fühlte man sich genötigt, im Internet an den Anfang des Artikels eine Nachricht zu stellen, die besagte, dass er in den sozialen Medien häufig in einer Weise verwendet wurde, die auf einer falschen Lesart beruht. Es sei inzwischen klar, dass auch Menschen mit sehr schwachen Symptomen andere Menschen infizieren könnten.

Dieser Vorgang war für mich persönlich ein Lernprozess. Es kommt immer wieder vor, dass Artikel missverstanden werden. Doch die gezielte Benutzung eines Artikels zur Falschinformation war neu. Es war klar, dass sich die Datenlage inzwischen geändert hatte, und insofern musste eigentlich auch klar sein, dass der Artikel zur Falschinformation missbraucht wurde. Mir ist bewusst geworden, dass es ein Problem ist oder sein kann, dass bei einer sich sehr schnell verändernden Datenlage noch „alte“ Artikel vorhanden und abrufbar sind.

Für Medien und Medienvertreter bleiben die Fragen: Wie wird damit umgegangen, dass es Informationen zu verschiedenen Zeitpunkten mit unterschiedlichem Informationsstand gibt? Wie wird damit umgegangen, dass online nicht immer klar wird, was der aktuelle Stand ist?

4 Anfeindungen von Forschenden

Science beschäftigt sich nicht nur mit wissenschaftlichen Inhalten, sondern auch mit der Verankerung der Wissenschaft in der Gesellschaft. Dafür erstellte Cathleen O´Grady eine im März 2022 publizierte Umfrage für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Veröffentlichungen zu COVID-19 geschrieben hatten. 38% der Teilnehmenden berichteten über Belästigungen, zum Beispiel in Form von persönlichen Beleidigungen oder Cyberattacken [3]. Dies ist ein Warnsignal, das zeigt wie stark Polarisierung und Radikalisierung in der Wissenschaft angekommen sind.

Ein Beispiel aus den deutschen Medien ist die Bild-Zeitung vom 4. Dezember 2021 mit dem Artikel „Die Lockdown-Macher“. Die drei abgebildeten Forscher wurden auf zynische Art als persönlich verantwortlich für den Lockdown dargestellt. Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen veröffentlichte zwei Tage später eine Stellungnahme: „Dass und auf welche Weise hier einzelne Forscherinnen und Forscher zur Schau gestellt und persönlich für dringend erforderliche, aber unpopuläre Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung verantwortlich gemacht werden („Experten-Trio schenkt uns Frust zum Fest“), ist diffamierend. Es kann überdies leicht zu einem Meinungsklima beitragen, das an anderer Stelle bereits dazu geführt hat, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt sahen oder mit ihr bedroht wurden.“[4]

Mai Thai Nguyen-Kim kommentierte dies einige Tage später in einem Podcast: „Meine Überzeugung ist ohnehin, dass Wissenschaft politisch neutral sein muss. Um diese Neutralität zu bewahren, muss man sich manchmal paradoxerweise politisch einmischen. Denn es schafft keine politische Neutralität, indem man sich raushält, solange die Medien und andere Akteure Wissenschaft ohnehin politisieren und öffentlich diskutieren. Wenn man dann nur zuschaut und denen das Narrativ überlässt, kann man die Neutralität der Wissenschaft gar nicht verteidigen. Insofern finde ich das ganz wichtig und gut, dass es dieses geschlossene Zeichen aus der Forschung und Wissenschaft gibt.“[5]

5 Vertrauen

Ein Wunsch von mir wäre, dass wir uns nach dieser Pandemie vor allem mit den Problemen beschäftigen, für die wir immer noch keine Lösung haben. Ein Beispiel: Bill Gates schreibt in seinem neuen Buch „Wie wir die nächste Pandemie verhindern“ [6], dass jene Länder am besten durch die Pandemie gekommen sind, in denen Behörden, Gesundheitsvertreter und Regierung großes Vertrauen genießen. In einem Interview mit mir zu diesem Buch räumt er ein, dass Vertrauen ein zentraler Punkt ist, er aber auch nicht wisse, wie es geschaffen werden kann. Stattdessen beschäftigt er sich deshalb mit leichter lösbaren Problemen, wie der schnelleren Entwicklung und Produktion neuer Impfstoffe.

Ungelöst bleibt auch das Problem, wie man Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse aufbauen kann. Ich möchte dazu noch einmal das Zitat bemühen, das Prof. Judith Simon in ihrem Vortrag über Vertrauen in der Wissenschaft bereits herangezogen hat: „Trust is a fragile plant, which may not endure inspection of ist roots, even when they were, before the inspection, quite healthy.“ [7] (Vertrauen ist eine zerbrechliche Pflanze, die eine Inspektion ihrer Wurzeln möglicherweise nicht übersteht, selbst wenn sie vor der Inspektion völlig gesund waren.) Für mich ist das eine treffende Beschreibung für das, was in der Pandemie mit dem Wissenschaftsprozess passiert ist. Viele Leute scheinen sich das erste Mal kritisch mit der Funktionsweise der Wissenschaft auseinandergesetzt zu haben. Das scheint nicht dazu geführt zu haben, dass das Vertrauen in die Wissenschaft gestärkt wurde. Wie oft habe ich von Menschen gehört, die ihre Position mit den Worten verteidigt haben: „I did my own research“ (Ich habe selbst geforscht). Diese Haltung sollte die Wissenschaft berücksichtigen und nach Wegen suchen, sich besser als bisher in die Gesellschaft einzubringen. Und für uns in „den Medien“ bedeutet es, dass wir den Prozess der Wissenschaft besser und häufiger erklären müssen, die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis und das Entstehen von Konsens besser beschreiben müssen.