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1 Wissenschaftlicher Ansatz

Wenn man Literaturdatenbanken nach dem Stichwort „pandemic preparedness“ (deutsch: Pandemievorsorge) durchsucht, stellt man – wenig überraschend – fest, dass dazu über Dekaden nur sehr wenige wissenschaftliche Arbeiten publiziert wurden. Eine Suche in der biomedizinischen Datenbank PubMed.gov [1] erbrachte für den Zeitraum 1961 bis 1995 nur zwei Zitate. Von 2005 bis 2019 erschienen dann pro Jahr immerhin rund 120 Publikationen zu dem Thema. Mit der Corona-Pandemie stieg die Zahl der Publikationen im Jahr 2020 auf rund 1250 und 2021 sogar auf über 1500 Veröffentlichungen. Bei grober Durchsicht wird rasch deutlich, dass die Inhalte und Themenfelder sehr vielgestaltig und für die Praxis der Pandemievorsorge nicht wirklich hilfreich sind.

Es steht zu erwarten, dass mit dem Auslaufen der Corona-Pandemie die Zahl der Publikationen wieder stark abfällt. Bei der nächsten Pandemie dürften dann die wenigen für die Pandemievorsorge brauchbaren Arbeiten zur „pandemic preparedness“ so alt sein, dass auch diese Erkenntnisse weitgehend unbrauchbar sein werden.

Als sich die Staats- und Regierungschefs der G20-Staaten im Oktober 2021 in Rom, Italien, getroffen haben, kamen auch die Wissenschaftsgesellschaften der G20 zusammen und haben gemeinsam eine Publikation zur Pandemievorsorge verfasst [2]. Diese ist lesenswert, bleibt aber – gleichsam der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur – ebenfalls im Ungefähren. Das heißt, wer aus wissenschaftlichen Arbeiten pragmatische Schlussfolgerungen ziehen will, wie sich eine Gebietskörperschaft, ein Bundesland oder Deutschland für die nächste Pandemie vorbereiten sollte, wird kaum geeignetes Material finden.

Ein ohne Zweifel wichtiger Punkt im Kontext der wissenschaftlichen Betrachtungsweise ist der Umgang mit Unsicherheiten und Prognosen, speziell mit Zahlen, die ausschließlich auf Schätzwerten basieren. Organisatorisch und operativ kann eine Pandemie ohne die Akzeptanz bzw. Festlegung von Planzahlen, beispielsweis die Anzahl von Infektionen, Hospitalisationen und Toten nicht bewältigt werden, da ohne die Formulierung von Zielen kein Plan aufgestellt werden kann. Andererseits müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass alle Prognosezahlen zur Pandemie sich retrospektiv als falsch erweisen werden. Das ist insbesondere für die gesellschaftliche und politische Kommunikation schwierig, denn jeder kann hinterher zurecht sagen, die Annahmen haben nicht gestimmt.

Doch es geht darum, auf Grundlage von prognostischen Zahlen und Daten Annahmen zu treffen, die die Planung und konsekutiv die Umsetzung von Maßnahmen ermöglichen. Der britische Statistiker Georg Edward Pelham Box merkte hierzu an: „Im Grunde sind alle Modelle falsch, aber einige sind nützlich.“

Der nachfolgende Beitrag wird die Pandemie im Wesentlichen aus der Perspektive der Gesundheitsversorgung, und hierbei insbesondere des stationären Sektors, betrachten. Die hier Verantwortlichen sind vertraut mit einem System in dem Unwägbarkeiten und Risiken sowie Unvorhergesehenes zum Alltag gehören, weshalb die Theorie – die Planung des Alltags – erheblich von der Praxis – den tatsächlichen Begebenheiten – abweicht. Der Soziologe und Organisationswissenschaftler Niklas Luhmann hält derartige Systeme bzw. Organisationen gerade aufgrund dieses „loose coupling“, also einer lediglich losen Verbindung zwischen Theorie und Praxis, für vergleichsweise stabil [3]. Dies bietet Flexibilität sowie Gestaltungsfreiheit und mithin Systemstabilität. Heute würde wahrscheinlich von Resilienz gesprochen.

2 Klinische Ausgangslage

Erinnern wir uns an den Ausgangspunkt der Corona-Pandemie in Europa und Deutschland. Welches klinisch-medizinische oder organisatorische Wissen existierte seinerzeit und wann und wie haben wir uns planerisch und organisatorisch auf die Pandemie vorbereitet?

Im Januar 2020 erreichten uns Fotos aus China. Waren wir aufgrund der Berichte im Dezember 2019 vielleicht noch zweifelnd, welche Bedeutung das Coronavirus für uns haben könnte, machten die Bilder aus China im Januar – Lockdown mit totaler Ausgangssperre in Millionen-Regionen, überfüllte chinesische Krankenhäuser mit großer Zahl beatmeter Patienten und der Bau eines neuen Krankenhauses – sehr schnell deutlich, dass es sich hier um ein größeres Gesundheitsproblem handeln muss. Dabei haben wir nebenbei gelernt, dass es in China möglich ist, innerhalb von acht Tagen ein Krankenhaus mit 1000 Intensivbetten zu bauen. Die grundsätzliche Dimension des Problems und der Bedrohung war uns also schon vor den Ereignissen und Bildern aus Bergamo in Italien klar.

Am 01. Februar 2020 landete in Frankfurt ein Repatriierungsflug der Deutschen Luftwaffe mit 126 Deutschen aus Wuhan an Bord. Frau Prof. Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt und ihr Team führten an diesem Samstagabend zusammen mit dem Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt bei den Ankommenden Abstriche durch und befragte sie nach Symptomen einer Coronavirus-Infektion. Am frühen Sonntagmorgen waren zwei der Virus-PCR positiv. Unglücklicherweise gaben beide Betroffenen auch nach intensiver Anamneseerhebung keinerlei Symptome einer Virusinfektion oder Erkältungskrankheit an. Das war aus ärztlicher Perspektive eine neue Dimension, denn üblicherweise unterscheiden wir zwischen infizierten und nicht-infizierten Personen anhand von Symptomen. Was aber ist zu tun, wenn Träger einer sich schnell verbreitenden Infektionskrankheit, die offensichtlich in anderen Ländern zu einer Vielzahl von akuten Lungenversagen und Tod geführt hat, nicht anhand von Symptomen identifiziert werden können?

Rückblickend lässt sich die Ausgangslage der stationären Versorgung in Bezug auf eine Pandemie-Vorsorge im März 2020 in Frankfurt, Hessen und wahrscheinlich auch den meisten anderen Landkreisen und Bundesländern Deutschlands wie folgt charakterisieren:

  • Die aufsichtführenden Stellen – Gesundheitsämter und öffentlicher Gesundheitsdienst – waren administrativ gemäß der ihnen zugedachten Kontrollfunktionen mit den Kliniken verbunden. Eine enge operative Zusammenarbeit war weder organisatorisch noch personell vorgesehen oder vorbereitet. Meldepflichtige Infektionskrankheiten wurden als Einzelereignis via Fax kommuniziert.

  • Die Kapazitäten und Ressourcen, das heißt die Anzahl von Krankenhausbetten und die Verfügbarkeit von pflegerischem und ärztlichen Personal, war zwar den einzelnen Kliniken bekannt, nicht aber den Landkreisen, den Ländern oder dem Bund. Die meisten Bundesländer betreiben keine Bettenplanung in ihrem föderalen Zuständigkeitsbereich, sondern überlassen es dem Markt und den Einrichtungen, so viele Betten zu betreiben, wie sie benötigen, um die im Feststellungsbescheid genannten Bedingungen aufrechtzuerhalten.

  • Es gab keinerlei übergeordnete Planung der Gesundheits- beziehungsweise Daseinsfürsorge. Die Patientenallokation bei akut- und notfallmedizinischen Ereignissen ist dem Regelkreis der Gebietskörperschaften zugeordnet, ohne, dass darüber hinaus belastbare Organisationssysteme bestehen. Für Hessen ist uns dies im Januar 2020 schmerzhaft bewusst geworden, als wir am Universitätsklinikum Frankfurt eine Task Force 2019-nCoV, später SARS-CoV-2 gegründet haben, um uns auf das vorzubereiten, was vielleicht kommen kann. Keine übergeordnete Stelle wusste, ob und in welcher Form sich unsere Nachbarkliniken auf die Versorgung einer neuen Viruserkrankung vorbereiten.

  • Wir hatten überraschend einen neuen Mitspieler, das Robert Koch-Institut (RKI). Bislang waren wir aus dem RKI Empfehlungen für den Umgang mit Infektionskrankheiten gewohnt und die KRINKO und STIKO waren uns als Kommissionen bekannt. Nun aber nahm das RKI eine vollkommen neue Rolle ein: es schien Aufgaben zur operativen Steuerung des deutschen Gesundheitswesens zugeordnet zu bekommen. Entsprechende Datenmeldungen aus den Kliniken wurden verpflichtend eingeführt. In Hessen ist mit dem Interdisziplinären Versorgungsnachweis (IVENA) seit vielen Jahren ein IT-gestütztes System zur Allokation von Notfallpatienten durch den Rettungsdienst in entsprechend geeignete und aufnahmefähige Kliniken etabliert. Wir konnten unsere Daten allerdings nicht elektronisch an das RKI melden, weil hierfür keine Schnittstellen etabliert werden konnten. Dies gelang auch nach mehr als zwei Jahren nicht, weshalb alle Daten Hessens täglich händisch in eine Matrix für das RKI übertragen werden müssen.

Basisausrüstung für die medizinische Versorgung sowie den Selbstschutz der klinisch tätigen Beschäftigten fehlten. Im Februar 2020 stellten alle Kliniken fest, dass die chirurgischen Mund-Nasen-Schutzmasken nicht in ausreichender Menge vorhanden waren – und auch am Markt nicht mehr zu beschaffen waren. Bis Februar 2020 verbrauchte ein 1.500-Bettenhaus wie das Universitätsklinikum Frankfurt etwa 120.000 dieser Masken pro Monat, der Stückpreis betrug wenige Cent, die Monatskosten betrugen ein paar tausend Euro. Heute zahlen wir auf Grund des steigenden Bedarfs und der dramatisch gestiegenen Preise monatlich 150.000 € für chirurgischen Mund-Nasen-Schutz und die monatliche Verbrauchszahl hat sich verdreifacht. Weil neben den Masken auch Desinfektionsmittel, Labor- und OP-Artikel fehlten, erließen fast alle Kliniken im März, April oder Mai 2020 scharfe Regeln, wie mit Verbrauchsmaterialien umzugehen ist. Chirurgischer Mund-Nasen-Schutz und FFP2-Masken wurden rationiert, personifiziert, abgelegt und wiederverwendet, weil keiner wusste, wann Artikel der sogenannten persönlichen Schutzausrüstung am Markt wieder zu beschaffen waren.

Wie konnte es dazu in der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt kommen? Kliniken halten von vielen Produkten nur Vorräte für sieben, maximal 14 Tage vor, um die Liquidität nicht einzuschränken und knappes Kapital zu binden. Wenn dann plötzlich eine Pandemie eintritt, Menschen unruhig werden, der Verbrauch an persönlicher Schutzausrüstung in Kliniken und im Alltagsleben plötzlich sprunghaft ansteigt, Toilettenpapier und Desinfektionsmittel gehortet werden und das wesentliche Produktionsgebiet dieser Waren – China, genaugenommen Wuhan bzw. die Provinz Hubei – seit Wochen mit einer Endemie bzw. Pandemie kämpft, geraten Kliniken hierzulande aufgrund ausbleibender Produktion und Lieferung binnen weniger Wochen an den Rand der Einsatzfähigkeit.

3 Pragmatischer Ansatz

Die Gesundheitsversorgung in Deutschland ist föderal organisiert. Bei 16 Bundesländer heißt das 16 (unterschiedliche) Landespandemiepläne. Der öffentliche Gesundheitsdienst bzw. die Gesundheitsämter wiederum sind kommunal eingebunden, d. h. bei ca. 400 Kommunen existieren ca. 400 Gesundheitsämter mit länderabhängig unterschiedlichen Rechtsgrundlagen. Die Gesundheitsämter wiederum verantworten den Infektionsschutz. Jeder weiß inzwischen, wohin das führen kann: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Betrieben oder Kliniken, die aus unterschiedlichen Kommunen (mit anderem Gesundheitsamt) stammen, haben in Bezug auf beispielsweise Quarantäne-Maßnahmen die jeweils am Wohnsitz geltenden Regeln zu beachten. Arbeitgeber mit Beschäftigten aus vier, sechs oder auch zehn Kommunen sind entsprechend mit einer Vielzahl unterschiedlicher Regelungen konfrontiert. Nachvollziehbar ist das weder für die Arbeitgeber noch für die Arbeitnehmer: diese dürfen unter Umständen am Wohnort das Haus verlassen, die Grenze der Kommune des Arbeitgebers formal aber nicht passieren. Das kann nicht funktionieren.

Wir haben daraufhin den Vorschlag einer für Hessen einheitlichen Governance zur Organisation der stationären Gesundheitsversorgung und an den Schnittstellen zum ambulanten Sektor sowie mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst unterbreitet, der dankenswerterweise vom hessischen Sozialministerium bzw. der hessischen Landesregierung aufgegriffen worden ist. Es wurde am 19. März 2020 ein Planungsstab stationäre Versorgung Hessen eingesetzt, um die Krankenhäuser in Hessen zu vernetzen und auf übergeordneter Ebene die Gesundheitsversorgung zu koordinieren und zu steuern.

Folgende Aspekte standen hierbei im Vordergrund:

  • Alle Krankenhäuser in Hessen sollten sich wechselseitig informieren und abgestimmt handeln.

  • Alle Partner des Gesundheitswesens – Kassenärztliche Vereinigung, öffentlicher Gesundheitsdienst, Rettungsdienste, Leitstellen, Landesärztekammer, Hessische Krankenhausgesellschaft – sollten miteinander verzahnt werden. Gelernt haben wir später, dass auch die Alten- und Pflegeeinrichtungen als wichtige Partner einzubeziehen sind.

  • Die besonderen Möglichkeiten und Kenntnisse der hessischen Universitätsklinika in Bezug auf die virologische Forschung und Diagnostik sowie die Kliniken für Infektiologie sollten gemäß des universitären Anspruchs den anderen Krankenhäusern zugänglich gemacht werden.

  • Logistische Unterstützung bei der Beschaffung und Lagerung von persönlicher Schutzausrüstung und anderen Einwegmaterialien sollte etabliert werden.

Da der Aufbau und die rechtliche Absicherung funktionaler Gremien und Organisationen langwierig ist, wurde entschieden, lediglich eine umfassende Organisationseinrichtung neu zu etablieren und ansonsten auf vorhandene Strukturen und Organisationen zurückzugreifen und diese ggf. in der Abstimmung und Funktionalität zu modulieren.

Aus diesen Überlegungen heraus ist in Hessen der „Planungsstab stationäre Versorgung COVID-19“ entstanden. Später haben wir gelernt, dass es wichtig ist auch die ambulante Versorgung in die Planungen miteinzubeziehen.

Der Planungsstab sollte

  • hinsichtlich der Lagebeurteilung und der Organisation der klinischen Versorgung ein Bindeglied zwischen Krankenhäusern, Politik, Gremien und Verbänden darstellen.

  • das Gesundheitssystem in Bezug auf pandemiespezifische Anforderungen weiterentwickeln. Konkret ging es beispielsweise um das bereits existierende Instrument IVENA, mit dem sich der Rettungsdienst zuverlässig koordinieren lässt. Dies wurde mit einem neu entwickelten Bereich, der „Corona-Sonderlage“ spezifisch für die Pandemie weiterentwickelt. Hierdurch wurde die Möglichkeit der Transparenz bis auf die Stations- und Bettenebene aller hessischen Krankenhäuser erreicht, was Supervision und Steuerung der Patientenallokation und anderer operativer Maßnahmen erlaubt.

  • operative Entscheidungen für die Gesundheitsversorgung in Hessen vorbereiten und treffen. Beispielsweise gibt es Versorgungsgebiete, in denen nur eine maximalversorgende Klinik existiert, die Herzinfarkt- und Schlaganfallpatienten vollumfänglich, d. h. auch interventionell 24/7 versorgen kann. Wenn die Intensiv- und Normalstationen dieser Klinik beispielsweise mit infektiösen Patienten belegt und damit nicht aufnahmefähig sind, kann durch vorausschauende Organisation – die rechtzeitige Abverlegung von Patienten in Kliniken weniger belasteter Versorgungsgebiete – organisatorisch Abhilfe geschaffen und die Versorgungssicherheit erhalten werden.

  • übergeordnete Herausforderungen meistern. Viele Kliniken haben vergleichsweise kurze Liquiditätsreserven und sind auf einen hohen und verlässlichen Anteil planbarer Patientenversorgung angewiesen. Dies gilt es in angemessener Weise zu berücksichtigen, damit die während der Pandemie für die Versorgung der Bevölkerung benötigten Kliniken betriebsfähig bleiben.

Aufgebaut ist der Planungsstab als Netzwerk sogenannter koordinierender Kliniken, die in ihrem jeweiligen Versorgungsgebiet für den Planungsstab „Auge und Ohr“ darstellen (Abb. 1): Hessen ist seit Dekaden in sechs sogenannte Versorgungsgebiete aufgeteilt. In jedem Versorgungsgebiet wurde das größte und leistungsfähigste Krankenhaus per Ministererlass zum koordinierenden Krankenhaus ernannt. Die koordinierenden Krankenhäuser haben wesentliche Kommunikations- und Organisationsaufgaben in den Versorgungsgebieten übernommen. Anfänglich haben die koordinierenden Krankenhäuser täglich Telefon- und Videokonferenzen mit den kooperierenden Krankenhäusern des Versorgungsgebietes durchgeführt, in denen Lageberichte abgestimmt, Fragen der Patienten-Allokation diskutiert und offene Themenfelder mit den Gesundheitsämtern erörtert wurden. Was nicht untereinander geklärt oder gelöst werden konnte oder von übergeordneter Bedeutung schien, wurde in die Telefonkonferenz der koordinierenden Krankenhäuser mit dem zentralen Planungsstab eingebracht. Der Planungsstab hat – wenn notwendig – unmittelbar Entscheidungen getroffen.

Abb. 1.
figure 1

Organigramm Hessischer Planungsstab stationäre Versorgung – COVID-19 (Hessisches Ministerium für Soziales und Integration)

In Bezug auf die klinische Versorgung formulierte der Planungsstab drei vergleichsweise einfache und für die Daseinsfürsorge nachvollziehbare Ziele:

  • Jederzeit ist eine ausreichende medizinische Versorgung von non-COVID-Patienten und COVID-Patienten in Hessen zu gewährleisten. Dies gilt insbesondere für die Akut- und Notfallmedizin.

  • Die Patientensicherheit und Mitarbeitersicherheit stehen bei allen Maßnahmen gleichermaßen im Fokus. Patienten und Mitarbeiter müssen vor Infektionen und der Übertragung von Infektionen sicher geschützt werden.

  • Die Versorgung insbesondere von kritisch Kranken hat in geeigneter Infrastruktur zu erfolgen, Beatmungen sollen nur auf Intensivstationen durchgeführt werden.

Von Beginn an wurde Seitens des Planungsstabs und der koordinierenden Krankenhäuser deutlich formuliert, dass für die Sicherstellung einer angemessenen Akut- und Notfallversorgung alle Patienten zu versorgen sind – nicht nur COVID-Patienten. Wenngleich dies in der öffentlichen Wahrnehmung und formulierten Anforderungen immer wieder einmal verrutscht ist. Um Patienten-, Mitarbeiter- und insgesamt die Versorgungssicherheit tatsächlich zu gewährleisten, haben sich die Kliniken gerade in den ersten Monaten der Corona-Pandemie in Hessen – vermittelt durch die koordinierenden Krankenhäuser und den Planungsstab – unkonventionell und pragmatisch beispielsweise mit persönlicher Schutzausrüstung und Einwegmaterialien ausgeholfen.

Um unseren Beschäftigten Sorgen und Ängste zu nehmen, ihre Angehörigen gegebenenfalls zu infizieren, mietete das Universitätsklinikum Frankfurt ein Hotel in der Nachbarschaft – die angebotenen Zimmer wurden zahlreich und dankbar genutzt. Auch ein Discount-Markt wurde für einige Monate im Sommer 2020 auf der Liegenschaft des Universitätsklinikum Frankfurt eröffnet, um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bezüglich der Aufgaben des alltäglichen Lebens zu entlasten.

Insbesondere aus der Betrachtung der Ereignisse in Norditalien wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass Patienten mit COVID-bedingtem Lungenversagen sehr rasch klinisch dekompensieren und außerhalb von Intensivstationen keine Überlebenschancen haben. Entsprechende Patienten sollten deshalb in geeigneten, spezialisierten Zentren versorgt werden. Auf die Schaffung akutmedizinischer Einrichtungen außerhalb von Kliniken wurde bewusst vollständig verzichtet.

Bis auf sehr wenige tragische Einzelfälle im Winter 2020/2021 konnten alle Versorgungsziele in den letzten zwei Jahren mit Hilfe von zielgerichteten Organisationsmaßnahmen seitens des Planungsstabs und der koordinierenden Krankenhäuser durchgehend erreicht werden.

Inzwischen haben wir umfangreiche Instrumente zur Prognose der Fallzahlentwicklung und Steuerung der Patientenversorgung auf Klinikebene entwickelt. So können wir in Hessen die Entwicklung der Pandemie in den einzelnen Versorgungsgebieten für die nächsten acht Tage vergleichsweise zuverlässig voraussagen. Jede Woche donnerstags beziehungsweise freitags wird an jedes einzelne Krankenhaus im Rahmen eines Erlasses die Anforderung an die Bereitstellung von intensiv- und normalstationären COVID-Betten gestellt. Jedes einzelne der rund 90 Krankenhäuser in Hessen, die an der akutmedizinischen Gesundheitsversorgung teilnehmen, weiß also, worauf es sich organisatorisch für die jeweils kommende Woche einrichten muss. Alle darüberhinausgehenden, vorhandenen Kapazitäten können die Kliniken für planbare Patientenversorgung nutzen. Die Belegungssituation der Kliniken untereinander ist in IVENA einsehbar und wird transparent dargestellt.

Besteht aufgrund von Personalausfällen oder der Anzahl zu versorgender Patienten eine Überlastungssituation, kann hierauf zielgerichtet innerhalb der Versorgungsgebiete oder auch darüber hinaus durch strategische Abverlegungen reagiert werden. Somit konnten und können Überlastungen einzelner Krankenhäuser oder Versorgungsgebiete verhindert werden. Beispielsweise waren die Neuinfektionszahlen im Süden Hessens durchgehend höher als im Norden – bei lediglich einer großen Klinik für die Maximalversorgung. Um hier durchgehend eine angemessene Akut- und Notfallversorgung sicherzustellen, wurden immer wieder frühzeitig Patienten in die hessischen Versorgungsgebiete im Norden und Osten verlegt.

4 Lessons learned

Was sind also die Lektionen, die wir bislang aus der Corona-Pandemie in Hessen gelernt haben? Pandemien haben eine erhebliche Dynamik und erfordern von uns über einen längeren Zeitraum hinweg eine erhebliche Anpassungsfähigkeit. Das verlangt von Außenstehenden Geduld und Verständnis, weil vielleicht heute nicht mehr richtig ist, was gestern noch als notwendig galt. Kommunikation ist essenziell und auch Experten brauchen den Mut, sich gelegentlich einmal irren zu dürfen.

Das Gesundheitswesen ist, insbesondere, wenn es über die Ebene des Krankenhauses hinausgeht, nicht vorbereitet, über Wochen, Monate oder gar Jahre mit einer außergewöhnlichen und intensiven Belastung außerhalb der Standardprozesse umzugehen und dies gemeinsam mit den Mitarbeitenden zu bewältigen. Dafür ist die Alltagslast zu hoch, sind die Reservekapazitäten zu gering.

Es musste für die Pandemiebewältigung rasch auf ungewohnte Situationen und Anforderungen reagiert werden. Hierbei wurde vielerorts festgestellt, dass es hierfür eine andere Governance braucht, als dies üblicherweise angemessen ist. Es wurden Stäbe eingerichtet, Lagebesprechungen einberufen und Instrumente zur Standortbestimmung und für prognostische Aussagen entwickelt. Die Regeln der Organisation, Abstimmung und auch die Personalauswahl der Stäbe passten sich den Anforderungen an, Rollen und Funktionen wurden definiert und Informationsnetzwerk errichtet und unterhalten. All das ging in vielen Einrichtungen weit über den gesetzlich verpflichtenden Krankenhauseinsatzplan hinaus.

Gerade zu Beginn war es schwierig, trägerübergreifend Konsens in Bezug auf die mögliche Bedrohungslage herzustellen: stark elektiv orientierte Kliniken haben den Patientendruck der klassischen Akutversorger wie beispielsweise der Intensivmedizin nicht nachvollziehen können. Auch wichen die Einschätzungen der zu bewältigenden Aufgaben und hierfür benötigter Mittel deutlich voneinander ab. Auch im politischen Raum gab es hierzu eine Reihe von Diskussionen.

Typisch ist so etwas für Organisationen, in denen viele Experten tätig sind und ein hoher Spezialisierungsgrad herrscht. Implizit wird die Kenntnis der Aufgaben und Tätigkeiten vorausgesetzt, der explizite Austausch hierzu aber aus verschiedenen Gründen vermieden. Die Beschäftigten und die Organisationen mussten lernen, Aufgaben und Verantwortungen klar zu benennen und direktiv zuzuweisen sowie ein transparentes Erledigungscontrolling aufzubauen. Überdies waren andere und schnellere Formate der Kommunikation wie Newsletter und Videostatements notwendig, um alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gleichermaßen über regulative Vorgaben wie Verordnungen und Erlasse sowie organisatorische Anpassungen im Betrieb zu informieren. Insbesondere den Führungskräften aller Ebenen und Berufsgruppen ist hierbei eine besondere Rolle jenseits der üblicherweise abgeforderten Expertise zugekommen.

Für die Zukunft sollten wir uns ernsthaft Gedanken darüber machen, wie wir Resilienz und Einsatzbereitschaft im Gesundheitswesen sicherstellen möchten. Das bedeutet weit mehr als das genügend Pflegende und Ärzte für die Patientenversorgung verfügbar sind. Dieses Missverständnis in Bezug auf den Organisationsumfang der Patientenversorgung gilt es dringend und nachhaltig aufzuklären. Sehr deutlich wurde dieses Missverständnis bei der Impfpriorisierung: Natürlich ist es nachvollziehbar, dass Pflegende und Ärzte der Corona-Stationen frühzeitig Impfschutz erlangen sollten. Verkannt wurde vielerorts allerdings, dass für den Betrieb eines Krankenhauses oder einer Intensivstation weit mehr als die direkte Patientenversorgung benötigt wird. Ohne die technische, logistische und administrative Unterstützung ist der Klinikbetrieb allenfalls wenige Tage aufrecht zu halten. Insofern war es selbstverständlich, aus allen Unterstützungsbereichen ebenfalls eine kritische Anzahl von Personen frühzeitig zu impfen, um Betriebssicherheit herstellen zu können. Dies sollte auch in veröffentlichten Verordnungen Berücksichtigung finden.

Die mutmaßlich schmerzlichste Lehre bezieht sich auf die sogenannten „vulnerablen Gruppen“ – es reicht ganz offensichtlich nicht, diese zu identifizieren, zu kennen und zu benennen. Im Herbst und Winter 2020 sind viele – zu viele – alte Menschen gestorben, weil wir sie nicht ausreichend geschützt haben. Es ist uns gemeinschaftlich nicht gelungen – vor der Verfügbarkeit eines Impfstoffes – geeignete Schutzmaßnahmen insbesondere für oder in Alten- und Pflegeeinrichtungen zu erarbeiten und zu etablieren. Weder die Kommunikation noch die Eingangs- beziehungsweise Infektionskontrollen noch der Umgang mit der persönlichen Schutzausrüstung haben ausgereicht, alte und fragile Menschen vor einer Infektion und für viele damit dem sicheren Tod zu schützen. Das dies grundsätzlich möglich gewesen wäre zeigen die Ergebnisse aus den Krankenhäusern, wo der Patienten- und der Mitarbeiterschutz gleichermaßen gut und sicher etabliert werden konnte.

Deutlich wurde in den letzten zwei Jahren auch: Pandemievorsorge ist aufwändig und kostet erhebliche Ressourcen. Die Corona-bedingten Mehraufwendungen beispielsweise der einzelnen Universitätsklinika betrugen signifikante zweistellige Millionen-Eurobeträge pro Jahr. So, wie für den Krankenhauseinsatzplan immer wieder Übungen notwendig und Anpassungen der Dokumentation vorzunehmen sind, so müssen auch Krisenstäbe und Pandemieszenarien immer wieder durchgespielt werden, um wirkliche Einsatzbereitschaft sicherzustellen. Im Gegensatz zu einem Massenanfall an Verletzten (MANV) lassen sich derartige Szenarien allerdings nicht auf einzelne Kliniken oder Regionen begrenzen. Pandemien – und auch Epidemien – haben weit größere Einsatzgebiete und längere Einsatzdauern.

Benötigt werden entsprechende Schulungen als integraler Bestandteil der Pandemievorsorge, aber auch während einer Pandemie. Stattdessen haben viele Einrichtungen als erste Maßnahme in der Pandemie die Schulungen eingestellt. Außerdem muss die klinische und administrative Zusammenarbeit simuliert werden. Man muss sich überlegen: Was machen wir, wenn stationäre Bereiche plötzlich arbeitsunfähig sind, wenn die Patientenzahl zu groß ist? Wie können wir unterstützen? Solche Planspiele haben die meisten Kliniken, wir inklusive, vor der Pandemie nicht durchgeführt.

In den zurückliegenden zwei Jahren wurden vielerorts Organisationsstrukturen, Instrumente und Pläne entwickelt. Es liegt in unserer Verantwortung, dies im Sinne eines Business Continuity Managements für das Gesundheitswesen – und damit für die Gesellschaft – in die Zukunft zu tragen.

Die Pandemie hat auch gezeigt, dass wir uns werden entscheiden müssen: Wollen wir mehr Markt und Eigenständigkeit in der Gesundheitsversorgung oder Planung, Struktur und Verlässlichkeit mit letztendlich einer Hierarchisierung der Leistungserbringung um Verfügbarkeit, Bezahlbarkeit und Qualität gesellschaftlich sicherzustellen? Soll das medizinische Angebot führend bleiben oder sind unsere Ressourcen und Kapazitäten – und damit direkt Personal und Infrastruktur – am Bedarf auszurichten? Wir müssen uns festlegen, welche Kenngrößen zukünftig für uns wesentlich sein sollen und was es Kosten darf.

Aus den Erfahrungen der letzten zwei Jahre erscheint es wesentlich, die Anforderungen und Erwartungen unserer Stakeholder – Gesellschaft, Politik, Medien – besser zu kennen und frühzeitiger in unser Denken und Handeln einzubinden, als uns das zuletzt gelungen ist. Hierzu gehört auch die Überzeugung, dass Gefühle von Ohnmacht und Angst außerhalb des Gesundheitswesens im Rahmen einer Pandemie offensichtlich noch ausgeprägter sind als bei den direkt Handelnden. Es braucht Zeit für Kommunikation und Dialog sowie einen geeigneten organisatorischen Raum und Rahmen. Uns trägt die Überzeugung, dass es gelingen wird, solch einen Raum und Rahmen zu finden, der es zulässt, die wechselseitigen Erwartungen offen auszutauschen und mithin für eine nächste Pandemie gesellschaftspolitisch und medizinisch besser vorbereitet zu sein.

5 Universitätsmedizin

Die Universitätsmedizin in Deutschland hat während der SARS-CoV-2-Pandemie herausragende Leistungen erbracht. Die Universitätsklinika in Deutschland haben mehr als 25 Prozent aller kritisch kranken COVID-19-Patienten versorgt. Innovation und Translation sind neben der Fächerbreite und dadurch gegebenen Interdisziplinarität die herausragenden Alleinstellungsmerkmale der Universitätsmedizin. Es ist kein Zufall, dass die Universitätsklinika PCR-Tests rasch entwickelt und zur industriellen Skalierung – beispielsweise auch durch die Pool-Testung – beigetragen haben. Es ist auch kein Zufall, dass die Konzepte zur Organisationsanpassung und für krankenhaushygienische Maßnahmen aus den Universitätsklinika stammen und die ersten Einrichtungen zur Betreuung von Patienten mit Long-COVID hier etabliert wurden. Weiterhin hat die Universitätsmedizin mithilfe des durch das BMBF geförderten Netzwerk Universitätsmedizin (NUM) Prognosemodelle und Register etabliert.

Wir haben in Deutschland 35 Universitätsklinika. Die Universitätsmedizin in Deutschland verfügt über einsatzbereite Abteilungen für Virologie, Mikrobiologie, Infektiologie und Krankenhaushygiene. Sie bildet fast ausnahmslos im vollständigen Besitz der Bundesländer eine starke Einsatzreserve und hat dies in den letzten zwei Jahren eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Es braucht nicht mehr Universitätsklinika, aber besser ausgestattete. Dann könnten wir in Zukunft in Deutschland einer Pandemie und andere Herausforderungen für das Gesundheitswesen womöglich noch besser begegnen, als uns das im Rahmen der Corona-Pandemie gelungen ist.

Zusammenfassend erscheinen drei Punkte wesentlich:

  • Wir müssen Ziele definieren. Ziele fehlen uns an vielen Stellen des Gesundheitswesens schon im Normalstatus – mehr noch im Rahmen einer Pandemie.

  • Es benötigt einen Plan, Teams und Netzwerke, die während einer Pandemie kontinuierlich die notwendigen Struktur- und Organisationsanpassungen vornehmen und kommunizieren.

  • Wir benötigen Führung. Alle Verantwortlichen brauchen Mut, um zu entscheiden und das, was entschieden worden ist, zu rechtfertigen. Entscheidungen Verantwortlicher müssen durchgesetzt werden, bisweilen auch gegen Widerstände.