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Die Entwicklung antiviraler Wirkstoffe ist ein langwieriger Prozess, an dessen Anfang die Feststellung steht, dass die Infektion mit dem Virus, gegen das man die Therapie entwickeln will, ein medizinisches Problem darstellt. Das allein genügt aber nicht, denn weitere Faktoren wie etwa die Verbreitung des Erregers und dessen Eigenschaften spielen eine wichtige Rolle, wobei man insbesondere für letzteres zunächst intensive Grundlagenforschung betreiben muss. Diese liefert zum einen ganz entscheidende Erkenntnisse über mögliche Angriffsziele für die zu entwickelnde Therapie, zum anderen dient sie der Entwicklung geeigneter Testsysteme für den jeweiligen Erreger, ohne die eine Wirkstoffentwicklung und Wirkstofftestung nicht möglich ist.

Bisher konzentrierte sich die antivirale Therapie auf die Entwicklung von Wirkstoffen, die sehr selektiv ein bestimmtes Virus beziehungsweise eine eng umfasste Virusgruppe adressierte. Will man für zukünftige Pandemien gegen bisher unbekannte Viren besser geschützt sein, muss man neue Wege gehen. Einer ist die Entwicklung von Breitspektrum-Antiinfektiva. Wie man diese entwickeln kann, welche Voraussetzungen dafür notwendig sind und welche Vor- und Nachteile diese gegenüber bisherigen antiviralen Medikamenten haben, soll hier kurz dargestellt werden.

1 Entwicklung antiviraler Wirkstoffe

Am Anfang des Entwicklungsprozesses antiviraler Wirkstoffe steht die Grundlagenforschung, die zum einen fundamentale Eigenschaften des Erregers identifiziert und zum anderen mögliche Angriffsziele, sogenannte antiviral targets, strukturell und funktionell charakterisiert. Erst aufgrund dieser Erkenntnisse kann mit dem nächsten Schritt, der eigentlichen Therapieentwicklung, begonnen werden. In der Regel werden dabei riesige Substanzbibliotheken, die Millionen unterschiedlichster chemischer Verbindungen enthalten, mit einem spezifischen Testsystem durchsucht. Dieses ist zumeist zell-basiert und erlaubt die Bestimmung der antiviralen Wirkung der jeweiligen Verbindung. Erzielt man beim Durchsuchen dieser Substanzbibliotheken einen oder mehrere Treffer, die als „Hits“ bezeichnet werden, folgt die Herstellung von zahlreichen chemischen Varianten dieser Hits (sogenannte Derivate), da die ursprünglich gefundene Verbindung für die klinischen Prüfungen oft nicht geeignet ist. Dieser Prozessschritt erfordert hoch-spezialisierte Kenntnisse in der Medizinalchemie, die insbesondere im akademischen Bereich zumeist nicht oder nur in geringem Umfang vorhanden ist. Deshalb wird die Herstellung von Derivaten häufig an spezialisierte Industriepartner vergeben, was übrigens auch bei vielen Pharmafirmen gängige Praxis ist. Ziel dabei ist zum einen die Steigerung der antiviralen Aktivität der Hit-Verbindung, zum anderen die Verbesserung pharmakologischer Eigenschaften wie etwa die Stabilität einer Verbindung im Körper oder die Verminderung möglicher toxischer Eigenschaften. Es ist deshalb nicht überraschend, dass man von einem ursprünglichen Hit aus dem ersten Suchtest tausende Derivate herstellt, bis man das findet, das optimale Eigenschaften besitzt. Auf diesem Weg werden die Kandidaten für die klinischen Prüfungen ermittelt, die dann wiederum toxikologisch und pharmakokinetisch geprüft und anschließend validiert werden. Dieser Ablauf gilt sowohl für die Entwicklung sehr spezifischer Wirkstoffe als auch für die Entwicklung von Breitband-Wirkstoffen [1].

2 Verfügbare antivirale Wirkstoffe

Die aktuell verfügbaren antiviralen Medikamente wurden meist neu entwickelt, das heißt. sie sind das Ergebnis des aufgezeigten Prozesses. Dabei betrug die Entwicklungszeit üblicherweise mehr als zehn Jahre. Eher selten wurden bereits bekannte chemische Verbindungen oder schon zugelassene Medikamente umfunktioniert, das heißt für eine neue medizinische Anwendung entwickelt.

Analysiert man die aktuell verfügbaren antiviralen Therapien, zeigt sich, dass etwa 75 Prozent der zugelassenen Medikamente an viralen Angriffszielen ansetzen. Das sind zumeist die viralen Polymerasen, also die Enzyme, die für die Vervielfältigung des viralen Genoms zuständig sind oder virale Proteasen – Enzyme, die virale Bausteine (Proteine) in funktionale Bruchstücke spalten. Dabei sind die bisher zugelassenen Medikamente zumeist auf eine spezifische Gruppe von Viren zugeschnitten. Ein Blick auf die aktuelle Medikamentenliste zeigt, dass rund 43 Prozent der verfügbaren antiviralen Medikamente auf die Bekämpfung von Infektionen mit dem Human-Immunodeficiency-Virus (HIV) abzielen. Etwa ein Viertel dient der Therapie von Infektionen mit Hepatitis-Viren. Der Rest dient hauptsächlich der Bekämpfung von Herpes- und Influenzaviren [2]. Quasi all diese Medikamente haben eine hohe Selektivität bei geringen Nebenwirkungen.

3 Antivirale Wirkstoffe gegen SARS-CoV-2

Bevor ich auf Breitspektrum-Antiinfektiva näher eingehe, soll zunächst die Entwicklung der antiviralen Medikamente gegen das SARS-CoV-2 kurz beschrieben werden. Diese wurden in deutlich weniger als 10 Jahre verfügbar, was deshalb möglich war, weil man bekannte Wirkstoffe umfunktioniert hat, die gegen andere Virusinfektionen entwickelt worden waren. Der erste ist Nirmatrelvir, der Bestandteil des als Paxlovid bekannten Medikaments ist. Seine Zielstruktur ist die SARS-CoV-2-Protease Mpro. Ursprünglich wurde dieses Medikament gegen das erste SARS-Coronavirus entwickelt, das erstmalig 2002 auftrat, aber weil diese Infektion relativ schnell kontrolliert wurde und das Virus verschwand, wurde die klinische Entwicklung eingestellt. Als SARS-CoV-2 auftrat, machte man sich die 99-prozentige Identität der Protease der beiden SARS-Coronaviren zu Nutze und entwickelte den bereits gefundenen Wirkstoff weiter. Ein universeller Coronavirusinhibitor ist Nirmatrelvir allerdings nicht: Außerdem hat dieser Mpro-Inhibitor ungünstige pharmakologische Eigenschaften, insbesondere eine geringe Stabilität im Körper. Deshalb muss er zusammen mit Ritonavir gegeben werden, um die Inhibitorkonzentration im Körper zu erhöhen, da es ansonsten zu schnell abgebaut würde. Problematisch dabei ist, dass Ritonavir zahlreiche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten hat, was man bei der Wahl der zu behandelnden Patienten, die ja zumeist schön älter sind und deshalb viele andere Medikamente einnehmen, sehr genau beachten muss.

Der zweite Wirkstoff ist Molnupiravir, der an der SARS-CoV-2 RNA-abhängigen RNA-Polymerase (Nsp12) angreift. Es induziert bei seinem Einbau Mutationen, da er unterschiedliche Basenpaarungen eingehen kann. Das führt dazu, dass die Virusgenome nicht mehr funktional sind. Molnupiravir ist ein klassisches Beispiel für die Umwidmung eines Medikaments, da es ursprünglich zur Therapie von Infektionen mit Influenzaviren, dem Respiratorisches Synzytial-Virus (RSV) und Alphaviren entwickelt wurde. Einschränkend ist anzumerken, dass Molnupiravir aufgrund seines Wirkmechanismus mutagen ist, das heißt das Erbgut ändern kann, weshalb auch hier zahlreiche Kontraindikationen bestehen; eine offensichtliche ist Schwangerschaft.

4 Breitspektrum-Antiinfektiva

Wie wäre die COVID-19-Pandemie verlaufen, wenn von Anfang an eine effektive antivirale Therapie verfügbar gewesen wäre? Die Johns Hopkins University hat sich mit diesem fiktiven Szenario beschäftigt und kam zu dem Schluss: Auf die globale Ausbreitung des Virus hätte es vermutlich keinen Effekt gegeben, also die Inzidenzen wären nicht verändert. Die Anzahl der schweren Verläufe und der Todesfälle hätte jedoch vermutlich stark eingedämmt werden können. Das ist sicherlich eine wichtige Lektion aus der COVID-19-Pandemie, die wir für die Zukunft mehr berücksichtigen sollten. Doch wie kann man sich auf zukünftige Pandemien vorbereiten, wenn man nicht weiß, welches Virus die nächste Pandemie auslösen wird? Ein Ansatz sind Breitspektrum-Antiinfektiva. Dies sind antivirale Medikamente, die nicht nur gezielt gegen eine einzige Virusart oder eine kleine Virengruppe gerichtet sind, sondern gegen eine breite Virengruppe oder gar Gruppierungen aus verschiedenen Virusfamilien gleichzeitig wirken. Solche Breitspektrum-Antiinfektiva sind natürlich für Viren, bei denen bereits eine Behandlungsmöglichkeit existiert, nicht notwendig. Anwendung finden könnten Breitspektrum-Virostatika aber bei neu auftretenden oder wiederkehrenden Viren, für die keine effektive Therapie existiert. Hat man diese Wirkstoffe im Vorfeld des Auftretens neuer pandemischer Viren entwickelt, so ist man besser auf eine Pandemie vorbereitet (pandemic preparedness). Dabei sollten Virostatika nicht als Impfersatz gesehen werden, sondern als Brücke, bis Impfstoffe verfügbar sind oder als Therapie für Menschen, die nicht oder nur ungenügend auf die Impfung ansprechen.

Die Nationale Akademie der Wissenschaften (Leopoldina) hat die Eigenschaften beschrieben, die Breitspektrum-Antiinfektiva auszeichnen sollten [3]: Sie dürfen keine oder nur geringe Nebenwirkungen haben und sollen leicht verabreicht werden können, das heißt oral oder inhalativ. Eine intravenöse Applikation dagegen ist im Falle einer Pandemie aufgrund der Vielzahl der Betroffenen problematisch. Außerdem muss das Virostatikum eine hohe Resistenzbarriere haben. Das heißt, es darf nicht in einem kurzen Zeitraum zur Selektion von resistenten Virusvarianten kommen. Denn sollten diese resistenten Viren eine hohe Fitness haben, also eine hohe Replikationskompetenz, dann werden diese vom Therapierten auf andere Personen übertragen, so dass das Medikament bei diesen wirkungslos ist. Darüber hinaus muss das Medikament breit verfügbar sein. Dies erfordert eine skalierbare Produktion, damit ausreichende Mengen herstellbar sind. Wichtig ist außerdem der richtige Anwendungszeitpunkt. Am Beispiel SARS-CoV-2 erklärt: Das optimale Zeitfenster für eine antivirale Therapie liegt zwischen Beginn der Inkubationszeit und Symptombeginn. Liegt ein Patient bereits auf der Intensivstation im Krankenhaus, ist also schwer oder kritisch erkrankt, ist die Virusproduktion schon sehr gering. Der Krankheitsverlauf ist dann weitgehend losgelöst von der Virusvermehrung, so dass die antivirale Therapie das Fortschreiten der Erkrankung kaum noch oder gar nicht mehr beeinflusst.

5 Mögliche Angriffspunkte

Grundsätzlich existieren für Breitspektrum-Antiinfektiva drei mögliche Angriffsziele:

  • Hochkonservierte virale Faktoren, vor allem Proteasen und Polymerasen. Die besten Chancen als Breitband-Wirkstoff haben meiner Meinung nach Nukleoside und Nukleotide, also Analoga, die bei der Vervielfältigung des Virusgenoms zunächst als natürliche Bausteine erkannt und eingebaut werden, dann aber zu Syntheseabbrüchen oder Defekten im Genom führen. Da diese Wirkstoffe das aktive Zentrum der Polymerasen ausnutzen, das über viele Virusgruppen hinweg konserviert und für die Funktionalität den Enzyms essenziell ist, haben diese Wirkstoffe gleichzeitig eine hohe Resistenzbarriere.

  • Zelluläre Faktoren, die für die Virusvermehrung essenziell sind. Hier könnte man zum Beispiel versuchen, die Rezeptoren zu hemmen, die für die Aufnahme des Virus in die Zelle benötigt werden. Würde man etwa den ACE2-Rezeptor blockieren, so könnten man all die Coronaviren hemmen, die diesen Rezeptor nutzen. Dieses Konzept ist vom Prinzip her nicht neu und wird beispielsweise bei der Therapie der HIV oder Hepatitis-D-Virus Infektion angewendet.

  • Wirkstoffe, die das Immunsystem aktivieren und Körperzellen in einen antiviralen Zustand versetzen. Am besten etabliert ist die direkte Gabe von Interferonen. Das sind natürliche Botenstoffe, die man biotechnologisch in großem Maßstab herstellen kann. Interferone aktivieren in der Zelle ein Programm, das einen antiviralen Status auslöst, der die Zelle vor Virusinfektionen weitgehend schützt. Das ist sehr effektiv, hat aber gleichzeitig zahlreiche Nebenwirkungen, die wir aus eigener Erfahrung kennen. Wer beispielsweise schon eine Influenza hatte, kennt das damit verbundene Krankheitsgefühl, das im Wesentlichen auf den Folgereaktionen der Interferone beruht, die als Reaktion auf die Influenzavirus Infektion vom Körper ausgeschüttet werden.

  • Neben Interferonen kann man auch andere Wege der Aktivierung dieser natürlichen Abwehrreaktion nutzen, so etwas die Gabe von Agonisten der RIG-I-ähnlichen-Rezeptoren. Das hat vermutlich geringere Nebenwirkungen, erfordert aber eine gezielte Applikation.

6 Voraussetzungen für die Entwicklung von Breitspektrum-Antiinfektiva

Wenn man die Virengruppen betrachtet, die das größte Potenzial haben eine neue Pandemie auszulösen (Liste WHO [4]), und versucht, für diese wirksame Breitband-Virostatika nach dem erläuterten Ablauf zu entwickeln, benötigt man:

  • umfassende Grundlagenforschung und ein wissenschaftliches Netzwerk, das die Infrastrukturen und die Forschungs- und Entwicklungsexpertisen zu den wichtigsten Pathogengruppen mit pandemischem Potenzial vereint. Ein solches Netzwerk wurde bereits im Deutschen Zentrum für Infektionsforschung (DZIF) in Form der Antiviral Compound Testing Platform (ACTP) gegründet [5]. Neun Partner decken dabei viele der potenziell pandemischen Viren ab, sodass Wirkstoffe auf ihre breite Wirksamkeit schnell und effizient getestet werden können.

  • Die Förderung adäquater Weiterbildungsmaßnahmen, da die Medikamentenentwicklung im akademischen Bereich nur unzureichend unterrichtet wird. Dazu gehören nicht nur Grundkenntnisse in Pharmakologie und Medizinalchemie, sondern auch das Wissen über die Anforderungen an Wirkstoffe für die klinische Prüfung sowie Grundkenntnisse zur Durchführung klinischer Studien.

  • die Möglichkeit, einzelne Entwicklungsschritte wie etwa die Medizinalchemie an entsprechende Dienstleister auszugliedern.

  • eine koordinierte Studieninfrastruktur zur Durchführung klinischer Studien im ambulanten und prästationären Bereich für Patienten mit einer hochansteckenden Infektion.

  • marktwirtschaftliche Anreize zur Entwicklung eines Wirkstoffs bis ans Ende einer Phase-I-Charakterisierung, damit im Pandemiefall die Therapie sofort im Rahmen einer Phase II/III-Studie appliziert werden kann. Diese Anreize sind entscheidend, denn man wird für die Entwicklung von Breitspektrum-Antiinfektiva gegen potenziell pandemische Viren enge Kontakte zur Industrie benötigen, die aufgrund des zunächst nicht erkennbaren ökonomischen Nutzens in dieses Thema nicht investieren wird.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass man für eine bessere Vorbereitung auf zukünftige Pandemien, zu denen es sicher kommen wird, neben Impfstoffen auch breit wirksame antivirale Medikamente benötigt. Aktuell befinden sich rund 150 Kandidaten für Breitspektrum-Antiinfektiva gegen 78 humane Viren in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Ob diese zu nutzbaren Medikamenten führen, ist im Moment nicht absehbar, aber die Entwicklung zeigt, dass Breitspektrum-Antiinfektiva keine Utopie sind. Es sind aber noch große Anstrengungen nötig, um diese Konzept zu realisieren und die Wirkstoffe klinisch verfügbar zu machen.