FormalPara Koordinierende Leitautor_innen

Andreas Novy, Margaret Haderer und Klaus Kubeczko.

FormalPara Leitautor_innen

Ernest Aigner, Richard Bärnthaler, Ulrich Brand, Thomas Brudermann, Antje Daniel, Andreas Exner, Julia Fankhauser, Michael Getzner, Christoph Görg, Michael Jonas, Markus Ohndorf, Michael Ornetzeder, Leonhard Plank, Thomas Schinko, Nicolas Schlitz, Anke Strüver und Franz Tödtling.

FormalPara Beitragende Autor_innen

Joanne Linnerooth-Bayer, Alina Brad, Veronica Karabaczek und Mathias Krams.

FormalPara Revieweditor

Thomas Jahn

FormalPara Zitierhinweis

Novy, A., M. Haderer, K. Kubeczko, E. Aigner, R. Bärnthaler, U. Brand, T. Brudermann, A. Daniel, A. Exner, J. Fankhauser, M. Getzner, C. Görg, M. Jonas, M. Ohndorf, M. Ornetzeder, L. Plank, T. Schinko, N. Schlitz, A. Strüver und F. Tödtling (2023): Perspektiven zur Analyse und Gestaltung von Strukturen klimafreundlichen Lebens. In: APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben (APCC SR Klimafreundliches Leben) [Görg, C., V. Madner, A. Muhar, A. Novy, A. Posch, K. W. Steininger, E. Aigner (Hrsg.)]. Springer Spektrum: Berlin/Heidelberg.

FormalPara Kernaussagen des Kapitels
  • Problemdiagnosen, Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen mit Blick auf die Klimakrise sind vielfältig, dennoch lassen sich vor dem Hintergrund wirtschafts-, sozial-, und kulturwissenschaftlicher Debatten vier Hauptperspektiven identifizieren: Markt-, Innovations-, Bereitstellungs- und Gesellschaft-Natur-Perspektive (mittlere Übereinstimmung, starke Literaturbasis).

  • Aus der Marktperspektive sind Preissignale, die klimafreundliche Konsum- und Investitionsentscheidungen fördern, zentral für klimafreundliches Leben. Wenn es passende Rahmenbedingungen gibt, die Märkte klimafreundlich regulieren, dann tragen Verursacherprinzip und Kostenwahrheit zur Dekarbonisierung bei (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).

  • Aus der Innovationsperspektive ist die soziotechnische Erneuerung von Produktions- und Konsumptionssystemen wesentlich für ein klimafreundliches Leben. Wenn Innovationen nicht nur unternehmerischen, sondern auch gesellschaftlichen Interessen dienen – z. B. der Bearbeitung der Klimakrise –, verbessern sie die Rahmenbedingungen klimafreundlichen Lebens (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).

  • Aus der Bereitstellungsperspektive sind Bereitstellungsysteme, die suffiziente und resiliente Praktiken und Lebensformen erleichtern und damit selbstverständlich machen, zentral für klimafreundliches Leben. Wenn staatliche Institutionen und andere Akteur_innen dauerhaft klimafreundliche Infrastrukturen, Institutionen und rechtliche Regelungen schaffen, können sich klimafreundliche Gewohnheiten rascher durchsetzen (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).

  • Aus der Gesellschaft-Natur-Perspektive ist das Wissen über zentrale Treiber der Klimakrise (z. B. Mensch-Natur-Dualismen, Kapitalakkumulation, soziale Ungleichheit) wesentlich für klimafreundliches Leben. Nur wenn bei klimapolitischen Lösungen auch der Bezug zu den Treibern der Klimakrise mitreflektiert wird (z. B. Kapitalakkumulation, westliche Naturbeherrschung), ist eine tiefenwirksame Bearbeitung der Klimakrise möglich (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).

  • Wenn bloß von einer Perspektive ausgegangen wird (z. B. von der gesellschaftlich am anschlussfähigsten – derzeit die Marktperspektive), dann kommen nur bestimmte Problemdiagnosen, Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen zur Anwendung (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).

  • Für die Gestaltung klimafreundlichen Lebens gilt: Wenn mehrere Perspektiven berücksichtigt werden, dann ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass Problemdiagnosen, Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen differenziert verstanden, Prioritäten informiert gesetzt und Inkompatibilitäten sowie Synergien identifiziert werden können (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).

2.1 Einleitung

Kap. 2 systematisiert entlang von vier Perspektiven in den Sozialwissenschaften weit verbreitete Theorien zur Analyse und Gestaltung von Strukturen klimafreundlichen Lebens. Der vorliegende Sachstandsbericht geht hierbei von einem weiten Verständnis von Sozialwissenschaften aus, die unter anderem Politik-, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften und die Soziologie umfassen. Viele Beiträge nehmen auch Bezug auf naturwissenschaftliche Theorien.

Das Kapitel möchte Leser_innen des Berichtes bewusst machen, mit wie grundlegend unterschiedlichen Zugängen Forscher_innen Strukturen klimafreundlichen Lebens analysieren. Dies ist wichtig, um zu verstehen, dass es nie nur eine, sondern immer mehrere Perspektiven auf Strukturen klimafreundlichen Lebens gibt. Dieses Bewusstsein hilft, die Komplexität der Sozialwissenschaften und damit die Komplexität der Aufgabe – Strukturen für ein klimafreundliches Leben zu gestalten – zu erfassen. Unterschiedliche Zugänge zu sehen, bedeutet auch, ein besseres Verständnis von konfligierenden Problemdiagnosen, Zielhorizonten und Gestaltungsoptionen zu entwickeln und – idealerweise – damit umgehen zu können.

Es gibt keine Theorien, Modelle und Heuristiken, die alle Dimensionen eines Wandels in Richtung Strukturen klimafreundlichen Lebens sowie deren Gegenspieler adäquat erfassen. So sind manche in diesem Bericht aufgegriffenen Theorien stärker im Erklären von Beharrungskräften, die Wandel ausbremsen [siehe dazu insbesondere Teil 5, Kap. 27], andere wiederum im „Ausbuchstabieren“ von klimafreundlichen Strukturen (siehe dazu insbesondere Teil 5, Kap. 26) und Transformationspfaden [siehe dazu insbesondere Teil 5, Kap. 24, 25 und teilweise 26]. Nur wenige der Theorien, auf denen die hier vorgestellten Perspektiven fußen, beschäftigten sich von Beginn an mit der Klimakrise. Jedoch öffneten sich in den letzten Jahren zahlreiche sozialwissenschaftliche Ansätze für die Analyse klimaunfreundlichen Lebens, insbesondere Praxistheorie, Innovationstheorien und Theorien von Bereitstellungssystemen, und für Fragen der Gestaltung klimafreundlichen Lebens. Daher bietet der Bericht die Chance, wissenschaftliche Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, Annahmen, Werkzeugen und Wertvorstellungen gegenüberzustellen. So können möglichst viele Dimensionen von Strukturen klimaunfreundlichen Lebens sowie deren Transformation erfasst werden.

Die Auswahl der für diesen Bericht analysierten Theorien, Modelle und Heuristiken, sogenannte „Theorien des Wandels“, die klimaunfreundliche Strukturen und deren Gestaltung in Richtung klimafreundlicher Strukturen untersuchen, ergab sich aus einem Bottom-up-Prozess und spiegelt die Kompetenzen der Autor_innen wider. Damit konnte umfangreiche Literatur zum Thema aufgearbeitet werden, die in Teil 5 ausgeführt und hier einzig zusammengefasst wird. Aufgrund dieses forschungspragmatischen Zugangs kann daher kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Etwaige Lücken sind der Tatsache geschuldet, dass sich nicht für alle relevanten Ansätze Autor_innen finden ließen.

Bestimmte Theorien des Wandels weisen wesentliche „Familienähnlichkeiten“, also Gemeinsamkeiten in Bezug auf Problemdiagnosen, Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen auf, inklusive ihren zugrundeliegenden Annahmen, Begriffen und Methoden. In der Wissenschaft spricht man auch von Denkstilen, Paradigmen, Brillen, Forschungsprogrammen und „epistemic communities“ – Begriffe, die im Detail Unterschiedliches meinen (Fleck, 1935; Haas, 1992; Kuhn, 1976), denen aber im Groben das Abstecken von Gemeinsamkeiten gemein ist. Die vier Perspektiven sind als Idealtypen (Weber, 1904) zu verstehen, die unterschiedliche Problemanalysen, Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen ordnen und ihre jeweiligen Spezifika sichtbar machen. Die Perspektiven sind, wie Wissenschaft an sich, nicht objektiv, sondern immer auch Ausdruck von Normen, Werten und Interessen (Fleck, 1935; Haas, 1992; Kuhn, 1976). Da wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurs nicht strikt voneinander getrennt sind (Habermas, 2008), gibt es zudem Querverbindungen zwischen Theorien und Alltagsdenken sowie zwischen Theorien und den Interessen verschiedener gesellschaftlicher Akteuren_innen (Foucault, 1983, 1994; Novy, Bärnthaler, & Heimerl, 2020; Rouse, 2005).

Einzelne Theorien können in der einen oder anderen Dimension durchaus mehreren Perspektiven zugeordnet werden oder sind nur teilweise einer einzigen Perspektive zuordenbar. Entsprechend ist die Zuteilung einzelner Theorien des Wandels zu einer spezifischen Perspektive im strengen Sinne nicht immer eindeutig. Insbesondere in den Ausführungen in Teil 5 wird ausdrücklich auf Unschärfen und Überlappungen hingewiesen.

Die in diesem Kapitel vorgestellten Perspektiven erfüllen in diesem Sinne folgende Zwecke: (1) Sie schärfen den Blick für verschiedene Verständnisse von klimaunfreundlichen Strukturen („Problemdiagnosen“) sowie deren Veränderung hin zu Strukturen klimafreundlichen Lebens („Gestaltungsoptionen“ und damit verbundenen „Zielhorizonten“). (2) Sie dienen einer Sensibilisierung für die jeweiligen Stärken und Schwächen von einzelnen Theorien und Perspektiven sowie für Spannungsverhältnissen zwischen ihnen. (3) Sie liefen Orientierung für die Analysen in den späteren Kapiteln im Bericht und fördern dadurch eine Sensibilisierung dafür, dass Formulierungen von Problemdiagnosen, Zielhorizonten und Gestaltungsoptionen nicht neutral sind, sondern (oft wenig reflektierten) Standpunkten verhaftet sind (Giere, 2006; Sass, 2019). Perspektivismus ist eine zentrale Erkenntnis von Kap.2  – eine Erkenntnis, die die Autor_innen (und in der Folge die Leser_innen) der Folgekapitel dafür sensibilisieren soll, dass es nicht nur eine, sondern immer mehrere Perspektiven auf ein Handlungsfeld gibt.

Im Folgenden werden vier Perspektiven vorgestellt, nach denen die Forschungen zu Klimakrise und deren Bearbeitung geordnet und systematisiert werden: Marktperspektive, Innovationsperspektive, Bereitstellungsperspektive und Gesellschaft-Natur-Perspektive. Diese vier Perspektiven erfassen vielfältige Dimensionen von Strukturen klimafreundlichen Lebens, inklusive der dafür relevanten Barrieren. Manchmal ergänzen sich Perspektiven, manchmal sind sie gegensätzlich und inkompatibel. Zentral ist dabei: Aus den Perspektiven zeigen sich jeweils unterschiedliche Problemdiagnosen, Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen. Beispielsweise wird Naturbeherrschung nur in der Gesellschaft-Natur-Perspektive als Problem identifiziert; die Daseinsvorsorge nur in der Bereitstellungsperspektive als zentraler Zielhorizont definiert; und Marktregulierungen nur in der Marktperspektive als zentraler Transformationsweg theoretisiert. In einem Umfeld, in dem eine Priorisierung und damit politische Entscheidung („Entweder-oder“) unumgänglich ist, hilft Multiperspektivität, tiefliegende Unvereinbarkeiten im Zugang zu Klimakrise, zu Gesellschaft und Natur offenzulegen und so besser mit Konflikten, die mit einer Transformation einhergehen, umzugehen. Multiperspektivität ist auch die Voraussetzung, um Strategien eines „Sowohl-als-auch“ zu identifizieren, da sich manche Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen sinnvoll ergänzen.

2.2 Vier Perspektiven zur Analyse und Gestaltung von Strukturen klimafreundlichen Lebens

In den folgenden Kurzbeschreibungen werden Unterschiede in Bezug auf ihr Verständnis von (1) Strukturen, (2) Gestalten als intendiertes und koordiniertes Handeln, (3) klimafreundlichem Leben, (4) wesentlichen Akteur_innen, (5) notwendigen Veränderungen (6) und damit verbundenen Problemen und Konflikten, (7) präferierten politischen Maßnahmen und Instrumenten sowie (8) konkreten, diese Perspektive einnehmenden Theorien des Wandels herausgearbeitet.

2.2.1 Marktperspektive

Theorien in der Marktperspektive erachten Märkte (das heißt individuelle, dezentrale Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte innerhalb gegebener Rahmenbedingungen) als zentrale Institutionen und Preisrelationen als zentrale Hebel für klimafreundliches Leben (Anderson & Leal, 1991). Strukturen werden als Regeln für das Handeln auf Märkten verstanden; zudem sind Märkte unter anderem in rechtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen (Hodgson, 2017) und Institutionen (z. B. Verfügungsrechte, Vertragsrechte) eingebettet (Tietenberg & Lewis, 2018). Preisstrukturen drücken sich in Preisverhältnissen aus, die sich aus Angebot und Nachfrage und deren Bestimmungsgründen (z. B. Präferenzen, Technologien, staatliche Regulierungen) ergeben. Eine Einflussnahme auf Marktstrukturen ist legitim, um Marktverzerrungen (z. B. unerwünschte Monopolbildungen) zu vermeiden (Stiglitz & Rosengard, 2015) oder wenn zeitlich beschränkte Monopole oder Oligopole (z. B. Patentrecht, Lizenzvergaben) erwünscht sind (Hanley, Shogren, & White 2019).

Die Marktperspektive fokussiert auf individuelle klimafreundliche Konsum- und Investitionsentscheidungen und deren politisch gesetzte Rahmenbedingungen. Gestalten als koordiniertes Handeln ist in dieser Perspektive das Setzen klimafreundlicher wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen, insbesondere durch Anreizsysteme (Baumol & Oates, 1975). Unterschiedliche Marktregulierungen, die durch Gesetze und Regulierungsbehörden implementiert werden, wie z. B. das Wettbewerbsrecht sowie vertragsrechtliche Bestimmungen, aber auch finanzpolitische Instrumente (z. B. emissionsbezogene Steuern), wirken im Rahmen des individuellen Entscheidungskalküls als Spielregeln, die unter anderem Anreize für Konsum- und Investitionsverhalten liefern und damit das alltägliche Handeln beeinflussen. Gesellschaftlich akkordierte Zielvorstellungen (z. B. die Ziele des Pariser Übereinkommens) werden durch geeignete Rahmenbedingungen zur Beeinflussung von Preisen operationalisiert, die wiederum das Nachfrageverhalten hin zu einem klimafreundlichen Leben verändern (Tietenberg & Lewis, 2018).

Auch die verhaltensökonomische Forschung betont die zentrale Bedeutung passender Rahmenbedingungen, das heißt Strukturen für klimafreundliche Wahlentscheidungen. Diese sollen Anreize zu Veränderungen in Richtung eines klimafreundlichen Lebens setzen, indem sie emissionsärmere Verhaltensweisen vorzugswürdiger machen (Thaler & Sunstein, 2008) oder diese überhaupt als Ausgangszustand („Default“) herstellen (Ölander & Thøgersen, 2014). Weitergehende Änderungen der Rahmenbedingungen ergeben sich daher durch geänderte Entscheidungsarchitekturen (wie beispielsweise auch Verbote) (Shafir, 2013), die die Verfügbarkeit und Hierarchie von Optionen verändern (z. B. durch längerfristige Ausstiegspläne für fossile Produkte bzw. Produktionen). Sie schränken die für individuelles Handeln verfügbaren Optionen ein oder lenken sie in eine klimafreundliche Richtung. Allein auf freiwillige Verhaltensänderungen zu setzen und dies mit der Souveränität von Konsument_innen zu begründen, lässt sich aus der Marktperspektive nicht begründen (Thaler & Sunstein, 2008).

Klimafreundliches Handeln in der Marktperspektive basiert auf alltäglichen Konsum- und Investitionsverhalten durch den Erwerb und die Nutzung nachhaltiger und emissionsarmer Produkte und Dienstleistungen (Baumol & Oates, 1975). Das Individuum nimmt Trade-offs zwischen unterschiedlichen Konsummöglichkeiten und den damit verbundenen Umwelteffekten wahr und wägt ab, z. B. zwischen Umweltbewusstsein und Bequemlichkeit, Arbeit und Freizeit, Qualität und Preis. Klimafreundliches Handeln wird erleichtert, wenn die relativen Preise von emissionsärmeren Handlungsoptionen sinken (Croson & Treich 2014). Preissignale sollen Knappheiten widerspiegeln und zu Kostenwahrheit führen (Verursacherprinzip) oder zumindest durch Preisanreize umweltpolitische Ziele (Baumol & Oates, 1975; Tietenberg & Lewis, 2018) erreichen.

Akteur_innen sind einerseits Konsument_innen und Produzent_innen, die am Markt Wahlentscheidungen treffen (Taylor & Mankiw, 2017). Andererseits gestalten politische Entscheidungsträger_innen und öffentliche Verwaltungen Regulierungen sowie fiskalpolitische Maßnahmen, um Kostenwahrheit herzustellen oder zumindest Anreize für ein klimafreundliches Leben zu bieten (Tietenberg & Lewis, 2018). Das Individuum wird in dieser Perspektive oft als „homo oeconomicus“ definiert, das rationale Entscheidungen entsprechend seiner Präferenzen trifft (Taylor & Mankiw, 2017). Märkte stellen dabei sicher, dass Individuen knappe Ressourcen optimal einsetzen (Taylor & Mankiw, 2017). Dieses rationale Entscheidungsmodell wird vermehrt ergänzt und teilweise ersetzt durch Ansätze der Verhaltensökonomik, die vom empirisch feststellbaren Verhalten von Individuen ausgehen (Thaler & Sunstein, 2008). An die Stelle der theoretischen Annahme eines rational entscheidenden und vollständig informierten homo oeconomicus treten nun Menschen, deren Entscheidungen durch oft unvollständige Informationen, Werthaltungen, Bequemlichkeiten und Gewohnheiten geprägt sind. Anstatt als Eigennutzen optimierende Individuen werden Menschen als Akteur_innen gesehen, die in ihren Wahlentscheidungen auch auf andere Rücksicht nehmen bzw. Umweltwissen in das Nutzenkalkül mit einbeziehen (Daube & Ulph, 2016). All dies führt zu weniger eindeutigen Vorhersagen über Marktergebnisse.

Die freie individuelle Wahlentscheidung (Konsumentensouveränität) gilt in dieser Perspektive als ein wichtiger Grundwert der Wirtschaftsordnung (Taylor & Mankiw, 2017). Strukturveränderungen im Sinne von Eingriffen in diese Wahlentscheidungen müssen begründet werden, beispielsweise mit der Verbesserung der Effizienz und der Beseitigung von Marktversagen (Baumol & Oates, 1975) oder der Verantwortung der Gesellschaft für eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Entwicklung (Common & Stagl, 2005).

Wichtigste notwendige Veränderung sind wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen, die für Individuen Handlungsanleitungen und -anreize für ein klimafreundlicheres Leben liefern. Es ist, so eine Grundthese dieser Perspektive, klimapolitisch vorteilhaft, individuelle ökonomische Interessen (z. B. Gewinn oder -Nutzenmaximierung) für ein klimafreundliches Verhalten zu nutzen (Gsottbauer & van den Bergh, 2011). Ökonomische Anreize führen unter sonst gleichen Bedingungen zu gesamtwirtschaftlich kostengünstigeren Emissionsreduktionen als der Einsatz gleichförmiger ordnungsrechtlicher Instrumente (Tietenberg & Lewis, 2018). Es geht darum, möglichst „richtige“, das heißt optimale Wahlentscheidungen zu ermöglichen um z. B. ein E-Auto statt eines Autos mit Verbrennungsmotor zu erwerben oder weniger zu fliegen oder weniger Fleisch zu kaufen. Entscheiden sich souveräne Konsument_innen nicht klimafreundlich (bei Mobilität, Essen, Energienutzung …), drücken sie damit ihre unter den gegebenen Rahmenbedingungen subjektiven Präferenzen aus, was wiederum als Votum der Bevölkerung gegen konkrete klimapolitische Maßnahmen interpretiert werden könnte, doch zugleich immer die Rahmenbedingungen spiegelt.

Forderungen nach nachhaltigem Konsum als Kernbestandteil klimafreundlichen Lebens stützen sich auf diese Perspektive ebenso wie Forderungen zur Internalisierung externer Effekte und nach einer ökosozialen Steuerreform („to get the prices right“) (wie beispielsweise Akerlof et al. (2019) zur CO2-Bepreisung). Auch zeigen Studien, dass Anpassungen des Preissystems (Kostenwahrheit) durch dynamische Anreize zu Innovationen führen (z. B. Fried, 2018) oder – sobald Investitionen in emissionsärmere Technologien und eine Änderung der Konsummuster aus Sicht individueller Entscheidungsträger_innen vorteilhaft sind – es durch Substitution klimaschädlicher Technologien und gesamtwirtschaftlicher Effizienzsteigerungen zur Dekarbonisierung kommt (Kaufman et al., 2020). Richtige Bepreisung ermöglicht nach dieser Perspektive auch eine Entkoppelung von CO2-Emissionen und Wirtschaftswachstum.

Als Problem wird gesehen, dass Marktversagen (durch beispielsweise unvollständige Information, Monopolbildung oder einen Mangel an Kostenwahrheit; siehe Stiglitz & Rosengard, 2015) zu Fehlallokationen führen kann oder dass die bestehenden Anreize nicht ausreichen, um eine intergenerationell gerechte Allokation von natürlichen Ressourcen herzustellen. Auch können Effizienzsteigerungen (z. B. Verringerung des Energieverbrauchs) durch verschiedene Rebound-Effekte aufgewogen werden, weshalb insgesamt technologische Innovationen alleine nicht zu einer Reduktion des Energieverbrauchs führen (Pietzcker, Osorio, & Rodrigues, 2021). Weiters ist die den Wahlentscheidungen zugrundeliegende Wissensbasis immer durch asymmetrische und unvollständige Information beeinflusst (Stiglitz & Rosengard, 2015). Wissenschaftsbasierte und daher korrekte Information steht nämlich in Konkurrenz zu anderen Informationsquellen, bei denen rationale und emotionale Argumente verknüpft (z. B. Werbung) oder schlichtweg Falschinformationen (Fake News) verbreitet werden.

Präferierte klimapolitische Maßnahmen sind klimafreundliche Marktregulierungen (z. B. CO2-Bepreisung), die zu klimafreundlichen Technologien und Produkten führen (z. B. Elektroauto, Fleischersatz). Wirksame Maßnahmen sind daher Ökosteuern und handelbare Emissionszertifikate. Der CO2-Preis bzw. Emissionssteuern spiegeln sich dann im Preis des Endprodukts bzw. einer Dienstleistung wider. Dies soll das Konsument_innenverhalten in Richtung CO2-ärmerer Konsumgüter lenken (OECD, 2017). Ökologische Kosten müssen so genau wie möglich monetarisiert (in Geld ausgedrückt) werden (Baumol & Oates, 1975), um unter anderem Umweltsteuern mit einer entsprechenden Anreizwirkung zu implementieren.

Maßnahmen der Informations- und Aufklärungspolitik (z. B. Markt- und Produkttransparenz mittels Produktkennzeichnung) sowie der Bewusstseinsbildung (insbesondere Werbung für nachhaltigen Konsum) werden oft mit der Marktperspektive begründet (Anderson & Leal, 1991). Die empirische Evidenz legt jedoch eine generell geringe Wirksamkeit von auf freiwillige individuelle Verhaltensänderung abzielenden Maßnahmen nahe, da Wissen über klimafreundliches Leben allein nicht zu klimafreundlichem Handeln führt (dies gilt für Bürger_innen wie politische Entscheidungsträger_innen gleichermaßen; siehe z. B.: Sörqvist & Langeborg, 2019). Weiters weisen verhaltensökonomische Ansätze darauf hin, dass diese Wirkungen durch Information, Kommunikation und andere, unter den Begriff „Nudging“ fallende Instrumente verbessert werden können (Thaler & Sunstein, 2008).

Wichtige Theorien des Wandels aus einer Marktperspektive, die in Teil 5 in Kap. 25 ausführlicher behandelt werden, sind die Umwelt- und Verhaltensökonomik, die Umwelt-, Klima- und Wirtschaftspsychologie sowie die Politische Institutionentheorie und Public Choice.

2.2.2 Innovationsperspektive

Die Innovationsperspektive umfasst Theorien, bei denen die Anwendung, Verbreitung und Wirkungen von Innovation im Vordergrund stehen. Sie widmet sich neuen Themenstellungen (z. B. Klimawandel und Digitalisierung) und untersucht die Rolle von soziotechnischen Innovationen, also technologischen und nichttechnologischen Entwicklungen, hin zu einer klimafreundlichen Gesellschaft (Joly, 2017; Schot & Steinmueller, 2018).

Strukturen in diesen Ansätzen umfassen beispielsweise Gesetze, Standards, Infrastrukturen, Governancestrukturen, Akteurskonstellationen (Edquist, 2011; Köhler et al., 2019), die entlang von soziotechnischen Regimen und Landscape-Entwicklungen systematisiert werden. Die Ansätze untersuchen primär, wie sich Innovationen auf Strukturen auswirken, aber auch wie Innovationssysteme Innovationen für nachhaltige Entwicklung ermöglichen. In weiterer Folge untersuchen die Ansätze auch, wie Innovationen auf die soziale und wirtschaftliche Praxis und damit einhergehende Umwelteinflüsse wirken (Avelino et al., 2017; Kivimaa et al., 2021; Köhler et al., 2019; Shove & Walker, 2014). Dabei gewonnene Erkenntnisse dienen dem besseren Verständnis von einem Wandel hin zum klimafreundlichen Leben.

Ausgangspunkte der Theorien in der Innovationsperspektive sind Innovationstheorien und Theorien des technologischem Wandels: Techno-ökonomisches Paradigma, technologische Systeme, radikaler und inkrementeller Innovation und auch Akteur-Netzwerk-Theorie (Dosi et al., 1988; Freeman & Perez, 1988; Köhler et al., 2019; Latour, 2019; Malerba & Orsenigo, 1995). Sie beschreiben, welche Akteure Innovationen entwickeln (Unternehmertum, angewandte Forschung in Großunternehmen), wie sich Innovationen als neue Produkte, Prozesse und Dienstleistungen durchsetzen und unterstreichen oft, dass „kreative Zerstörung“ (Schumpeter, 1911; Smelser, 2005) zu strukturellen Veränderungen (insbesondere von Marktstrukturen, die von Monopolen dominiert werden) führen kann. Im Zusammenhang mit den heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen hat eine Verlagerung im wissenschaftlichen Diskurs stattgefunden: weg von einer nahezu ausschließlichen Betonung von wirtschaftlichen Zielen hin zu stärker richtungsgebenden, direktionalen Zielsetzungen im Sinne der UN-Nachhaltigkeitsziele (Daimer et al., 2012; Diercks et al., 2019).

Gegenwärtige Innovationstheorien gehen über wirtschaftliche und technologische Fragestellungen hinaus. Sie untersuchen, welche Rolle unterschiedliche Akteur_innen haben, inwiefern soziale Entwicklungen für Innovationen von Bedeutung sind und auch umgekehrt, wie Innovationen auf soziale und auf Umweltaspekte wirken (Köhler et al., 2019). Diese Theorien werden auch als Mehrebenen-Theorien bezeichnet werden. Sie systematisieren Strukturen in der Regel entlang von drei Ebenen (Geels & Kemp, 2007; Köhler et al., 2019): (1) die inneren Strukturen der soziotechnischen Produktions- und Konsumptionssysteme (soziotechnische Regime), (2) die Strukturen im ökonomischen, sozialen und ökologischen Umfeld (Landschaft) und (3) Nischen, innerhalb derer neue Lösungen zunächst auch ohne eine Veränderung struktureller Rahmenbedingungen experimentell entwickelt werden können.

Innovation hat das Potenzial – intendiert oder unbeabsichtigt – Preisstrukturen, Marktstrukturen, Infrastrukturen bis hin zu Akteurskonstellationen, Governancestrukturen, Organisationsstrukturen oder ganzen soziotechnischen Produktions- und Konsumptionssystemen zu verändern (siehe dazu Teil 5). Damit umfasst diese Perspektive Ansätze zu technologischer, unternehmerischer, organisatorischer, Produkt-, Prozess-, Marketing- und Systeminnovation ebenso wie soziale Innovation, Umweltinnovation, Nachhaltigkeitsinnovation und Exnovation. Theorien der Exnovation (Arnold et al., 2015) sind ein Sonderfall, weil sie weniger die Schaffung von etwas Neuem, sondern das Beenden von nichtnachhaltigen Lösungen in den Mittelpunkt rücken.

Gestalten bedeutet in der Innovationsperspektive, Wandel mittels Innovationen bewusst herbeizuführen (Godin, 2015). Ausgehend von Problemanalysen geht es um neue Lösungen, die zu einer geänderten sozialen oder wirtschaftlichen Praxis des alltäglichen Handelns (des Tuns) und damit zu einem klimafreundlichen Leben führen. Gestalten bedeutet die Veränderung des strukturellen Umfelds (z. B. Raumordnung, klimapolitische Maßnahmen etc.) oder auch das Schaffen und Unterstützen von soziotechnischen Nischen. In diesen Theorien wird argumentiert, dass sowohl soziotechnische oder soziale Innovationen, mentale Modelle wie etwa Zukunftsbilder (Grin et al., 2011; Schot & Steinmueller, 2018), rechtliche Rahmenbedingungen und Infrastrukturen (Bolton & Foxon, 2015), Akteur_innennetzwerken (Latour, 2019) und Governanceprozesse (Köhler et al., 2019) gestaltet werden können.

Wenn strukturelle Rahmenbedingungen der Entwicklung radikaler Innnovationen (Chen & Yin, 2019) in etablierten Regimen entgegenstehen, kann versucht werden, in soziotechnischen Nischen Raum für Experimentieren zu bieten (Sengers et al., 2019). Die sogenannte Mehrebenen-Betrachtung geht davon aus, dass auf der Nischenebene transformativ wirkende Innovationen – gerade in hoch klimarelevanten Bereichen wie Mobilität, Energieerzeugung, -versorgung und -nutzung oder Nahrungsmittelversorgung und Ernährung – geschaffen und angewendet werden können, ohne auf den etablierten Rahmenbedingungen des Regimes in diesen Bereichen aufbauen zu müssen (Geels, 2014). Dabei ist die Verknüpfung neuer technologischer Optionen mit organisatorischen und sozialen Innovationen und Verhaltensänderungen zentral, um gesellschaftliche Veränderungen im Sinne der Bewältigung der Klimakrise anzustoßen und zu ermöglichen. Erst im Zusammenwirken dieser verschiedenen Dimensionen von Innovation sind Systemveränderungen möglich (Wanzenböck et al., 2020; Wittmayer et al., 2022).

Klimafreundliches Leben basiert auf klimafreundlichen sozialen und wirtschaftlichen Praktiken. Sozialinnovationen etablieren innovative Praktiken wie neue Nutzungsformen (Ökonomie des Teilens). Sie werden zumeist von zivilgesellschaftlichen Akteur_innen, Organisationen der Sozialwirtschaft, der Solidarökonomie und (Social) Entrepreneurs initiiert, die „von unten“ und oftmals selbstorganisiert Veränderungen anstoßen (European Commission, 2021; Galego et al., 2021). Damit ermöglichen sie in Nischen die Entwicklung neuartiger bzw. vom Mainstream abweichender Formen von Arbeiten und Leben, z. B. als „Ökotopien“ (Daniel & Exner, 2020).

Wesentliche Akteur_innen sind Menschen und Organisationen (als private, öffentliche, genossenschaftliche wirtschaftliche Akteure_innen und Nutzer_innen) in ihrem alltäglichen Handeln ebenso wie staatliche, zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Akteure_innen, die Rahmenbedingungen gestalten können bzw. am Schaffen neuer Lösungen beteiligt sind. Staatliche Akteure_innen haben über Beschaffungsprozesse einen besonders starken Hebel. Sie können als Teil der Daseinsvorsorge ökonomische Anreize schaffen oder auch innovationsorientierte Infrastrukturpolitikmaßnahmen setzen (Kap. 22).

Notwendige Veränderungen aus der Innovationsperspektive sind unter anderem die Schaffung neuer Governancemechanismen (Köhler et al., 2019), die koordiniertes Handeln über und zwischen mehreren Verwaltungsebenen ermöglichen und verschiedene Akteursgruppen und Akteursnetzwerke einbeziehen (z. B. durch Beteiligungsprozesse, Roadmapping), um Rahmenbedingungen für Wandel zu schaffen. Ebenso wird die Bedeutung radikaler Innovationen in Bezug auf Funktionalität (z. B. durch verbesserte Materialien) oder Bedeutung (z. B. Elektroauto als Prestigeobjekt) und deren Wirkungen auf nachhaltigen Wandel unterstrichen (Hommels, Peters, & Bijker, 2007; Verganti, 2008). Damit einhergehende Verhaltensänderungen im alltäglichen Handeln, im Sinne von sozialer Praxis (Shove & Walker, 2014) und wirtschaftlichem Handeln, werden als wesentliche thematisiert [siehe dazu auch Bereitstellungsperspektive].

Besondere Herausforderungen, Probleme und Konflikte beim Erreichen klimafreundlichen Lebens sind aus Sicht der Theorien dieser Perspektive unter anderem der Widerstand von – durch langfristige Kooperationen aufgebauten – Akteursnetzen entlang von Wertschöpfungsketten, in denen etablierte bzw. nichtnachhaltige Interessen dominieren. In der öffentlichen Debatte ist der Begriff „Innovation“ positiv konnotiert (Godin, 2015), das wird jedoch nicht von allen hier besprochenen Theorien vorausgesetzt. Es wird also auch thematisiert und analysiert, ob Innovationen einen Beitrag zur Verbesserung von Umwelt- und Klimabedingungen leisten (Bergh, 2013) oder ob, wie im Exnovation-Ansatz, Innovationen bewusst zurückgenommen werden (Arnold et al., 2015) oder im Konversionsansatz eine Umwandlung von bestehenden Strukturen in Richtung auf neue Zielsetzungen entwickelt werden sollen (Högelsberger & Maneka, 2020).

Der Politikdiskurs zur Schaffung nationaler, sektoraler und regionaler Innovationssysteme zeigte in den letzten Jahrzehnten das Bestreben, Rahmenbedingungen für erfolgreiche unternehmerische Innovationen und damit implizit auch für wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. Hier wird meist auf inkrementelle Innovationsaktivität aus unternehmerischer Sicht und auf technologische Entwicklungen fokussiert (Dosi et al., 1988). Die Wirkungen von Innovationen über den wirtschaftlichen Bereich hinaus zu beleuchten, wird in dieser Literatur ebenso wenig ermöglicht wie Fragen der Anwendung und Auswirkungen von Innovationen und Systeminnovationen. Ausnahmen bilden erste konzeptionelle Ansätze zu herausforderungsgetriebenen Innovationssystemen, wie „Technological Innovation Systems – TIS“ (Markard & Truffer, 2008) und „Challenge-oriented Regional Innovation Systems“ (Tödtling, Trippl & Desch, 2021).

Präferierte Maßnahmen der Klimapolitik orientieren sich an einer transformativen Innovationspolitik, indem Innovationspolitik vermehrt auf notwendige Systeminnovationen und deren soziale Auswirkungen ausgerichtet wird. Missionsorientierte Fördermaßnahmen (Kap. 13) bauen auf einem breiteren Verständnis von Innovation, einschließlich sozialer Innovation und Exnovation auf. Strategisches Nischenmanagement (Geels & Raven, 2006) sowie die Förderung des Experimentierens über Politikbereiche hinweg (z. B. regulatorisches Experimentieren) können radikale Innovation fördern. Ebenso sollen Maßnahmen gesetzt werden, die eine gemeinsame Orientierung aller Akteursgruppen fördern und Innovationssysteme neu ausrichten.

Wichtige Theorien des Wandels, die sich an dieser Perspektive orientieren und in Teil 5 genauer dargestellt werden, sind der Mehrebenen-Ansatz, Ansätze zu sozialer Innovation, Strategisches Nischenmanagement und Transitionsmanagement, (herausforderungsorientierte) Regionale Innovationssysteme, Technologische Innovationssysteme, Konversion und Exnovation.

2.2.3 Bereitstellungsperspektive

Der Bereitstellungsperspektive liegt ein weites Wirtschaftsverständnis zugrunde, wonach Wirtschaften die gemeinsame Organisation der Lebensgrundlagen betrifft (Polanyi, 2001). Demnach beschränkt sich Wirtschaftswissenschaft (Ökonomik) nicht wie in der Marktperspektive auf die Untersuchung individueller Wahl- bzw. Konsumentscheidungen unter Bedingungen der Knappheit, sondern versteht sich als die Wissenschaft gesellschaftlicher Bereitstellung (Gruchy, 1987; Nelson, 1993; Todorova & Jo, 2019), als feministisch inspirierte Ökonomie des Versorgens (Knobloch, 2019).

Theorien in der Bereitstellungsperspektive untersuchen daher geeignete Strukturen klimafreundlichen Lebens ausgehend von Bereitstellungsystemen, die suffiziente und resiliente Lebensformen, das heißt Bündel an Praktiken (Jaeggi, 2014), erleichtern und damit selbstverständlich machen. Bereitstellungssysteme regeln – oftmals entlang globaler Wertschöpfungsketten und immer in wirtschaftlich, kulturell, politisch und materiell spezifischer Weise (Bayliss & Fine, 2020; Schafran, Smith, & Hall, 2020; Kap. 15) – Produktion, Verteilung und Konsum von Energie, Mobilität, Ernährung, Gesundheit, Bildung, Sorge und anderen Gütern und Dienstleistungen (Fine, 2002; Todorova & Jo, 2019). Als soziotechnische Systeme bestehen Bereitstellungssysteme aus physischen (z. B. materiellen und technischen Infrastrukturen, Landnutzungsmustern und Lieferketten) und sozialen Elementen (z. B. Institutionen wie etwa Widmungskategorien, Gesetze, Machtverhältnisse, kulturelle Normen) (O’Neill et al., 2018, Fanning, O’Neill, & Büchs, 2020). Ein Beispiel: Ein Mobilitätssystem besteht aus Märkten und Wirtschaftszweigen (z. B. für Pkws), aber auch aus rechtlichen Regelungen [Kap. 1119], kulturellen Normen (z. B. Freiheit, Status, Unabhängigkeit und Maskulinität im Kontext des Autofahrens), netzgebundenen Infrastrukturen [Kap. 22] und den damit verbundenen Landnutzungsformen (z. B. Verstädterung, Zersiedelung) (Mattioli et al., 2020).

Da Theorien der Bereitstellungsperspektive materielle mit kulturellen Dimensionen (Bayliss & Fine, 2020), soziale Metabolismen mit politökonomischen Zugängen (Schaffartzik et al., 2021) sowie biophysische mit sozialen Prozessen (O’Neill et al., 2018; Plank et al., 2021) verbinden, schaffen sie Wissen über die sozialen (z. B. Ungleichheit, Exklusion) und ökologischen (z. B. hinsichtlich CO2-Emissionen, Bodenverbrauch und Biodiversität) Konsequenzen vorherrschender Bereitstellungsformen von bestimmten Gütern und Dienstleistungen. Ziel ist, dass langfristiger Klimaschutz und langfristige Klimawandelanpassung mit der Sicherung der Grundversorgung, das heißt der universellen Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, und dem Schutz vor Naturgefahren vereinbar sind (Jones et al., 2014; Mechler & Aerts 2014; Schinko, Mechler, & Hochrainer-Stigler, 2017).

In den hier zusammengefassten Theorien konstituieren Strukturen bei Bereitstellungssystemen den Kontext, der die Art und Weise, wie Güter und Dienstleistungen bereitgestellt werden, bestimmt (Bayliss & Fine, 2020, vii). Strukturen sind in diesem Verständnis mehrförmig. Sie können organisatorisch (z. B. kapitalgesellschaftliche Unternehmensführung, gemeinnützige Unternehmensformen), institutionell und rechtlich (z. B. Governancestrukturen, Klimarisikomanagement, Raumordnung und -planung, Marktordnungen, Eigentumsrechte), gesellschaftlich (z. B. Klassen- und Geschlechterverhältnisse, gesellschaftliche Arbeitsteilung im Haushalt, Machtverhältnisse im internationalen Handel) sowie formal und informal sein (Bayliss & Fine, 2020, vii; Mattioli et al., 2020). Auch Infrastrukturen sind zentrale Strukturdimensionen, die mit anderen Strukturen zusammenwirken und gesellschaftlich geregelt werden (Barlösius, 2019; Bärnthaler, Novy, & Stadelmann, 2020; Shove & Trentmann, 2018). Das Zusammenspiel verschiedener Strukturdimensionen, die bestimmten Bereitstellungssystemen zugrunde liegen, strukturiert somit das Alltagsleben und die Möglichkeitsbedingungen „kollektiver Lebensführung“ (Jaeggi 2014, S. 77) bzw. die damit verbundenen Lebensformen. Bei Lebensformen (Jaeggi, 2014), wie dem oftmals synonym verwendeten Begriff der Lebensweisen (Brand & Wissen, 2017), handelt es sich um Organisationsformen des Alltags und Zusammenlebens. Ihre Strukturen konstituieren sich aus dem Beharrungsvermögen verschiedener verbundener Praktiken (Jaeggi, 2014), die wiederum als Bündel sozial und kulturell konstruierter Aktivitäten sowohl von Bereitstellungssystemstrukturen abhängen (Jaeggi, 2014, S. 40: daher sind Lebensformen „immer schon politisch instituiert“) als auch bestimmte Kompetenzen für ihre Ausübung erfordern (z. B. Fähigkeiten und internalisierte soziale Standards für „richtiges“ Verhalten; Reckwitz, 2002; Schatzki, 2002; Shove, Pantzar, & Watson, 2012). Fehlen z. B. geeignete sozialökologische Infrastrukturen und Zeit, um neue Kompetenzen zu erlernen, dann ist es für einzelne Individuen schwer, klimafreundliche Praktiken zu übernehmen und diese in Gewohnheiten zu verwandeln. So gibt es in peripheren Regionen eine Autoabhängigkeit (Mattioli et al., 2020) oder in städtischen Regionen oftmals eine Abhängigkeit von Gas [Kap. 4].

Die Bereitstellungsperspektive geht, angelehnt an Giddens (1984), von den gegenseitigen Bedingungen von Struktur und Handeln aus: Strukturen beschränken und ermöglichen soziale Praktiken, z. B. Auto- und Fahrradfahren (Shove & Walker, 2014) oder den Umgang mit wetter- und klimabedingten Extremereignissen [siehe Klimarisikomanagement], welche wiederum Strukturen reproduzieren oder verändern können. Lebensformen als Bündel sozialer Praktiken weisen größere Beharrungskraft und Verbreitung auf als Lebensstile, die eher in den Einzugsbereich „von Phänomenen wie dem der Mode oder des Modischen“ fallen (Jaeggi, 2014, S. 72). Lebensformen bündeln mehrere Praktiken und sind daher Praktiken zweiter Ordnung: Beispiele sind die „imperiale“ (Brand & Wissen, 2017) oder „westliche“ Lebensweise (Novy, 2019) als eine auf Massenkonsum basierende Konsumnorm (Aglietta, 2015), die verschiedene nichtnachhaltige soziale Praktiken des Wohnens (z. B. suburbanes Eigenheim), des Essens (z. B. Fleischkonsum), des Fortbewegens (z. B. Autofahren) und der Energienutzung (z. B. Ölheizung) umfassen und verbinden. Gemein ist den einzelnen Praktiken dieser Lebensform, dass Wohlstand durch exzessiven Ressourcenverbrauch geschaffen wird, der nur auf Kosten anderer, insbesondere des Globalen Südens, möglich wird (Brunner, Jonas, & Littig, 2022).

Die Bereitstellungsperspektive zeigt, wie Bereitstellungssysteme mit bestehenden Praktiken soziale Ordnungen schaffen, und identifiziert Barrieren sowie Veränderungsmöglichkeiten (Novy et al., 2023; Plank et al. 2021; Schaffartzik et al. 2021). Aus Sicht der hier versammelten Theorien zielt Gestalten darauf, Bereitstellungssysteme zu schaffen, die „ein gutes Leben für alle innerhalb planetarer Grenzen“ ermöglichen und damit innerhalb eines „safe and just space“ operieren (O’Neill et al., 2018; Fanning et al., 2020; Raworth, 2017). Es braucht klimafreundliche Bereitstellungsysteme, die gleichzeitig die Grundversorgung vor Ort sichern, ohne die Versorgung in anderen Weltteilen zu gefährden (Kap. 1415). Ein Beispiel ist der Ansatz der Alltagsökonomie, der der gesicherten, das heißt auch möglichst klimafreundlichen Bereitstellung von Daseinsvorsorge und Nahversorgung Vorrang gibt vor Geschäftspraktiken der kurzfristigen Gewinnmaximierung (Foundational Economy Collective, 2018; Krisch et al., 2020). Klimapolitisch bedeutsam ist darüber hinaus, dass Praktiken nicht zu als intolerabel definierten Risiken führen, z. B. eine Gefährdung des sauberen Trinkwassers durch landwirtschaftliche Nutzungen (Schinko et al., 2017).

Klimafreundliches Handeln in der Bereitstellungs- und der Gesellschaft-Natur-Perspektive ist suffizient und resilient. Suffizienz, die Mindeststandards eines „Genug“ definiert (Frankfurt, 2015), und reflexive Resilienz, die mit Einfallsreichtum Vulnerabilitäten und Alltagspraktiken krisensicherer macht (Connolly, 2018), sollen in dieser Perspektive zu einem „guten Leben“ führen (Schneidewind, 2017), in dem klimafreundliche Praktiken selbstverständlich werden.

In der Bereitstellungsperspektive sind Menschen nicht vorrangig autonome Individuen, die Konsumentscheidungen treffen und Lebensstile wählen, sondern soziale und politische Wesen, die in gesellschaftliche und biophysische Zusammenhänge eingebettet sind und koordiniert handeln müssen, wenn sie Strukturen verändern wollen (Brand & Wissen, 2017; Bärnthaler et al., 2021; Schaffartzik et al., 2021). Aufgrund ihrer rechtlichen Zuständigkeit sowie ihrer Ressourcenausstattung sind staatliche Akteur_innen wesentlich für die Ausgestaltung von Daseinsvorsorge, Klimaschutz und Klimawandelanpassung. Wichtige Akteur_innen aus dieser Perspektive sind daher politische Entscheidungsträger_innen, die Regeln der Bereitstellung in einem politischen Territorium festlegen, sowie öffentliche Einrichtungen, Verwaltungen und (öffentliche) Unternehmen, die klimafreundliche Geschäftsmodelle entwickeln oder in der Grundversorgung und Sozialwirtschaft tätig sind. Weiters haben gemeinwirtschaftliche Akteur_innen in der Zivilgesellschaft und in sozialen Bewegungen durch Druck auf Regierung und Gesetzgebung Einfluss auf die Bereitstellung öffentlicher Güter sowie die Ausgestaltung von Lieferketten (Bayliss, 2017). Deshalb braucht es Teilhabe sowie neue Governancestrukturen auf mehreren Ebenen.

Notwendige Veränderungen, damit klimafreundliche Praktiken selbstverständlich werden, sind die Schaffung und Förderung von Bereitstellungssystemen, die kollektiven Konsum fördern (Foundational Economy Collective, 2018) sowie klimafreundliche Praktiken rechtlich möglich, kulturell akzeptiert und ökonomisch leistbar machen, z. B. ein dekarbonisiertes öffentliches Mobilitätssystem für Stadt und Land (ILA Kollektiv et al., 2017). Dies erfordert unter anderem die Ausweitung der öffentlichen Daseinsvorsorge, größere Einkommensgleichheit und inklusiven Zugang zu Elektrizität sowie ein Schrumpfen von extraktions-, renten- und wachstumsorientierten Bereitstellungsfaktoren (Vogel et al., 2021) bzw. Wirtschaftsbereichen (Krisch et al., 2020). Die Qualität demokratischer Strukturen zu erhöhen sowie Betroffene bei der Veränderung von Strukturen zu beteiligen, erleichtert es, neue, klimafreundlichere Gewohnheiten rascher zu institutionalisieren (Jahn et al., 2020; Vogel et al., 2021; Plank et al., 2021). Entsprechend sind Veränderungen notwendig, die nicht bloß inkrementell, sondern transformativ sind, das heißt grundlegende Eigenschaften soziotechnischer Systeme verändern. Bezogen auf Klimarisiken bedeutet dies auch, dass Naturgefahrenmanagement durch Klimawandelanpassung eine andere Organisation der Bereitstellung von Infrastrukturen, Gütern und Dienstleistungen erfordert (Schinko et al., 2017).

Bereitstellungssysteme zu verändern, ist auch eine Machtfrage und geht mit Konflikten einher (Brand & Wissen, 2017; Bärnthaler et al., 2020; Schaffartzik et al., 2021). Nutznießer_innen bestehender Bereitstellungssysteme, die z. B. abhängig von fossilen Infrastrukturen (Mattioli et al., 2020; Shove et al., 2015) sowie Formen des ungleichen Zugangs zu Gütern und Diensten sind (Millward-Hopkins et al., 2020), leisten oftmals Widerstand gegen deren Veränderung. Besonders groß ist der Widerstand, wenn global ungleiche Verantwortung für die Klimakrise sowie global ungleiche Nutzung von Ressourcen und Land (z. B. via Landraub) problematisiert wird (Schaffartzik et al., 2021). Umkämpft ist weiters die Finanzierung klimafreundlicher und für alle leistbarer Bereitstellungssysteme (Bärnthaler et al., 2021).

Präferierte Maßnahmen der Klimapolitik inkludieren die Ausgestaltung von Bereitstellungsystemen, um Grundbedürfnisse zu befriedigen, ohne planetare Grenzen zu überschreiten (O’Neill et al., 2018; Millward-Hopkins et al., 2020). Soziale und ökologische Zielsetzungen gleichermaßen zu integrieren (Raworth, 2012) ist Voraussetzung für die Bildung von Allianzen zwischen verschiedenen Milieus (Novy et al., 2023; Bärnthaler et al., 2020), insbesondere auch mit denjenigen, die gegenüber Klimapolitik skeptisch sind (Kleinhückelkotten, Neitzke, & Moser, 2016; Moser & Kleinhückelkotten, 2018; Reckwitz, 2017). Wenn die Reduktion von CO2-Emissionen und von Materialverbrauch nicht zulasten der Grundbedürfnisbefriedigung aller gehen soll, muss zwischen verschiedenen Wirtschaftsbereichen unterschieden werden (Krisch et al., 2020; Kap. 18). Dieser Perspektive folgend müssen Daseinsvorsorge (Krisch et al., 2020; Vogel et al., 2021), Alltagsökonomie (Foundational Economy Collective, 2020), Universal Basic Services (Coote & Percy, 2020) und sozialökologische Infrastrukturen (Novy et al., 2023; Armutskonferenz, 2020) gestärkt und klimafreundlicher gestaltet werden, während nichtnachhaltige Infrastrukturen und Wirtschaftsbereiche rückgebaut werden müssen (Millward-Hopkins et al., 2020; O’Neill et al., 2018).

Konkrete Instrumente sind Steuer- und Förderpolitik (z. B. durch Konsumkorridorre; siehe dazu Fuchs et al., 2021; Pirgmaier, 2020), (Raum/Verkehrs-)Planung sowie Klimarisikomanagement (durch die Integration von Naturgefahrenmanagement und Klimawandelanpassung, unter Berücksichtigung der zentralen Rolle des Klimaschutz zur Risikoprävention; siehe Schinko et al., 2017). Sie erleichtern klimafreundliches Handeln, machen bestimmte Handlungen überhaupt erst möglich (z. B. durch leistbare öffentliche Verkehrsmittel am Land) oder verbieten diese (z. B. durch Flächenwidmungen) (Kap. 19). Wichtige, über die staatliche bzw. kommunale Bereitstellung durch öffentliche Einrichtungen hinausgehende innovative Bereitstellungsformen umfassen auch intermediäre Organisationen, z. B. Wasser- und Wohnbaugenossenschaften, und Formen der klimafreundlichen Selbstorganisation, z B. in der Sozialwirtschaft oder als „Ökotopien“ mit Hilfe von sozialen Innovationen und Commons (Daniel & Exner, 2020).

Wichtige Theorien des Wandels, die von der Bereitstellungsperspektive ausgehen und in Teil 5 ausführlicher behandelt werden, sind Bereitstellungssysteme und Alltagsökonomie, praxistheoretische Ansätze, Lebensformen, umfassendes Klimarisikomanagement, Suffizienz und Resilienz.

2.2.4 Gesellschaft-Natur-Perspektive

Theorien in der Gesellschaft-Natur-Perspektive betrachten das Soziale und die (biophysische) Natur nicht als unabhängig voneinander, sondern als eng miteinander verzahnt (Becker & Jahn, 2006; Brand, 2017; Foster, 1999; Görg, 1999; Haberl et al., 2016; MacGregor, 2021; Oksala, 2018; Pichler et al., 2017). Sie verdeutlicht, dass jede Herausforderung soziale und biophysische Implikationen hat (z. B. Agrarland wird zu bebauter Umwelt). Umgekehrt wird betont, dass biophysische Natur auch auf Soziales wirkt (z. B. Hochwasserereignisse werden durch gewisse Bebauungsformen wie Flächenversiegelung begünstigt und unterminieren Alltagshandeln).

Eine gesellschaftliche Perspektive bedeutet zudem, Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die in Natur-Mensch-Beziehungen eingelassen sind, sichtbar zu machen und zu reflektieren. Westliche Vorstellungen und Praktiken der Naturbeherrschung umfassen nie nur die biophysische, nichtmenschliche Natur, sondern auch soziale Verhältnisse, wie z. B. Kolonialismus, Sklaverei und Geschlechterhierarchien (Bonneuil & Fressoz, 2006; Chakrabarty, 2018, 2021; Davis & Todd, 2017; Di Chiro, 2017; Hultman & Pulé, 2019; Saldanha, 2020; Yusoff, 2018). Soziale Ungleichheit manifestiert sich unter anderem in Form von ungleicher Betroffenheit von der Klimakrise, z. B. entlang sozioökonomischer Kriterien sowie globaler und lokaler „color lines“ und Geschlechterdifferenzen (siehe z. B. Schlosberg & Collins, 2014).

Eine gesellschaftliche Perspektive einzunehmen, bedeutet außerdem, Merkmale von Mensch-Natur-Beziehungen zu identifizieren, die nicht nur in Österreich bedeutsam sind, sondern allgemein für kapitalistische, industrialisierte, von der europäischen Moderne geprägte Kontexte gelten. Sie impliziert eine gewisse Distanz zu kurzfristigen Entwicklungen und ad hoc wahrgenommenen Notwendigkeiten. Diese Distanz erlaubt, historisch entstandene, lang- und längerfristige, wirkmächtige Treiber der Klimakrise in den Blick zu bekommen (z. B. Kapitalakkumulation und/oder soziale Ungleichheit (siehe z. B. Fraser, 2014a; Malm, 2016; Moore, 2016; Steffen & Stafford Smith, 2013) und damit verbundene klimaunfreundliche Strukturen und ihre alltäglichen Wirkungsweisen (z. B. Lebensweisen, die auf der Nutzung von fossiler Energie beruhen, siehe z. B. Mitchell, 2013)). Anders ausgedrückt: Die Gesellschaft-Natur-Perspektive abstrahiert von unmittelbaren Gegebenheiten, um tiefliegende und übergreifende Merkmale moderner Gesellschaften zu fassen. Abstraktion in diesem Kontext dienen also keineswegs dem Ausblenden von kurzfristigen Entwicklungen und unmittelbaren Betroffenheiten – im Gegenteil: Sie versucht, das Kurzfristige und unmittelbar Gegebene im Länger- und Langfristigen und Tiefenwirksamen – also innerhalb von Strukturen – zu verorten. Um ein Beispiel zu nennen: Gewisse Formen der Lohnarbeit, z. B. die Pflegearbeit, sind im Vergleich zu anderen Lohnarbeitsformen weniger gut entlohnt. Das hat damit zu tun, dass Pflegearbeit – obwohl oft ressourcenextensiver und gesellschaftlich relevant – weniger Spielraum für Wirtschaftswachstum und Kapitalakkumulation erlauben als z. B. die metallverarbeitende Industrie und/oder der IT-Sektor (Kap. 7, aber auch Bauhardt, 2019, S. 468; Biesecker & Hofmeister, 2010). Wie wir arbeiten, wie Arbeit bewertet und entlohnt wird und welche Auswirkungen dies auf die menschliche und nichtmenschliche Natur hat, hängt also unmittelbar mit lang- und längerfristigen Strukturen zusammen, die die Gesellschaft-Natur-Perspektive sichtbar machen (Kap. 7 sowie Teil 5, Kap. 28).

Zu den Strukturen, die die Gesellschaft-Natur-Perspektive sichtbar macht, zählen tradierte, in die Wissenschaft, aber auch in den Alltag eingelassene Denkweisen. Zu diesen, mittlerweile vor allem von der sozialen Ökologie problematisierten Denkweisen (siehe Teil 5, Kap. 28) zählen Natur-Gesellschaft-Dualismen und Naturbeherrschung. Während sich Natur-Gesellschafts-Dualismen unter anderem in der in der Wissenschaft noch immer verbreiteten disziplinären Trennung von den Natur- und Gesellschaftswissenschaften ausdrückt (siehe z. B. Becker & Jahn, 2006), drückt sich Naturbeherrschung unter anderem in Vorschlägen aus, Krisen wie die Klimakrise durch Technik (z. B. Geoengineering) zu lösen – Vorschläge, die weder historisch vielversprechend waren, noch zukünftig vielversprechend sind (siehe z. B. McNeill, 2001; K. W. Brand, 2017; Chakrabarty, 2021), da Natur-Gesellschafts-Beziehungen dynamisch und nicht beherrschbar sind (Fischer-Kowalski & Erb, 2016). Zu den Strukturen, die die Gesellschaft-Natur-Perspektive sichtbar macht, zählen ökonomische Logiken und Ordnungsprinzipien, die modernen, kapitalistischen Gesellschaften zugrunde liegen. Dazu gehören Kapitalakkumulation und Wachstumszwang, die beide mit nichtregenerativem Naturverbrauch sowie sozialer Ungleichheit einhergehen (Foster, 1999; McNeill, 2001; Görg, 1999, 2011; Fraser, 2014a; Malm, 2016; Moore, 2017; Yusoff, 2018). Dazu zählen zudem moderne Institutionen, wie (liberale) Staatlichkeit, deren Legitimität vor allem ab dem 20. Jahrhundert, aber auch schon lange davor (Mitchell, 2013; Malm, 2016) wesentlich mit nichtregenerativem Naturverbrauch verbunden ist (siehe auch Brand & Wissen, 2017; Hausknost, 2020; McNeill & Engelke, 2016) sowie mit einem individualistischen Freiheitsverständnis (Blühdorn, 2021), das häufig mit einem Leben auf Kosten anderer einhergeht (Lessenich, 2016; Brand & Wissen, 2017).

Allgemein ist anzumerken, dass gesellschaftliche Strukturen auf Mechanismen fußen, die nicht immer unmittelbar sichtbar sind, aber dennoch konkret wirken und daher vor allem mittelbar beobachtbar sind. Kapitalakkumulation wirkt in diversen Handlungsbereichen und bedingt beispielsweise in der Nahrungsmittelproduktion das Ausblenden von ökologischen, sozialen und tierethischen „Kosten“ in der Produktion [Kap. 5]. Nur so können Lebensmittel kostengünstig – und auch klimaunfreundlich – angeboten werden [Kap. 5]. Günstig zu konsumieren, impliziert zumeist das Auslagern von sozialen und ökologischen „Kosten“ und Konsequenzen auf andere (Kap. 5). Dies macht eine akkumulationsorientierte Wirtschaftsweise zu einer Struktur, die nicht nur spezifisch für Österreich, sondern typisch für moderne, kapitalistische Gesellschaften ist. Dass klimaunfreundliche gesellschaftliche Strukturen über die Grenzen Österreichs hinausgehen, heißt aber nicht, dass sie nur global bearbeitet werden können. Sie können auch innerhalb Österreichs gestaltet werden, z. B. durch Gesetze [Kap. 11]. Allerdings wird es hierbei immer auch zu Auswirkungen außerhalb von Österreich kommen [Kap. 1 zu Emissionsexporten].

Keine der unter der Gesellschaft-Natur-Perspektive aufgegriffenen Theoriestränge geht davon aus, dass sich klimaunfreundliche Strukturen durch koordiniertes Handeln „einfach“ gestalten ließen [siehe Teil 5, Kap. 28]. Im Gegenteil, sie erachten Konflikte – und den produktiven Umgang mit ihnen – als Teil dieser Gestaltung (siehe z. B. Brand, 2017). Die Relevanz der gesellschaftlichen Perspektive für das Gestalten klimafreundlicher Strukturen liegt daher in der Analyse und Beurteilungen von Verhältnissen und angebotenen Lösungen, vor allem mit Hinblick auf deren Implikationen und Reichweite (Becker & Jahn, 2006; Fischer-Kowalski & Erb, 2016; Fraser, 2014a; Görg, 2011; McNeill, 2001; McNeill & Engelke, 2016). Sie hat zudem das Potenzial, die Reflexivität von Akteur_innen zu erhöhen (siehe z. B. Bashkar, 2010), vor allem mit Blick auf tiefliegende Treiber der Klimakrise. Gestaltungsoptionen, die gesellschaftliche Strukturen außer Acht lassen, laufen Gefahr, klimaunfreundliche Strukturen zu stabilisieren und/oder oberflächlich, aber nicht tiefenwirksam mit Blick auf die biophysische Natur sowie mit Blick auf Soziales (z. B. Ungleichheit entlang globaler, aber auch lokaler Klassen-, Geschlechter-, rassifizierter Linien [siehe dazu Teil 5, Kap. 28, 2 und 4]) zu bearbeiten. Sie sensibilisiert auch für eine differenzierte Betrachtung von Akteur_innen des Wandels, wie z. B. den Staat, indem sie aufzeigt, dass der Staat eine Doppelrolle hat: Er stabilisiert klimaunfreundliche Strukturen (Hausknost, 2020; Malm, 2016; Mitchell, 2013; Moore, 2017) (z. B. indem er sich von fossiler Energie abhängig macht und/oder die rechtlichen Rahmenbedingungen für Wirtschaftswachstum schafft (siehe z. B. Mitchell, 2013; Malm, 2016; Moore, 2017; Hausknost, 2020)), kann aber auch Strukturen klimafreundlicher gestalten, um den Ausstieg aus fossilen Energieträgern zu lindern oder Abhängigkeiten von Wirtschaftswachstum und Kapitalakkumulation zu schwächen (siehe z. B. Kreinin & Aigner, 2021).

Klimafreundliches Leben hat aus Sicht der Theorien der Gesellschaft-Natur-Perspektive viele Dimensionen. Es geht darum, der Befriedigung von Grundbedürfnissen innerhalb planetarer Grenzen einen höheren Stellenwert einzuräumen als z. B. der Kapitalakkumulation (siehe z. B. Brand et al., 2021); die Lebensqualität von Wachstum zu entkoppeln (Fuchs et al., 2021; Raworth, 2017); eine Neubewertung von ressourcenextensiverer reproduktiver Arbeit gegenüber der ressourcenintensiven produktiven Arbeit vorzunehmen (siehe z. B. Biesecker & Hofmeister, 2010; Teil 5, Abschn. 28.4); Interdependenzen zwischen Natur und Gesellschaft anzuerkennen und dementsprechend zu handeln (siehe z. B. Foster, 1999; Görg, 1999; Becker & Jahn, 2006; Fischer-Kowalski & Erb, 2016; Teil 5, Abschn. 28.1); der sozialen Ungleichheit in Bezug auf die Verursachung der Klimakrise bzw. die Betroffenheit von der Klimakrise Rechnung zu tragen (siehe z. B. Chakrabarty, 2018) und auf Konflikte vorbereitet zu sein und damit umgehen zu können (Brand, 2017).

In der Gesellschaft-Natur-Perspektive werden Akteur_innen immer im Kontext der jeweiligen Machtverhältnisse und somit ihrer Handlungsfähigkeit betrachtet. Akteur_innen werden nie als nur klimafreundlich oder unfreundlich reflektiert. Eine wesentliche Rolle wird der Wissenschaft zugeschrieben: Sie zeigt Missstände auf und problematisiert diese. Ähnlich wird die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteur_innen (soziale Bewegungen, Verbände, NGOs) und Medien gesehen. Der Begriff „Gesellschaft“ wird im Alltag oft mit Zivilgesellschaft gleichgesetzt, doch die Gesellschaft-Natur-Perspektive beschränkt sich im Kontext dieses Berichts nicht auf die Zivilgesellschaft, sondern bezieht auch öffentliche Institutionen (Regierung, Verwaltung, Legislative) und Parteien ein. Sie sind wichtige Akteur_innen, die aber als Teil des Staatsgefüges zugleich auch zu klimaunfreundlichem Leben beitragen können. Aufgrund von Kapitalakkumulationsdynamiken wird die Möglichkeit von wirtschaftlichen Akteur_innen, klimafreundlich zu agieren, als sehr eingeschränkt wahrgenommen. Sie werden zwar als mächtig, aber zugleich kritisch betrachtet (siehe Teil 5, Abschn. 28.8).

Zu den aus dieser Perspektive notwendigen Veränderungen zählen

  • die Überwindung von Natur-Gesellschafts-Dualismen (siehe z. B. Görg, 1999; Becker & Jahn, 2006; Fischer-Kowalski & Erb, 2016);

  • die Überwindung/Reduktion des Wachstumszwangs und des damit verbundenen hohen Naturverbrauchs und von sozialer Ungleichheit (siehe z. B. Brand et al., 2021; Steffen & Stafford Smith, 2013);

  • die Einbettung von Ökonomie innerhalb ökologischer Grenzen mittels politischer Instrumente (siehe z. B. Fraser, 2014b), die sich mehr an qualitativer Verbesserung der Lebensumstände (Lebensqualität) als an quantitativem Wachstum (BIP) orientieren (siehe z. B. Fuchs et al., 2021; Raworth, 2017);

  • die bessere Verknüpfung von naturwissenschaftlichen mit sozialwissenschaftlichen Debatten (Görg, 1999, 2011; Becker & Jahn, 2006; Fischer-Kowalski & Erb, 2016);

  • die Verabschiedung von der zum Teil noch immer prominenten (westlichen) Vorstellung, dass Natur beherrschbar sei (McNeill & Engelke, 2016; Chakrabarty, 2021);

  • sich auf Konflikte einstellen und damit umgehen (K. W. Brand, 2017) und klimafreundliche Praktiken in konkreten Utopien erproben.

Barrieren für das Schaffen klimafreundlicher Strukturen sind allgemein die Beharrungskräfte von Strukturen, die oft nicht auf den ersten Blick erkennbar sind – die aber v. a. die Gesellschaft-Natur-Perspektive sichtbar macht (mehr als konkrete klimapolitische Maßnahmen). Dazu gehören komplexe Verstrickungen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen: So wird Klimaungerechtigkeit nicht nur von Eliten, sondern weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert und zum Teil auch verteidigt, z. B. in Form von Freiheits- und Selbstbestimmungsrechten, die primär individuell und/oder national verstanden werden (siehe z. B. Blühdorn, 2021); konsumtiver Lebensformen (siehe z. B. Gössling, Kees, & Litman, 2022; Gössling & Schweiggart, 2022); Geschlechterunterschieden (Fraser, 2014a); Nord-Süd-Gefällen oder Rassismus (Di Chiro, 2017; Yusoff, 2018). Auch andere Zielkonflikte sind relevant. Es ist in keiner parlamentarischen Demokratie zwangsläufig gegeben, dass die Bearbeitung einer dringlichen Krise – wie der Klimakrise – Vorrang vor anderen politischen Herausforderungen hat bzw. auf eine Art und Weise bearbeitet wird, die tatsächlich auf ein gutes Leben für alle – also auf einen inklusiven und nicht exklusiven Zielhorizont – abzielt (siehe Teil 5, Kap. 28). Andererseits sind auch die positiven Seiten der gegenwärtigen Verhältnisse zu nennen. Dazu zählt, dass die Industrialisierung und der damit verbundene hohe Naturverbrauch vielen Menschen ein besseres Leben unter anderem durch Einkommenszuwächse und öffentliche Daseinsvorsorge ermöglichte (McNeill, 2001, K. W. Brand, 2017). Allerdings geschah dies auf Kosten anderer (Brand & Wissen, 2017; Lessenich, 2016). Dies schürt – vor dem Hintergrund der Klimakrise und damit verbundener als notwendig diskutierter gesellschaftlicher Veränderungen – Verlust- und Abstiegsängste (Nachtwey, 2018), besonders vor dem Hintergrund möglicher Einkommensverluste oder eines Rückbaus öffentlich finanzierter Daseinsvorsorge (Gesundheit, Bildung, Pensionen). Dies zeigt wiederum die Doppelrolle staatlicher Institutionen, die zum einen dazu aufgerufen werden, klimafreundliches Leben zu ermöglichen, gleichzeitig aber auch Treiber der Nicht-Nachhaltigkeit sind (Blühdorn et al., 2020).

Gesellschaftlicher Wandel findet laufend statt, kann aber – so eine Grundannahme der Gesellschaft-Natur-Perspektive – auch gestaltet werden, indem klimaunfreundliche Strukturen geschwächt und klimafreundliche Strukturen gestärkt werden. Wissensproduktion, Medialisierung, Problematisierung und Protest, Ökotopien, aber auch Gesetze sind zentrale Bestandteile von klimapolitischen Maßnahmen, rufen aber oft starken Widerstand hervor (K. W. Brand, 2017). Das Interesse am Festhalten sowie Verteidigen des Status quo ist groß (Blühdorn et al., 2020).

Wichtige Theorien des Wandels, die sich an dieser Perspektive orientieren und in Teil 5 genauer dargestellt werden, sind: der Sozialen und Politischen Ökologie, den Debatten um Anthropozän und planetare Grenzen; intersektionalen Gerechtigkeitsdebatten; Polanyischen Transformationstheorien; Staatstheorien; der politischen Ökonomie des Wachstumszwangs, Postwachstum und Degrowth und „cultural theory“ (siehe Teil 5, Kap. 28).

2.3 Perspektivistische Herangehensweise zur Analyse und Gestaltung von Strukturen

Dieser Bericht setzt auf Perspektivismus, um aktuelle Herausforderungen in ihrer Diversität bezüglich der Problemdiagnosen von klimaunfreundlichen Strukturen sowie Zielhorizonten und Gestaltungsoptionen von Transformationspfaden zu berücksichtigen. Wir anerkennen damit, dass Erkenntnis immer abhängig von Bezugssystemen (wie z. B. Marktlogiken, Innovationsdiskursen, gesellschaftstheoretischen Diskursen) ist (Giere, 2006; Sass, 2019). Die vier vorgestellten Perspektiven stellen eine erste Bestandsaufnahme von „Theorien des Wandels“ dar. Sie werden in den folgenden Kapiteln in der Analyse von Handlungsfeldern und der Gestaltung von Strukturen aufgegriffen. Perspektivismus eröffnet einen differenzierten Blick auf klimaunfreundliche sowie klimafreundliche Strukturen. Er macht unterschiedliche, zum Teil konfligierende Problemdiagnosen, Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen sichtbar. Er ermöglicht dort, wo Annahmen, Wertvorstellungen und Methoden einander ausschließen, zwischen Perspektiven abzuwägen, um bestimmte Strukturen sowie Gestaltungsmöglichkeiten in den Vordergrund zu rücken und andere hintanzustellen. Perspektivismus im Kontext dieses Berichts suggeriert nicht, dass alle Perspektiven – ihre Problemdiagnosen, Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen – gleichermaßen überzeugend bzw. tiefenwirksam zum Verständnis von Strukturveränderungen beitragen. Er lädt eher dazu ein, die „Kunst des Abwägens“ zu üben (Novy et al., 2020), da er erlaubt, zwischen Optionen abzuwägen und deren jeweilige Implikationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu reflektieren. Er eröffnet zudem Einsichten in einander potenziell ergänzende, aber auch inkompatible Verständnisse von und Zugänge zu klimafreundlichem Leben. Entscheider_innen erlaubt Multiperspektivität, Gestaltungsmöglichkeiten abzuwägen und Prioritäten zu setzen.

Jede der vier Perspektiven hat Stärken und Schwächen. Diese gilt es zu erkennen und zu benennen. Alle vier Perspektiven thematisieren Strukturen. Eine Stärke der Marktperspektive ist, dass sie aufgrund der Prominenz von Marktlogiken gesellschaftlich besonders anschlussfähig ist. Eine ihrer Schwächen ist ihr Vertrauen in individuelles Handeln sowie in Bepreisung. Aus einer Bereitstellungs- und Gesellschaft-Natur-Perspektive ist hingegen sowohl der Fokus auf das Individuum als auch der Fokus auf Marktlogiken eher Treiber der Klimakrise als deren Lösung (Pirgmaier & Steinberger, 2019).

Auch die Innovationsperspektive ist gesellschaftlich anschlussfähig. Eine der Stärken der in diesem Sachstandsbericht vorgestellten Innovationsperspektive ist, dass sie den Innovationsbegriff weder rein technologisch noch primär marktorientiert versteht, sondern Innovationen immer an ihrem sozialökologischen Mehrwert misst. Eine ihrer Schwachstellen ist, dass sie wenig klare Ansagen darüber macht, von wem und wie Entscheidungen über den Erfolg oder Misserfolg von Innovationen getroffen werden. Dass Letzteres immer (auch) ein politischer Prozess ist, wird in dieser Perspektive nur bedingt berücksichtigt.

Die Bereitstellungsperspektive rückt das Schaffen von klimafreundlichen sozial-ökologischen Bereitstellungssystemen, Lebensformen und Infrastrukturen in den Vordergrund, die den Rahmen für Wahlentscheidungen dauerhaft verändern und somit nachhaltigere Praktiken und Gewohnheiten fördern. Weniger auf individuelle Wahlentscheidungen zu setzen als auf Infrastrukturen, die zu sozial-ökologischeren Wahlentscheidungen führen (und damit Konsument_innen entlasten), ist klimapolitisch vielversprechend. Diese Perspektive weist zwei Schwächen auf: Erstens die bis vor kurzem fehlenden empirischen Arbeiten, die Soziales und Ökologisches, Versorgung und Klimarisiken integriert analysieren. Zweitens die offene Frage, wie demokratische Mehrheiten für klimafreundliche und gerechte Bereitstellung möglich werden.

Die Gesellschaft-Natur-Perspektive bietet die Möglichkeit, historisch entstandene, für die westliche Moderne typische ökonomische, technologische, kulturelle und soziale Strukturen zu identifizieren, die Natur-Gesellschafts-Beziehungen ausmachen, liefert aber weniger unmittelbar umsetzbare Gestaltungsoptionen.

Basierend auf dem durch eine perspektivische Herangehensweise gewonnenen „verbesserten Sehen“ (das heißt einem besseren Verständnis der Klimakrise) gelangt man zu einem verbesserten transformativen Wissen für ein „wirksameres Tun“. Dieses Tun umfasst die Problematisierung, Transformation und Abschaffung klimaschädlicher Strukturen ebenso wie die Schaffung und Stärkung klimafreundlicher Strukturen (siehe Kap. 1). Die Gestaltung von Strukturen klimafreundlichen Lebens erfordert vor allem, Grundsatzentscheidungen zu treffen, die der Dringlichkeit der Klimakrise gerecht werden, wobei Grundsatzentscheidungen immer mit Konflikten verbunden sind – aufgrund unterschiedlicher Problemdiagnosen, Zielhorizonte und Transformationswege, aber auch aufgrund unterschiedlicher Interessen und Machtverhältnisse. Gestalten kann sowohl durch inkrementelle als auch grundlegende Veränderungen erfolgen. Beide Veränderungstypen ergänzen sich, wenn das Machbare (dies der Fokus der Markt-, Innovations- und Bereitstellungsperspektive) nicht vom Grundlegenden (dem Fokus der Gesellschaft-Natur-Perspektive) entkoppelt wird, das heißt kleine Veränderungsschritte zu einer grundlegenden Veränderung des Gesamtsystems beitragen. Wenn angesichts des vom IPCC konstatierten kurzen Zeitfensters für grundlegende Weichenstellungen in den kommenden Jahren eine „Zeit der Entscheidung“ (Hausknost, 2021) angebrochen ist, dann muss klimaschädliche durch klimafreundliche Pfadabhängigkeiten ersetzt werden, um klimafreundliches Leben zu erleichtern (z. B. Rück- bzw. Umbau von klimaschädlichen Infrastrukturen und Ausbau sozial-ökologischer Infrastrukturen).

Der in diesem Bericht angewandte multiperspektivische Zugang soll nicht nur zu einer verbesserten Problemanalyse beitragen und einen breiteren Mix an möglichen Instrumenten anbieten als gemeinhin üblich. Multiperspektivität ist nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Gesellschaft unumgänglich. Denn sie trägt dem Umstand Rechnung, dass Gruppen und Milieus in pluralistischen Gesellschaften ein unterschiedliches Verständnis darüber haben, wie mit der Klimakrise umzugehen ist. Die jeweiligen Weltbilder und Denkstile unterscheiden sich und sind zum Teil inkompatibel. Deshalb braucht es in demokratischen Gesellschaften eine Bereitschaft für beides: Toleranz für Konflikte und Bereitschaft zu Kompromissen. Multiperspektivität kann hierbei zweierlei beitragen. Zum einen kann sie tiefliegende Unvereinbarkeiten im Zugang zu Klimakrise, zu Gesellschaft und Natur offenlegen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven ergeben. Zum anderen kann sie Potenziale identifizieren, wie mehrere Perspektiven nicht mittels „kleinsten gemeinsamen Nenners“ befriedet, sondern durch Strategien eines „Sowohl-als-auch“ bereichert werden können.

Tab. 2.1 Überblick über zentrale Dimensionen der Perspektiven zur Analyse und Gestaltung von Strukturen. (Quelle: Eigene Darstellung)