Zusammenfassung
Teil 2 gibt einen umfassenden Überblick über alle Lebensbereiche, indem die Klimaauswirkungen verschiedener Handlungsfelder analysiert werden. Kapitel 3 bietet einen Überblick über diese Handlungsfelder und ihre Verflechtungen. Untersucht werden die Klimawirkungen in den Bereichen Wohnen, Mobilität und Ernährung sowie für die Handlungsfelder Erwerbsarbeit, Versorgung, Betreuungs- und Pflegearbeit und die frei verfügbare Zeit für Erholung und soziale Aktivitäten. Um die in Paris beschlossenen Klimaziele zu erreichen, sind Veränderungen im Alltag der Menschen und in ihrem täglichen Verhalten notwendig. Diese Veränderungen können nicht primär durch Appelle an die Eigenverantwortung ausgelöst werden. Vielmehr bedarf es geeigneter Strukturen wie Regulierung, steuerliche Anreize, infrastrukturelle Veränderungen und Verbote sowie Zeit, um Aktivitäten mit hohen Emissionen zu begrenzen bzw. solche mit geringen Emissionen zu erhöhen. Klimafreundliche Strukturen sind notwendig, um klimafreundliches Handeln leichter in den Alltag zu integrieren und eine attraktive Alternative zu bestehenden, nicht nachhaltigen Praktiken zu bieten.
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Barbara Smetschka, Johanna Hofbauer, Marianne Penker, Andrea Jany und Harald Frey.
FormalPara Leitautor_inDominik Wiedenhofer
FormalPara Beitragende_r Autor_inMax Callaghan
FormalPara RevieweditorRoger Keil
FormalPara ZitierhinweisSmetschka, B., J. Hofbauer, M. Penker, A. Jany, H. Frey und D. Wiedenhofer (2023): Überblick Handlungsfelder. In: APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben (APCC SR Klimafreundliches Leben) [Görg, C., V. Madner, A. Muhar, A. Novy, A. Posch, K. W. Steininger und E. Aigner (Hrsg.)]. Springer Spektrum: Berlin/Heidelberg.
FormalPara Kernaussagen des KapitelsStatus quo und notwendige Veränderungen
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Um die Klimaziele zu erreichen, müssen Veränderungen im Alltag der Menschen und in ihrem täglichen Handeln und Verhalten stattfinden. Diese Veränderungen können nicht nur durch Appelle an die individuelle Verantwortung angestoßen werden, das zeigt die Erfahrung der Vergangenheit. Regulierung, steuerliche Anreize, infrastrukturelle Veränderungen und Verbote können Aktivitäten mit hohen Emissionen einschränken bzw. solche mit niedrigen Emissionen verstärken. Nur wenn adäquate Strukturbedingungen geschaffen werden, kann klimafreundliches Handeln leicht in den Alltag integriert werden und eine attraktive Option gegenüber der bisherigen Praxis bilden. (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis)
Strukturen/Kräfte/Barrieren
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Gegenwärtig existieren Strukturbedingungen, die Menschen auf unterschiedlichen Ebenen daran hindern, im Einklang mit den klimapolitischen Zielen zu leben. Daher genügt es nicht, einzelne Barrieren zu beseitigen. Nur die Beachtung des Zusammenspiels von hemmenden Faktoren ermöglicht einen entsprechend breiten Eingriff in die strukturellen Zusammenhänge innerhalb der Handlungsfelder. (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis)
Gestaltungsoptionen und Handlungsfelder
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Entscheidend ist weiter die Abstimmung von Maßnahmen zwischen den Handlungsfeldern, d. h. es bedarf eines integrativen und systemisch konzipierten Vorgehens. Widersprüchliche Maßnahmen, die Konflikte oder Nachteile in einem oder mehreren Handlungsfeldern schaffen, gefährden das Erreichen klimapolitischer Ziele. So genügt es beispielsweise nicht, lediglich die räumliche Infrastruktur zu verbessern. Um den Umstieg vom Individualverkehr auf den öffentlichen Verkehr zu erleichtern, müssen z. B. die räumliche Verteilung der Mobilitätsziele und die Zeitökonomie im Alltag und verschiedener Mobilitätsmodi berücksichtigt werden. (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis)
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Verschiedene Bevölkerungsgruppen (nach Geschlecht, Alter, Einkommen) sind vom Klimawandel unterschiedlich betroffen und tragen in unterschiedlichem Ausmaß durch ihre Tätigkeiten mit Treibhausgasemissionen zum Klimawandel bei. Ein gutes Leben für alle kann nur ermöglicht werden, wenn Maßnahmen zur Minimierung von Ungleichheiten ergriffen werden. Die Neugestaltung der Zeitstrukturen der Handlungsfelder im Hinblick auf eine gerechte Teilhabe aller am gesellschaftlichen Leben ist eine zentrale politische Herausforderung. (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis)
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Gutes Leben mit hoher Lebensqualität und weniger Ressourcenbedarf zu erreichen, ist in allen Handlungsfeldern Teil der Gestaltungsoptionen. Die unterschiedlichen Wege dahin setzen daher beispielsweise bei Konzepten von Nutzen statt Besitzen oder Reparieren statt Wegwerfen an und stellen das Teilen von Services anstelle von Anhäufen von Material und Abfällen in den Vordergrund. (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis)
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Das Bewusstsein der Bevölkerung für die Notwendigkeit umfassender klimapolitischer Maßnahmen steigt. Eine aktive öffentliche Debatte, zivilgesellschaftliche Bewegungen sowie Aufklärungs- und Bildungsarbeit bilden die Grundlage einer demokratischen Öffentlichkeit, und damit die Voraussetzung für das Ziel einer klimagerechten Transformation. Es ist davon auszugehen, dass Klimapolitik ein Anliegen mit hoher Zustimmung ist und dass man einen Großteil der Bevölkerung für klimapolitische Transformationen gewinnen kann. Für eine hohe Akzeptanz und positive Klimawirkung ist daher entscheidend, dass diese Transformationen keine neuen Ungleichheiten schaffen bzw. dass Nachteile und Verluste für manche Teile der Bevölkerung sozial(politisch) entsprechend ausgeglichen werden. (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis)
3.1 Einleitung
In diesem Überblick zu den Handlungsfeldern skizzieren wir übergreifende Kernaussagen der folgenden Kapitel (Kap. 4 bis 9). Der hier vorangestellte Überblick beschreibt die Klimarelevanz der Handlungsfelder aus konsumbasierter- sowie alltäglicher Zeitverwendungs-Perspektive. Diese Darstellungen erlauben eine erste, datenbasierte und systemische Betrachtung quer über alle Handlungsfelder hinweg. Die Strukturbedingungen und die für die jeweiligen Handlungsfelder relevanten institutionellen Zusammenhänge werden dann in den Kapiteln selbst besprochen. Danach begründen wir die Auswahl der Handlungsfelder. Hier werden auch Zusammenhänge und Interaktionen zwischen den Handlungsfeldern exemplarisch dargestellt. Darüber hinaus stellen wir die theoretische Breite dar, die ein differenziertes Assessment der Forschungslage ermöglicht. Dazu gehört eine Darstellung des Spektrums politischer Entscheidungsebenen, auf denen Strukturbedingungen für klimafreundliches Handeln definiert werden.
3.2 Klimarelevanz der Handlungsfelder
In der sozialwissenschaftlichen Klimaforschung stehen meist Mobilität, Wohnen und Ernährung im Zentrum als wichtige und gut analysierte Bereiche, wo das Zusammenspiel aus Handlung(en) und Struktur(en) jeweils hoch relevant ist (Creutzig et al., 2021). Eine weitere Betrachtung fokussiert auf die raumrelevanten Daseinsgrundfunktionen der Menschen in der Funktionsgesellschaft (Maier, 1977; Partzsch, 1970). Diese sind in sieben (Grund-)Bedürfnisse bzw. Daseinsgrundfunktionen strukturiert: „Wohnen“, „Arbeiten“, „Sich-Versorgen“, „Sich-Bilden“, „Sich-Erholen“, „Verkehrsteilnahme“ und „In-Gemeinschaft-Leben“. Die funktionale Zeitverwendungsperspektive (Ringhofer & Fischer-Kowalski, 2016) ermöglicht es, alle Bereiche des alltäglichen Lebens über die gesamte Zeitspanne eines Lebens (Kinderversorgung bis Altenbetreuung) zu erfassen und erlaubt damit einen noch umfassenderen Blick.
In Teil 2 betrachten wir die Bewertung der Klimawirkungen von Gütern und Dienstleistungen des alltäglichen Lebens nach sechs Handlungsfeldern und analysieren Wohnen, Ernährung, Mobilität, Erwerbsarbeit, Sorgearbeit und Freizeit (Tab. 3.2). Hier erläutern wir die Klimaauswirkungen und notwendige Änderungen von Strukturbedingungen mit möglichen Gestaltungsoptionen je Handlungsfeld. Individualistische und rationalistische Theorien des Handelns fokussieren auf das autonome und stetig abwägende Individuum. Dabei werden die dahinterliegenden, individuell nicht oder kaum gestaltbaren Strukturen weitgehend ausgeblendet. Es gibt eine wachsende Zahl von Arbeiten, die die Rolle von Gewohnheiten und die hohe Relevanz des sozialen und infrastrukturellen Kontexts ins Zentrum stellen. Dabei wird skizziert, welche Änderungen von Praktiken für ein klimafreundlicheres Leben anzudenken sind (zu Praxistheorie und nachhaltiger Entwicklung z. B. (Ropke, 2015) [Kap. 2 Perspektiven]). Praktiken sind mehr als tägliche Routinen, sie sind geprägt von der Kompetenz (Können; z. B.: Wie leihe ich ein Buch aus?), der Möglichkeit (vorhandene Struktur, z. B. öffentliche Bibliothek, leistbar und erreichbar) und der Zeit, sie auszuführen (Zeitwohlstand, Zeitsouveränität). Die vorhandenen und zu ändernden Strukturen werden in den Kapiteln je Handlungsfeld erläutert und in Teil 3 je Struktur mit Blick auf Möglichkeiten der Änderung analysiert.
Tab. 3.1 zeigt alle direkten und indirekten Treibhausgasemissionen, welche entlang globaler Produktions- und Lieferketten entstehen, also den sogenannten CO2e-Fußabdruck der österreichischen Haushalte für die einzelnen Konsumbereiche. Nationale Treibhausgasemissionen in Österreich nach direkten Verursachern werden jährlich vom Umweltbundesamt ermittelt (UBA, 2020), erlauben jedoch keine direkte Zuordnung zu Endverbraucher_innen. Dafür benötigt man die Modellierung des sogenannten Fußabdrucks, welcher nicht nur nationale Emissionen nach direkten Verursachern beschreibt, sondern auch die globalen Emissionen erfasst, welche direkt und indirekt durch Konsum und Aktivitäten entstehen.
Wir versuchen, mit den Handlungsfeldern in diesem Teil eine umfassende Perspektive auf alle Lebensbereiche zu eröffnen, und zeigen daher neben Wohnen, Mobilität und Ernährung auch die Handlungsfelder der bezahlten Erwerbsarbeit, der Versorgung, Betreuung und Pflege der eigenen Person, von Familie und Haushalt sowie der freien Zeit, die für individuelle Erholung und gesellschaftliche Aktivitäten genutzt werden kann. Aus der Perspektive der funktionalen Zeitverwendung werden Tätigkeiten und der damit verbundene Energie- und Materialbedarf von Gütern und Dienstleistungen den Bereichen der Produktion und Reproduktion folgender Systeme zugerechnet: Person, Haushalt, Ökonomie und Gesellschaft (siehe Tab. 3.2).
Dieses Erfassungssystem ermöglicht es, in einem ersten Schritt die durchschnittliche Emissionsintensität von Aktivitäten pro Stunde, für einen durchschnittlichen Tag und für die durchschnittliche Frau bzw. den durchschnittlichen Mann in Österreich zu untersuchen (Smetschka et al., 2019). Wir stellen fest, dass die persönliche Zeit relativ kohlenstoffarm ist, während sowohl Haushalts- als auch Freizeitaktivitäten große Unterschiede in Bezug auf den CO2e-Fußabdruck/Stunde aufweisen (Tab. 3.2, sowie Abb. 1.6, Kap. 1 Einleitung). Die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung prägt die Zeitnutzungsmuster von Frauen und Männern, was sich auf ihre CO2e-Fußabdrücke auswirkt. Da in einer konsumbasierten „Fußabdruck-Perspektive“ alle direkten und indirekten Emissionen dem Endkonsum zugewiesen werden, weist Erwerbsarbeit keine Emissionen auf, da diese Teil der Produktion und Lieferketten des Endkonsums sind. In einer produktionsbasierten Perspektive würde man beispielsweise den Großteil der Emissionen als durch Erwerbsarbeit entstehend klassifizieren und den Haushalten selbst nur noch Emissionen aus der direkten Nutzung von Energieträgern, z. B. Benzin und Gas, zuweisen.
In einem systematischen Review wurden die internationalen Emissionsvermeidungs- und verringerungspotenziale von 60 Konsumoptionen aus Primärstudien und mehreren Reviews aus unterschiedlichen Ländern zusammengefasst (Ivanova et al., 2020). Alle Optionen beinhalten sowohl direkte als auch indirekte Emissionen in der Produktion und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen („Fußabdruck“). Da die konkreten Vermeidungspotenziale immer auch von den lokalen bis nationalen Rahmenbedingungen geprägt sind sowie davon, wie die Ausgangssituation angenommen wurde, ergeben sich erstens eine Reihung von 60 Optionen nach Potenzialen sowie zweitens Bandbreiten an Vermeidungspotenzialen (Abb. 3.1). Diese Ergebnisse berücksichtigen keine potenziellen Rebound-Effekte und Problemverlagerungen in andere Bereiche, wie z. B. mehr Lieferdienste bei einem Umstieg auf ein autofreies Leben oder gespartes Geld durch Energieeffizienzmaßnahmen im Wohnen und im Haushalt, welches in zusätzliche Anschaffungen und neue Aktivitäten verlagert wird. Ebenfalls ausgeklammert bleiben systemische Rückkoppelungen und strukturelle Veränderungen in der globalen Wirtschaft, welche bei breit angelegten bzw. umgesetzten Umstellungen zu erwarten wären. Die Beschreibung der Bandbreiten von Emissionsreduktionspotenzialen liefern wichtige Einblicke dazu, welche Optionen beispielsweise auch negative Auswirkungen haben könnten (wenn z. B. ein Haushalt ein Elektroauto anschafft, das mit Kohlestrom betankt wird, und jener Haushalt nun mehr Auto fährt, weil Elektroautos „grüne“ Technologie zu sein scheinen) oder wo substanzielle Einsparungen gewisser Optionen nicht so klar gegeben sind, weil beispielsweise die Klimaeffizienz der Bereitstellungen stark variieren kann.
Es zeigt sich, dass einige wenige Optionen im Bereich Mobilität, Ernährung und Wohnen sehr hohe bis mittlere Potenziale haben (Abb. 3.1). Klassisches „umweltfreundliches Verhalten“, wie beispielsweise Mülltrennung, weniger Papierverbrauch oder optimierte Nutzung von Haushaltsendgeräten, zeigen eher geringe Vermeidungspotenziale, wenn man sie etwa mit der Nutzung selbst produzierten Öko-Stroms oder dem Verzicht auf Haustiere vergleicht.
Die Mobilität weist das größte Potenzial für Emissionsreduktionen auf. Insgesamt belegt Platz eins ein autofreies Leben, gefolgt vom Wechsel zu Elektromobilität und von der Vermeidung von Langstreckenflügen. Sowohl Automobilität als auch Flugreisen steigen stark mit einem höheren Einkommen, daher sind diese Optionen besonders wichtig in einem reichen Land wie Österreich. Im Bereich der Ernährung zeigen sich klar die Vorteile von veganer bis vegetarischer Ernährung bzw. einer sehr starken Reduktion des Fleischkonsums. Im Bereich Wohnen zeigen Investitionen in den Ausbau erneuerbarer Energien das größte Potenzial, gefolgt von der Renovierung und Sanierung von Wohngebäuden, wo wiederum Rahmenbedingungen und Standards entscheidend sind.
Das Review betont auch ganz klar, dass für Konsumoptionen mit hohem Vermeidungspotenzial strukturelle Maßnahmen notwendig sind und infrastrukturelle, institutionelle und verhaltensbezogene Barrieren beseitigt werden müssen, damit die Realisierung der Vermeidungspotenziale strukturell ermöglicht und bevorzugt wird (Ivanova et al., 2020).
Exkurs zu den Herausforderungen der Bewertung von Klimafreundlichkeit
In der Bewertung und Interpretation der Klimafreundlichkeit von Handlungs- und Konsumoptionen sind eine Reihe von Herausforderungen zu beachten, die sich dadurch ergeben, dass ein Großteil des Energie- und Ressourcenverbrauchs und somit der klimaschädlichen Emissionen indirekt in der Produktion und bei der Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen anfällt [QV Abschn. 1.3] (Ivanova et al., 2017; Steininger et al., 2018). Dies macht die notwendige komparative Bewertung von Alternativen methodisch äußerst komplex und hat zu einer Ausdifferenzierung verschiedener Methoden und wissenschaftlicher Communities geführt (Guinée et al., 2011; Heinonen et al., 2020; Ivanova et al., 2020; Matuštík & Kočí, 2021). Die wissenschaftliche Bewertung der Klimafreundlichkeit konkreter Optionen und vor allem der systemischen Konsequenzen transformativer Interventionen ist schwierig, da diese Frage mehrere Forschungsfelder betrifft und eine Vielzahl interdisziplinärer Forschungslücken und blinder Flecken etablierter Ansätze sichtbar werden (Asefi-Najafabady et al., 2021; Creutzig et al., 2021; Keen, 2021; Pauliuk et al., 2017).
Grundsätzlich zu beachten sind folgende potenziell kritische Aspekte:
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1.
Man benötigt vollständige Informationen über die global entstehenden Emissionen verschiedener Treibhausgase nach Wirtschaftsbereichen und Produktkategorien (siehe Abschn. 1.3). Dies ist umso herausfordernder, je detaillierter diese Informationen, z. B. zur Bewertung spezifischer Handlungsmöglichkeiten oder Sachgüter und Dienstleistungen, benötigt werden (Lamb et al., 2021; Wiedmann & Lenzen, 2018). Das gilt besonders für hochverarbeitete Produkte (z. B. IKT) und alle biomassebasierten Produkte (z. B. Ernährung, Bekleidung, Möbel, Bio-Energie) aufgrund der Komplexität der Emissionen aus der Landnutzung (Bhan et al., 2021; Court & Sorrell, 2020; Heinonen et al., 2020; Wiedmann & Lenzen, 2018). Es gibt zwar eine lange Tradition an Studien, die dazu die Methode der Lebenszyklusanalyse nutzen, jedoch gibt es hier eine Vielzahl ungelöster methodischer Probleme und unterschiedliche konkrete Umsetzungen, welche eine direkte Vergleichbarkeit der Ergebnisse stark einschränkt, unter anderem was Aussagen zu den systemischen Konsequenzen von Handlungen und Maßnahmen betrifft (Hertwich, 2005; Majeau-Bettez et al., 2011; Reap et al., 2008).
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2.
Die eindeutige Abgrenzung und Zuweisung einzelner Aktivitäten und ihrer jeweiligen Alternativen sowie des direkten und indirekten Konsums und der involvierten Produktions- und Lieferketten ist methodisch schwierig und nicht immer eindeutig und doppelzählungsfrei möglich, speziell wenn ein hoher Detailgrad gefragt ist (Heinonen et al., 2020; Wiedmann & Lenzen, 2018).
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3.
Die Verknüpfung von Emissionen des Infrastrukturausbaus, des Staats und von unternehmerischen Investitionen ist komplex, da deren Nutzung über Jahre bzw. Jahrzehnte erfolgt, was in den meisten Studien entweder komplett exkludiert oder sehr unterschiedlich implementiert wird (Chen et al., 2020).
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4.
Die Bewertung der Klimafreundlichkeit von transformativen, strukturellen Veränderungen benötigt die dynamische Modellierungen global vernetzter Volkswirtschaften – ein Forschungsbereich, der hoch komplex ist und intensiv kontroversiell wissenschaftlich diskutiert wird (Asefi-Najafabady et al., 2021; Earles & Halog, 2011; Keen, 2021; Pauliuk et al., 2017; Plevin et al., 2014).
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5.
Einsparungen von Zeit und/oder Geld durch alternative Handlungsoptionen führen oft zu Rebound-Effekten („Jevons Paradoxon“): Wird eingespartes Geld oder Zeit emissionsintensiv verwendet, führt das zu einer direkten oder indirekten Problemverlagerung sowie zu geringeren Emissionseinsparungen als erwartet. Solche Rebound-Effekte sind bei groß angelegten strukturellen Maßnahmen zu bedenken (Earles & Halog, 2011; Gillingham et al., 2016; Sorrell et al., 2020).
3.3 Systemische und Alltagsbetrachtung
Der Bericht ist entlang von Handlungsfeldern und damit entlang zentraler alltäglicher Bedürfnisse heutiger und zukünftiger Generationen strukturiert: Wohnen, Ernährung, Mobilität, bezahlte Arbeit, unbezahlte Arbeit und Freizeit (Mogalle, 2000). Mit Fokus auf Österreich soll der Stand des Wissens systemisch dargestellt werden, um der Komplexität des Alltagslebens gerecht zu werden.
Wir greifen Literatur auf, die vermeintliche Gegensätze – wie Handeln und Strukturen, Produktion und Konsum, Arbeit und Freizeit, Natur und Technik, Stadt und Land, Umwelt und Gesellschaft – in ihrer gegenseitigen Bedingtheit betrachtet. Damit nehmen wir eine kritische Distanz zu dichotomen Denkfiguren in der Wissenschaft, im Alltag und in der öffentlichen Diskussion ein. Oft ist ein Begriff gar nicht ohne die Abgrenzung vom Gegenbegriff denkbar – wie etwa bei der zeitlichen Abgrenzung von Arbeit und Freizeit oder einer räumlichen Abgrenzung zwischen Stadt und Land.
Die systemische Betrachtung verdeutlicht, dass vermeintliche Gegensätze zwar durchaus wirkmächtig sein können, aber dennoch nur gedankliche Differenzierungen sind und die Realität nur im Ganzen zu verstehen ist. Entlang der Handlungsfelder können wir die Literatur zur kollektiven und individuellen Handlungsebene und zu unterschiedlichen theoretischen Perspektiven [Kap. 2: Perspektiven] verknüpfen, aber auch bezüglich der unterschiedlichen Akteursgruppen, Technologiebereiche, Barrieren und Handlungsoptionen nachvollziehbar strukturieren.
Die Handlungsfelder liegen quer zu Disziplinen und damit auch zu den üblichen Grenzen des wissenschaftlichen Denkens und Zuordnens. Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften werden daher im Folgenden mit natur-, human-, technik- und kulturwissenschaftlichen Ergebnissen zusammengeführt. Orientierung am Alltag heißt auch, dass die Beiträge im vorliegenden Bericht auch ohne fachspezifisches Vorwissen verständlich sein sollen, aber zugleich viele Verweise auf einschlägige Fachdiskussionen und entsprechende Literatur bieten.
3.4 Auswahl und Grenzziehung zwischen den Handlungsfeldern
Die Konzeption dieses Berichts sieht eine Gliederung von Handlungsfeldern in insgesamt sechs Kapitel vor. Das ermöglicht einen Fokus auf die üblichen Bereiche klimapolitischer Expertise [Kap. 4 Wohnen, Kap. 5 Ernährung und Kap. 6 Mobilität] und auf darüberhinausgehende Handlungsfelder des täglichen Lebens [Kap. 7 bezahlte Arbeit/Erwerbsarbeit, Kap. 8 unbezahlte Arbeit/Sorgearbeit und Kap. 9 Freizeit].
In der Darstellung eines österreichischen Durchschnittstags (AT 2010, Durchschnittsösterreicher_in) sehen wir alle alltäglichen Aktivitäten in ihrem zeitlichen Ausmaß (Stunden) (Smetschka et al., 2019) (Abb. 3.2). Im Innenkreis werden die Bereiche der funktionalen Zeitverwendung dargestellt, unterschieden nach persönlicher, gebundener, vertraglich vereinbarter und freier Zeit. Im äußeren Kreis sind die einzelnen Tätigkeiten aus Zeitverwendungsstudien zu sehen. Die orangen Kästchen zeigen die Handlungsfelder, die in diesem Teil beschrieben werden, und ordnen sie den alltäglichen Tätigkeiten zu.
Trotz getrennter Darstellung und Einschätzung dieser Felder sind die Handlungsfelder sowohl systemisch als auch im Alltagshandeln zum Teil eng miteinander verschränkt. Daher ist auch die Teilung des Handlungsfelds „Arbeiten“ in die Kapitel „Erwerbsarbeit/bezahlte Arbeit“ und „Sorgearbeit/unbezahlte Arbeit“ nicht als kategorische Trennung zu verstehen. Vielmehr gehen wir davon aus, dass die Bedingungen der Erwerbsarbeit einen wesentlichen Teil der Bedingungen definieren, die unbezahlte Sorge- und Hausarbeit strukturieren. Umgekehrt schafft die private Sorge- und Hausarbeit eine zentrale Voraussetzung für Arbeitsprozesse im Erwerbsarbeitsleben. Im sechsten Handlungsfeld werden jene Tätigkeiten analysiert, die als freie Zeit gestaltet werden und Freizeit, Urlaub und weiteren Konsum umfassen.
Das Handlungsfeld Ernährung ist ganz offensichtlich eng mit dem Handlungsfeld Sorge- und Hausarbeit verbunden und Praktiken des Lebensmitteleinkaufs orientieren sich an den zeitlichen Strukturen der Erwerbsarbeit (Backhaus et al., 2015). Ähnliche bedeutsame Interaktionen bestehen beim Thema Wohnen und Mobilität [Kap. 4: Wohnen; Kap. 6: Mobilität]. Das übergeordnete Ziel der Entwicklung von klimafreundlichen Wohn-, Mobilitäts-, Versorgungs- und Arbeitsmodellen für alle Bevölkerungsgruppen, die neben einer Sicherung der Daseinsvorsorge und der Sicherung einer resilienten Versorgung auf einen geringen CO2e-Fußabdruck zielen, wird durch klimafreundliche Wohnstrukturen maßgeblich unterstützt. Wir gehen davon aus, dass raumordnungsbezogene Strukturen und deren Verhältnis zueinander, deren räumliche Dichte, funktionelle Ausgestaltung und Ausprägung in Form von Wohnen, maßgeblich die Bedingungen für Alltagsmobilität bestimmen. Diese räumlichen Strukturen wirken ebenso auf die private Sorge- und Hausarbeit wie das Erwerbsarbeitsleben durch die Ressource Zeit.
Um die Interaktionen zwischen den Handlungsfeldern im Text deutlich zu machen, fügen wir jeweils entsprechende Querverweise zu anderen Kapiteln ein.
3.5 Theoretische Pluralität und Auswahl der Literatur zu den Handlungsfeldern
Jedes Kapitel zu den Handlungsfeldern präsentiert den in der Literatur dokumentierten Stand des Wissens, wobei der Fokus auf Literatur mit Österreichbezug bzw. auf Erkenntnisse gelegt wird, die sich auf den österreichischen Kontext übertragen lassen. Die Darstellung der Literatur orientiert sich an den berichtsleitenden Fragen und erfolgt in drei Subkapiteln:
- 1.:
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Status quo und Klimaherausforderungen (berichtsbegleitende Fragen 1 und 2)
- 2.:
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Barrieren (berichtsbegleitende Frage 3)
- 3.:
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Handlungsoptionen (berichtsbegleitende Frage 4)
Dabei erheben die Kapitel keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr sollen möglichst vielfältige Perspektiven und die Bandbreite des wissenschaftlichen Diskurses dargestellt werden [Kap. 2 Perspektiven]. In der Literatur zu einzelnen Handlungsfeldern wurden Handlungsoptionen bereits zu Transformationspfaden mit heterogenen theoretischen Orientierungen verknüpft und vergleichend diskutiert (allerdings mit einer von Kap. 2 mitunter abweichenden Terminologie). In der Literatur zu anderen Handlungsfeldern sind bestimmte „theoretische Gestaltungsperspektiven“ – Markt-, Innovations-, Bereitstellungs- und Gesellschaft-Natur-Perspektive – gar nicht abgedeckt. Dem Charakter eines Sachstandberichts entsprechend haben wir uns auf die vorhandene Literatur zu beschränken. Die einzelnen Kapiteln zu den Handlungsfeldern verknüpfen die dargestellten Perspektiven aus der Fachliteratur mit den in Kap. 2 vorgestellten theoretischen Gestaltungsperspektiven über Querverweise und das Aufzeigen von gemeinsamen Denktraditionen.
3.6 Politiken und Handlungsebenen
Teil 2 knüpft mit der Analyse auf Ebene der Handlungsfelder an Abschn. 2.2 „Formen des Handelns“ an, gleichzeitig verweisen wir für die Perspektive der notwendigen, strukturellen Änderungen auf Teil 3 „Integrierte Perspektive der Strukturbedingungen“. Der in diesem Bericht gewählte Ansatz der Handlungsfelder verspricht intuitive Anknüpfungspunkte am Alltagsleben und damit auch an der individuellen und kollektiven Handlungsebene.
Für strukturelle Veränderungen sind die Erkenntnisse jedoch auch eng mit den jeweiligen Handlungsebenen von Behörden und demokratischen Entscheidungszentren zu verknüpfen (Muhar et al., 2006). Das Handlungsfeld der Ernährung wird etwa durch Gesundheits-, Agrar-, Sozial- und Handelspolitiken sowie durch die Agrar- und Ernährungswirtschaft oder durch mediale Diskurse und die Werbung geprägt (SAPEA, 2020). Auch in den anderen Handlungsfeldern sind – neben der Zivilgesellschaft und den Unternehmen – unterschiedliche Zuständigkeiten von Kommunen, Bundesländern, Bundes- und EU-Behörden mitzudenken. Die Kombination von Multi-Level-Governance und direkter Beteiligung nichtstaatlicher Akteur_innen an Entscheidungsprozessen bildet den Kern des Konzepts der polyzentrischen Governance (Newig & Koontz, 2014). Dieses ursprünglich von Ostrom et al. (1961) geprägte Konzept richtet den Blick der folgenden Kapitel auf die Interaktionen zwischen einer Vielzahl von – voneinander unabhängig agierenden und sich dennoch gegenseitig beeinflussenden – Entscheidungszentren und Akteursgruppen, darunter Zivilgesellschaft, Unternehmen und Regierungsbehörden.
Literatur
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Smetschka, B., Hofbauer, J., Penker, M., Jany, A., Frey, H., Wiedenhofer, D. (2023). Kapitel 3. Überblick Handlungsfelder. In: Görg, C., et al. APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66497-1_7
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