Zusammenfassung
Die Literatur diskutiert eine Reduktion von Treibhausgasemissionen in der Agrar- Ernährungswirtschaft. Dies findet jedoch wenig Resonanz in bisherigen klimapolitischen Strategien. Das größte Potenzial zur Reduktion der Emission von Treibhausgasen liegt in der Produktion, Distribution sowie im Konsum von tierischen Produkten. (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis)
Die Verarbeitungsindustrie und der Handel sind machtvolle Akteure in derWertschöpfungskette. Ihre Rolle wurde bisher wissenschaftlich wenig untersucht. Aus einer Marktperspektive tragen diese Akteure punktuell zu einer klimafreundlichen Ernährung bei (z. B. durch Produktangebote), gleichzeitig werden aber klimaschädliche Strukturen weiterbefördert. (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis)
Abhängig von der Kulturart und den Kontextfaktoren können die Produktion, die Distribution und der Konsum biologisch produzierter Lebensmittel einen gewissen Beitrag zu einer klimafreundlichen Ernährung leisten und Co-Benefits mit sich bringen (unter anderem Biodiversität, Tierwohl, bäuerliche Einkommen). Bestehende klimaschutzbezogene Nachteile müssen aber in Rechnung gestellt werden. (geringe Übereinstimmung; schwache Literaturbasis)
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Marianne Penker
FormalPara Leitautor_innenKarl-Michael Brunner und Christina Plank
FormalPara Beitragende Autor_innenChristian Fikar und Karin Schanes
FormalPara RevieweditorRoger Keil
FormalPara ZitierhinweisPenker, M., K.-M. Brunner und C. Plank (2023): Ernährung. In: APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben (APCC SR Klimafreundliches Leben) [Görg, C., V. Madner, A. Muhar, A. Novy, A. Posch, K. W. Steininger und E. Aigner (Hrsg.)]. Springer Spektrum: Berlin/Heidelberg.
FormalPara Kernaussagen des KapitelsStatus quo und Herausforderungen
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Die Literatur diskutiert eine Reduktion von Treibhausgasemissionen in der Agrar-Ernährungswirtschaft. Dies findet jedoch wenig Resonanz in bisherigen klimapolitischen Strategien. Das größte Potenzial zur Reduktion der Emission von Treibhausgasen liegt in der Produktion, Distribution sowie im Konsum von tierischen Produkten. (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis)
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Die Verarbeitungsindustrie und der Handel sind machtvolle Akteure in der Wertschöpfungskette. Ihre Rolle wurde bisher wissenschaftlich wenig untersucht. Aus einer Marktperspektive tragen diese Akteure punktuell zu einer klimafreundlichen Ernährung bei (z. B. durch Produktangebote), gleichzeitig werden aber klimaschädliche Strukturen weiterbefördert. (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis)
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Abhängig von der Kulturart und den Kontextfaktoren können die Produktion, die Distribution und der Konsum biologisch produzierter Lebensmittel einen gewissen Beitrag zu einer klimafreundlichen Ernährung leisten und Co-Benefits mit sich bringen (unter anderem Biodiversität, Tierwohl, bäuerliche Einkommen). Bestehende klimaschutzbezogene Nachteile müssen aber in Rechnung gestellt werden. (geringe Übereinstimmung; schwache Literaturbasis)
Notwendige Veränderungen, Barrieren und Konflikte
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Eine auf Klimaziele ausgerichtete integrative Ernährungspolitik wird von zivilgesellschaftlichen Akteur_innen und der Wissenschaft gefordert und kann verschiedene Politikbereiche verbinden. Sie steht im Konflikt mit Interessen, die den Status quo aufrechterhalten wollen, dem gegenwärtigen Handelssystem sowie der aktuellen Ausgestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union (GAP). (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis)
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Unser Wirtschaftssystem forciert Produktion, Weiterverarbeitung, Konsum und die Geringschätzung tierischer Produkte, da es darauf beruht, dass billige Erzeugnisse zur Verfügung gestellt und exportiert werden. Unterstützt wird dies kulturell durch Routinen und traditionelle Geschlechterverhältnisse. (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis)
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Arbeitskonflikte werden sichtbar im Bereich der Erntearbeit, der Verarbeitungsindustrie, der Supermärkte und der Essenszustellung wie auch durch die Aufgabe von Höfen. Sie verlangen nach einer Aufwertung der menschlichen Arbeit, um die soziale Dimension klimafreundlicher Strukturen zu gewährleisten. (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis)
Gestaltungsoptionen
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Aufgrund der Komplexität des Ernährungssystems und der Diversität betroffener Interessen werden Übergangspfade zu einem klimafreundlichen Ernährungssystem in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. (geringe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis)
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Um flexibel auf die – dem Ernährungssystem inhärenten – Unsicherheiten reagieren zu können, scheinen adaptive, inklusive und sektorübergreifende Ansätze, die auf dezentrale Selbstorganisation, Entrepreneurship und soziales Lernen setzen und durch staatliche und finanzpolitische Anreize stark gefördert werden, vielversprechend. (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis)
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Ohne grundlegende strukturelle Änderungen, die vor allem auch die Industrie und den Handel miteinbeziehen, können technologische Innovationen und individuelle Ansätze alleine nicht zu einem klimafreundlichen Ernährungssystem führen. (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis)
5.1 Einleitung
Essen ist ein Grundbedürfnis aller Menschen, weshalb der Ausgestaltung von Ernährungssystemen eine große Bedeutung zukommt (vgl. z. B. Béné et al., 2019; Herren & Haerlin, 2020; SAPEA, 2020; Schrode et al., 2019; Sonnino et al., 2019). Ernährungssysteme können als unterschiedlich ausgeprägte Netzwerke von Akteur_innen, Aktivitäten und Institutionen entlang der Wertschöpfungskette (von der Produktion bis zu den Lebensmittelabfällen) aufgefasst werden, die in ökologische, soziale, politische, kulturelle und ökonomische Umwelten eingebettet und durch bestimmte strukturelle Bedingungen gekennzeichnet sind (Gaitán-Cremaschi et al., 2019; Parsons et al., 2019; Schrode et al., 2019).
5.2 Status quo und Herausforderungen
Weltweit sind Ernährungssysteme für ca. ein Drittel aller anthropogenen Treibhausgasemissionen verantwortlich (Crippa et al., 2021). Diese Emissionen verteilen sich auf unterschiedliche Prozesse des Ernährungssystems. Etwa ein Drittel aller globalen ernährungsbedingten Emissionen entfallen auf Landnutzungsänderungen (z. B. Rodung von Regenwald für den Futtermittelanbau), ein Drittel auf direkte Emissionen aus der Landwirtschaft und ein Drittel auf alle restlichen Prozesse (Verarbeitung, Verpackung, Transport, Einzelhandel, Endkonsument und Entsorgung) (Crippa et al., 2021).
5.2.1 Produktion
Die Landwirtschaft trägt mit etwa 10,2 Prozent zu den nationalen Treibhausgasemissionen bei (Umweltbundesamt, 2021), ist aber auch stark von ihren Auswirkungen betroffen. Eine Reduktion der Treibhausgasemissionen in diesem Sektor wäre zur Erreichung der klimapolitischen Ziele notwendig. Auch wenn die Emissionen des Sektors Landwirtschaft seit 1990 um 14,3 Prozent gesunken sind, wurden die Höchstmengen gemäß den Emissionszielen der EU-Mitgliedsstaaten und dem nationalen Klimaschutzgesetz überschritten (Umweltbundesamt, 2021).
Transformationspolitisch wurde dieser Handlungsbedarf bisher nicht erkannt: In der nationalen Klima- und Energiestrategie ist Landwirtschaft bisher nur marginal vertreten, auch im Regierungsprogramm sind keine Klimaziele formuliert (BKA, 2020). Der Geltungszeitraum des Klimaschutzgesetzes endet 2020, ein neues Gesetz soll 2022 verabschiedet werden. Neben klimaschutzorientierten Maßnahmen des Agrarumweltprogramms ist in Österreich eine wachsende Vielfalt an landwirtschaftlichen Initiativen zu beobachten (z. B. Initiativen für klimaschonende Bodenbewirtschaftung, Direktvermarktung, Solidarische Landwirtschaft, Heumilch, Wiesenmilch), die eine klimafreundlichere Produktion befördern bzw. auf eine Reduzierung der Distanz zwischen Produktion und Konsum ausgerichtet sind (Milestad et al., 2017; Plank et al., 2020).
Die Tierhaltung verfügt im Sektor Landwirtschaft über das größte Potenzial zur Reduktion von Treibhausgasen (Havlík et al., 2014; Poore & Nemecek, 2018; Springmann et al., 2018; Valin et al., 2013; Willett et al., 2019). Rund 70 Prozent der agrarischen Emissionen stammen aus der Tierhaltung (Europäische Kommission, 2020). Einige Studien zeigen noch strittige Unterschiede zwischen Nutztierarten und eine große Abhängigkeit von der Düngung, Fütterung und Haltungsform. Aufgrund der Nahrungskonkurrenz zwischen Nutztieren und Menschen, etwa bei Soja und Getreide, dürfte ein besonderes Potenzial in der Verwertung von Gras, Nebenprodukten aus der Agrar-Ernährungswirtschaft und Lebensmittelabfällen, etwa über Insekten, liegen (Baumann & Schönhart, 2016; Derler et al., 2021; Scherhaufer et al., 2020; van Hal et al., 2019). Die Potenziale zur Reduktion von Treibhausgasemissionen sind je nach Tierart unterschiedlich (Willett et al., 2019). Der hohe Anteil von gentechnikfreien Futtermitteln dürfte eine der Erklärungen dafür sein, warum Österreich im EU-Vergleich die niedrigsten Emissionen pro Kilogramm Rindfleisch aufweist (European Union, 2014). Ein höherer Grasanteil in der Futterration könnte die Kohlenstoffbindung im Boden verbessern (Knudsen et al., 2019). Dies könnte auch den Bedarf an Futtermittelimporten und damit die Externalisierung von Umweltbelastungen begrenzen (Thaler et al., 2015; Westhoek et al., 2014; Zessner et al., 2011).
Bezüglich der Biolandwirtschaft liegt Österreich weltweit im Spitzenfeld und trägt mit 26,1 Prozent Biofläche wesentlich mehr als andere EU-Mitgliedsländer zur Erreichung des bis 2030 angepeilten EU-Ziels von 25 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche bei (BMNT, 2020; Europäische Kommission, 2020). Die Biolandwirtschaft wird in der Regel mit großen Vorteilen für die Biodiversität sowie für das Mensch- und Tierwohl verbunden, aber oftmals auch mit niedrigeren Erträgen. Die Evidenz zu den Treibhausgasemissionen pro Produktionseinheit zeigt jedoch eine hohe Variabilität der Ergebnisse (Seufert & Ramankutty, 2017). Da die Emissionsvorteile pro Kilogramm Bioprodukt unsicher und sehr von der Kulturart und von Kontextfaktoren abhängen dürften, wird ein Mehr an Bio oftmals in Zusammenhang mit veränderten Ernährungsmustern mit reduzierten Fleischanteilen gebracht (z. B. Hörtenhuber et al., 2010; Niggli, 2021; Schlatzer et al., 2017; Theurl et al., 2020). Durch günstige Akteurskonstellationen und politische Fördermaßnahmen konnte die Vorreiterstellung Österreichs in der Bioproduktion erreicht werden (Darnhofer et al., 2019). Eine Ausweitung der Biofläche wird angestrebt (BKA, 2020; Kirchengast et al., 2019).
5.2.2 Verarbeitung, Handel und Distribution
Der Verarbeitungsgrad von Lebensmitteln nimmt zu. Das rückt die Klimarelevanz der Lebensmittelindustrie in den Fokus. Die Quantifizierung von Emissionen in diesem Sektor steht erst am Anfang (Tubiello et al., 2021). In einer Studie wird für Deutschland der Anteil des Verarbeitungssektors an den Treibhausgasemissionen mit 3 Prozent angegeben (WBAE et al., 2020), andere Studien gehen von höheren Anteilen aus (Crippa et al., 2021; Ladha-Sabur et al., 2019; Tubiello et al., 2021). Generell wird ein Anstieg der Treibhausgasemissionen des Energiesektors in der Lebensmittelverarbeitung konstatiert, was mit der Zunahme an Convenience-Produkten und „ultra processed foods“ (Seferidi et al., 2020) in Verbindung steht.
Im Lebensmittelhandel nehmen neben anderen Distributionsformen (z. B. Wochenmärkte, Ab-Hof-Verkauf) Supermärkte als neue „Lebensmittelautoritäten“ (Dixon, 2007) eine zunehmend dominante Stellung in der Wertschöpfungskette ein. Diese sind nicht nur die „Mittler“ zwischen Produktion und Konsum, sondern nehmen aufgrund ihrer durch Konzentrationsprozesse erlangten Marktmacht sowohl Einfluss auf die Produktion/Verarbeitung (z. B. durch Preisdruck, Produktpolitik, Einführung von Qualitätsstandards, Listungspraktiken, Eigenproduktion und -marken) als auch auf den Konsum (z. B. Produktentwicklung, Marketing, Kommunikation, Erweiterung angebotener Dienstleistungen, Schaffung von „food environments“) und auf die regulatorischen Rahmenbedingungen (Burch et al., 2013; Caspi et al., 2012; Clapp & Scrinis, 2017; Kalfagianni & Fuchs, 2015; Oosterveer, 2012). Der Lebensmittelhandel ist mit 23 Milliarden Umsatz die größte und wichtigste Einzelhandelsbranche in Österreich, gleichzeitig ist der Sektor durch sehr hohe Konzentration gekennzeichnet: 2020 decken vier große Lebensmittel-Einzelhandelsunternehmen 91 Prozent des gesamten Marktes ab, wobei die Wettbewerbsintensität hoch ist (Regiodata, 2020) und der Wettbewerb auch über Expansion ausgetragen wird, teilweise verbunden mit klimaschädlichen flächenversiegelnden und verkehrsfördernden Standortentscheidungen [Kap. 6, 4]. Der Lebensmittelhandel spielt bei der Förderung klimafreundlicher Ernährungsweisen eine ambivalente Rolle: Durch Marketing und Sortimentspolitik trägt der Handel zur Förderung eines (vermeintlich) gesellschaftlich erwünschten Angebotes bei (vor allem in Bezug auf Bio und Regionalität/Saisonalität, teilweise auch in Bezug auf Tierwohlstandards) (Vogel, 2022), allerdings ohne Einbeziehung der Betroffenen und ohne klimaschädliche Angebote aus den Regalen zu entfernen oder „Bio“ an Regionalität/Saisonalität zu binden. Billigfleischaktionen fördern den Fleischkonsum und ethisch wie klimabezogen besonders bedenkliche Lebensmittelabfälle, mangelnde Herkunftskennzeichnungen und Austauschbarkeit der Lieferant_innen bei Eigenmarken sowie verarbeiteten Produkten verhindern Transparenz und informierte Konsumentscheidungen (Clapp & Scrinis, 2017; Kalfagianni & Fuchs, 2015). Einschätzungen zur Rolle des Handels sind schwierig, da zwar selektive Informationen durch Marktforschungsinstitute verfügbar gemacht werden, insgesamt aber wenig Daten und Forschung zu Praktiken und Entwicklungen im Lebensmittelhandel verfügbar sind. Wie im gesamten Ernährungssystem erweist sich die Digitalisierung als zweischneidiges Schwert: Der Erhöhung partieller Transparenz auf Konsumseite (z. B. Rückverfolgbarkeit) steht die (bisher wenig diskutierte) Datengenerierung durch diverse Kundenbindungsprogramme entgegen, die den Unternehmen detaillierte, private Einblicke in Konsumpraktiken gewähren (Carolan, 2018; Prause et al., 2020).
Supermärkte haben zwar eine dominante Stellung in der Distribution von Lebensmitteln, in Österreich sind aber auch unterschiedliche Formen der Direktvermarktung von Bedeutung. 27 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe in Österreich gaben 2016 an, dass sie einen Teil ihrer Produkte direkt vermarkten (KeyQUEST Marktforschung GmbH, 2016). Abhängig davon, ob Lebensmittel vom regionalen Bauernhof bezogen werden (Hofladen, Online-Bauernmarkt mit Zustellung oder Regionalbox) oder ob Lebensmittel entlang globaler Wertschöpfungsketten durch viele Hände gehen und Betriebe auf unterschiedlichen Kontinenten verbinden, fallen unterschiedliche Transportwege und Transportemissionen an. Allerdings wird in der Literatur mit hoher Übereinstimmung festgestellt, das „food miles“ bei der Treibhausgasbilanz der Ernährung eine untergeordnete Rolle spielen (Enthoven & Van den Broeck, 2021; Majewski et al., 2020; Paciarotti & Torregiani, 2021; Ritchie, 2020; Schmitt et al., 2017; Stein & Santini, 2021) – mit Ausnahme der seltenen Lufttransporte (Striebig et al., 2019). Gerade das im öffentlichen Diskurs am häufigsten verwendete Klimaschutzargument für lokal produzierte Lebensmittel, nämlich kürzere Transportwege, ist durch Studien nicht gedeckt. Lokale Produktion kann die Emissionsintensität verringern, aber nicht in allen Produktgruppen gleichermaßen. Wenn regionale Produktion mit Saisonalität gekoppelt wird, ist die Klimabilanz besser (Reinhardt et al., 2020). Allerdings können lokal produzierte Lebensmittel eine Reihe anderer Vorteile bringen (unter anderem Erhaltung der Biodiversität – abhängig von den Produktionsverfahren –, Schaffung und Sicherung regionaler Arbeitsplätze, höhere Zahlungsbereitschaft der Konsument_innen, soziale Anerkennung bäuerlicher Arbeit, regionale Identitätsbildung) (Enthoven & Van den Broeck, 2021; Ermann et al., 2018; Schmitt et al., 2017; Stein & Santini, 2021) [Kap. 15]. Eine wichtige Rolle bei der transportbezogenen Klimabilanz spielt auch die Lebensmittellogistik. Aspekte der klimaschonenden Lebensmittellogistik sind im Folgenden zusammengefasst.
Klimaschonende Lebensmittellogistik (von Christian Fikar) [Kap. 6: Mobilität, Kap. 15: Globalisierung]
Um die Bereitstellung und Zustellung von Lebensmitteln klimaschonender zu gestalten, konzentrieren sich Forschungsarbeiten im logistischen Bereich derzeit überwiegend auf die Beurteilung innovativer Distributionskonzepte und auf Maßnahmen zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen. Für konventionelle Lebensmittel sind vor allem der Energiebedarf und Qualitätsverluste durch eine steigende Anzahl an Kühltransporten eine große Herausforderung (Castelein et al., 2020). In regionalen Lebensmittellieferketten („Short Food Supply Chains“) erschweren hingegen viele Planungsunsicherheiten, geringere Mengen sowie mangelnde Transportkapazitäten nachhaltige Strukturen (Paciarotti & Torregiani, 2021). Wichtige Akteur_innen im Bereich Logistik sind sowohl Produzent_innen und Konsument_innen als auch – falls vorhanden – Einzelhändler_innen und Logistikdienstleister_innen. Die Forcierung von Kooperationen wird häufig als vielversprechendste Lösung angesehen, um Prozesse effizienter und nachhaltiger zu gestalten. So zeigt beispielweise eine Untersuchung von Lieferkonzepten für Food Coops in Ostösterreich erhebliche Einsparungen in Bezug auf Transportkosten, wenn Lieferkapazitäten geteilt werden (Fikar & Leithner, 2020). Ebenso führt eine vertikale Kooperation, ein engerer Austausch zwischen Konsument_innen und Produzent_innen, zu einer Steigerung der Servicequalität von regionalen Systemen und somit zu mehr Wachstum (Kump & Fikar, 2021). Welches Distributionsnetzwerk hingegen gewählt werden sollte, ist aufgrund der Vielfalt und der individuellen Produktanforderungen umstrittener. So weist beispielsweise eine Studie im Raum Linz auf die Stärken eines dezentralen Liefernetzwerkes unter Zuhilfenahme von Crowd Deliveries zur Erreichung einer besseren Nachhaltigkeit hin (Melkonyan et al., 2020). Vor allem im Hinblick auf die derzeitigen Trends im Lebensmittelsektor, wie Digitalisierung, Transparenzanforderungen und Kreislaufwirtschaft, besteht somit eine Vielzahl an komplexen und hoch relevanten offenen Fragen für zukünftige Forschungsvorhaben. Zusätzlich geben neue Technologien und Konzepte wie Elektromobilität, Food-Sharing-Plattformen und vermehrte Zustellungen per Lastenfahrräder Hoffnung auf klimaschonendere Lebensmitteltransporte in der Zukunft.
5.2.3 Konsum
Die Ernährung ist ein gewichtiger Treiber des Klimawandels. Allerdings liegen hinsichtlich Ernährungspraktiken in Österreich nur wenige Forschungsbefunde vor (z. B. Brunner et al., 2007). Fallweise Einstellungserhebungen zu Ernährung sind unterkomplex und kontextfrei (BMNT, 2018). Eine ernährungswissenschaftliche Perspektive findet sich z. B. im Ernährungsbericht (Rust et al., 2017). Demnach gilt die Ernährungsweise der Österreicher_innen gemessen an der österreichischen Ernährungspyramide als nicht sehr gesund: unter anderem sehr viel Fleisch (ca. 65 Kilo mit leicht sinkender Tendenz) und Milchprodukte, zu wenig Gemüse (leicht steigende Tendenz), zu viel Zucker, verbunden mit einem hohen Anteil der Bevölkerung mit Übergewicht bzw. Adipositas. Auch wenn der „österreichische Ernährungsstil“ dem anderer hochindustrialisierter Länder in vielen Dimensionen ähnlich sein dürfte (steigender Außerhauskonsum, vermehrter Konsum von Convenience-Produkten usw.), konsumieren die Österreicher_innen durchschnittlich 29 Prozent mehr Fleischgerichte, 27 Prozent mehr Zucker und 80 Prozent mehr tierische Fette als der EU-Durchschnitt (de Schutter et al., 2015). Das Potenzial, Treibhausgasreduktionen durch die Vermeidung von Lebensmittelabfällen [Abschn. 5.2.4] und Ernährungsumstellungen, insbesondere durch eine Reduktion des Konsums tierischer Produkte, zu erreichen, wird deshalb als besonders hoch eingeschätzt (APCC, 2014, 2018; Kirchengast et al., 2019; WBGU, 2011). Würde der Konsum auf ein gesundheitsverträgliches Niveau gesenkt (z. B. auf 30 Prozent des aktuellen Verbrauchs bei Fleisch bei gleichzeitiger Erhöhung des Konsums pflanzlicher Lebensmittel), würden die Emissionen um 22 Prozent sinken (de Schutter et al., 2015). Demgegenüber ist das Reduktionspotenzial durch Bio-Produkte und regionale Produkte deutlich geringer (APCC, 2018; Schrode et al., 2019; Willett et al., 2019).
Für die deutsche Agrar- und Ernährungspolitik wird konstatiert, dass Strategieprogramme zur Senkung von Treibhausgasemissionen die Verringerung des Konsums tierischer Produkte nicht thematisieren (Lemken et al., 2018). Dieser Befund gilt auch für die EU (Cordts et al., 2016) und für Österreich. In Bezug auf das Fleischthema lassen sich in Österreich Veränderungen in Richtung Veganismus, Vegetarismus und Flexitariertum feststellen (Ploll et al., 2020; Ploll & Stern, 2020). Der „Peak Meat“ (Spiller & Nitzko, 2015) scheint erreicht, allerdings sind nur geringfügige, teilweise schwankende Reduktionen feststellbar. Der Anteil an Vegetarier_innen liegt in Österreich gegenwärtig (je nach Studie) zwischen 4 und 9 Prozent, der Anteil an Flexitarier_innen ist mit 16 Prozent im Jahr 2018 (RollAMA, 2018) höher. Diese Zahlen müssen allerdings mit einiger Skepsis betrachtet werden, bleibt doch der Gesamtfleischkonsum relativ konstant. Zwar scheinen Jugendliche und junge Erwachsene in einigen sozialen Milieus eine Distanz zu tierischen Produkten zu entwickeln (Heinrich-Böll-Stiftung, 2021), ähnlich wie in der Schweiz (Mann & Necula, 2020) ändert dies aber wenig am Gesamtkonsum. Z. B. spielen Fleischprodukte beim (steigenden) Außer-Haus-Essen immer noch eine zentrale Rolle, da öffentliches Essen und Fleischkonsum kulturell stark miteinander verbunden sind (Biermann & Rau, 2020). Im Tourismusland Österreich ist auch die Klimawirkung fleischlastiger kulinarischer Traditionen in Gastronomie und Hotellerie nicht zu unterschätzen [zu Tourismus siehe Kap. 9 bzw. die dortige Box mit der Synthese aus dem APCC SR Tourismus & Klimawandel].
Produkte aus biologischem Landbau stoßen bei Konsument_innen in Österreich zunehmend auf Resonanz. 2020 erreichte der Bioanteil im Handel erstmals 10 Prozent (ohne Brot und Gebäck), motiviert allerdings weniger aus Klimaschutzerwägungen, sondern damit verbundenen positiven Gesundheitsfolgen. In bestimmten Produktkategorien erreichen Bioprodukte mehr als 20 Prozent Marktanteil. Im Rückblick betrachtet ist dieser „Biotrend“ allerdings von vielen Voraussetzungen abhängig und kein Selbstläufer (Dubuisson-Quellier & Gojard, 2016; Brunner & Littig, 2017). Trotz vieler günstiger Bedingungen hat sich seit den frühen 1990er Jahren der Anteil am gesamten Lebensmittelkonsum nur um ca. 6 bis 7 Prozent erhöht. Neben dem höheren Preis konstatieren Studien Informationsprobleme und damit verbundene Vertrauensdefizite bei Konsument_innen (Schwindenhammer, 2016). Neben Informationsproblemen können konkurrierende Marketingstrategien (Schermer, 2015), ernährungspolitische Ausrichtungen und kulturelle Faktoren einer Ausweitung des Biokonsums im Wege stehen oder sogar zu einem Rückgang des Biokonsums führen (Vittersø & Tangeland, 2015). Auch der höhere Preis von Biolebensmitteln kann als Barriere wirken.
Untersuchungen zum Biokonsum bleiben häufig selbstbezüglich auf das Segment des Biomarktes beschränkt und vermitteln einen oftmals täuschenden Eindruck eines extrem expandierenden Marktes. Vor dem Hintergrund des gesamten Lebensmittelmarktes, der noch immer von konventionell produzierten Lebensmittel dominiert wird, relativieren sich diese Steigerungen aber großteils.
Soziale Ungleichheitsstrukturen in einer Gesellschaft wirken sich auch auf Ernährungspraktiken aus. Ein geringes Haushaltseinkommen und inadäquate Mindesteinkommenspolitiken können die Möglichkeit für gesundes Essen erschweren (Penne & Goedemé, 2021) und Ernährungsarmut zur Folge haben. Dieses Thema steht in Österreich weder wissenschaftlich noch politisch auf der Agenda. Im österreichischen Ernährungsbericht wird das Thema nicht erwähnt (Rust et al., 2017), da die Ernährungswissenschaft vertikale Ungleichheitsfaktoren nicht erfasst (Brunner, 2020). Im Fortschrittsbericht zu den Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen (UN) wird das Ziel 2 (Beendigung von Hunger) als für Österreich erreicht bezeichnet (BKA, 2020) [bezüglich internationaler Verflechtungen siehe Kap. 15]. Eine erste Zusammenschau vorhandener Daten zeigt aber, dass ein nicht geringer Anteil der in Österreich lebenden Bevölkerung (ca. 500.000) unter Ernährungsunsicherheit bzw. -armut leidet (Miller, 2019), also zumindest fallweise Hungererfahrungen macht und nur beschränkten Zugang zu gesellschaftlich üblichen Lebensmitteln hat. Durch die Coronakrise dürfte die Ernährungsunsicherheit gestiegen sein (Gundersen et al., 2021; Pereira & Oliveira, 2020). Ernährungsarmut wird in öffentlichen Diskursen oft als Argument gegen teurere, klimaschonendere Produkte und für den Status quo niedriger Lebensmittelpreise ins Feld geführt. Eine sozial inklusive Klimapolitik sollte jedoch den vermeintlichen Widerspruch von Armut und Klimafreundlichkeit der Ernährung durch andere Maßnahmen auflösen als durch eine Sozialpolitik mit Billiglebensmitteln.
Die soziale Ungleichheit einer Gesellschaft zeigt sich nicht nur bei der mangelnden Leistbarkeit von Lebensmitteln, auch die Qualität des Essens kann darunter leiden. Einkommensschwächere und bildungsfernere soziale Gruppen konsumieren tendenziell vermehrt als ungesund klassifizierte Lebensmittel, ernähren sich weniger ausgewogen und sind häufiger übergewichtig oder adipös als soziale Gruppen in den höheren Rankings der sozialen Stufenleiter (Bonaccio et al., 2012; Fekete & Weyers, 2016). Oftmals sind stark zucker- und fetthaltige Convenience-Lebensmittel – vorgefertigte Produkte, die stark verarbeitet und haltbar gemacht wurden – im Vergleich zu gesünderen Alternativen günstiger, leichter verfügbar und außerdem ständig in der Werbung thematisiert (Plank, Penker, et al., 2021). Solche Lebensmittel können unter belastenden Lebensbedingungen die Ernährung erleichtern und den Alltag „versüßen“. Dies kann zu einseitiger Ernährung führen, Übergewicht zur Folge haben und damit gesundheitliche Ungleichheiten, die durch sozial ungleiche Einkommens-, Lebens- und Arbeitsverhältnisse verursacht werden, verstärken.
Weltweit übersteigt die Zahl der an Übergewicht leidenden Menschen jene mit chronischer Unterernährung bereits deutlich (Ermann et al., 2018). 2017 war die Hälfte der österreichischen Erwachsenen übergewichtig (Eurostat, 2020). Fettleibigkeit kann im Vergleich zu Normalgewicht mit bis zu 20 Prozent höheren Treibhausgasemissionen verbunden sein. 1,6 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen werden mit Fettleibigkeit in Verbindung gebracht, wobei vor allem der gesteigerte Konsum von Lebensmitteln und Getränken und der erhöhte Gewichtsaufwand für Auto- und Flugtransporte relevant sind (Magkos et al., 2019, 2020). Der Kaloriengehalt von Lebensmitteln scheint eine wesentliche Determinante für deren ökologischen Fußabdruck (unter anderem Treibhausgasemissionen) zu sein (Pradhan et al., 2013). Kalorienreiche und nährstoffarme Lebensmittel sind mit einem sehr hohen Umwelt-Impact verbunden, der noch vor jenem von frischem Fleisch und Milchprodukten liegt (Fardet & Rock, 2020; Ridoutt et al., 2021). Gerade solche Lebensmittel (wie z. B. Pizza, verarbeitetes Fleisch, gesüßte Getränke) werden in industrialisierten Ländern aber häufig konsumiert, sind Teil der „Western Diet“, die nicht nur eine hohe Klimarelevanz hat, sondern auch zu Übergewicht führen kann (Vega Mejía et al., 2018; Wang et al., 2021). Eine klimafreundlichere Ernährung kann also nicht nur die Treibhausgasemissionen reduzieren, sondern auch gesundheitsförderlicher sein (Austrian Panel on Climate Change (APCC), 2018; Willett et al., 2019). Eine deutliche Verringerung von Übergewicht und Fettleibigkeit würde auch eine substanzielle Reduktion der weltweiten Treibhausgasemissionen bedeuten (Springmann et al., 2018).
Ernährungsarmut und Übergewicht bedeuten oft eine Verstärkung sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit, die Erhöhung der Vulnerabilität in prekären Lebensverhältnissen lebender Bevölkerungsgruppen und gesellschaftliche Stigmatisierungserfahrungen (Spahlholz et al., 2016), was einer sozial gerechten Transformation zu einem klimafreundlichen Leben widerspricht. Eine „klimasoziale Politik“ (Die Armutskonferenz et al., 2021) zielt auf soziale Sensibilität, damit soziale Ungleichheiten und Abgrenzungen in einer Gesellschaft nicht durch klimapolitische Strategien verstärkt, sondern reduziert werden.
5.2.4 Lebensmittelabfälle und -verluste
Lebensmittelabfälle und -verluste (von Karin Schanes)
In Österreich fallen jährlich 1.074.300 Tonnen vermeidbare Lebensmittelabfälle und -verluste pro Jahr an. Mengenmäßig machen mit rund 521.000 Tonnen pro Jahr die Lebensmittelabfälle im Haushalt den größten Teil der Lebensmittelverluste aus. In Österreich gehen 49 Prozent aller weggeworfenen Lebensmittel auf das Konto der privaten Haushalte, 16 Prozent fallen in der Landwirtschaft an, 11 Prozent landen bei den Herstellern im Müll, 16 Prozent in der Gastronomie und 8 Prozent im Einzelhandel (Obersteiner & Luck, 2020). Durch Reduzierung von vermeidbaren Lebensmittelabfällen könnten in Europa pro Kopf rund 0,3 Tonnen CO2 reduziert werden (Ivanova et al., 2020; Zur Lage in Europa: Caldeira et al., 2019; Sanchez Lopez et al., 2020).
Die Ursachen für Lebensmittelabfälle auf der Haushaltsebene sind vielfältig und reichen von zu viel gekauften Lebensmitteln, mangelnder Einkaufsplanung über fehlende Zeit und nicht sachgerechter Lagerung bis hin zu missverstandenen Mindesthaltbarkeitsangaben. Weiters ist Lebensmittelverschwendung auf einen inneren Konflikt zurückzuführen, der daraus resultiert, dass Konsument_innen zwar einerseits Abfälle vermeiden möchten, aber andererseits den Wunsch hegen, gute Versorger_innen zu sein, die gesunde und damit auch leicht verderbliche Lebensmittel zur Verfügung stellen. Die Vermeidung von Lebensmittelabfällen steht auch im Gegensatz zu anderen Wünschen und Bedürfnissen, wie Lebensmittelsicherheit sowie Geschmack und Frische von Lebensmitteln (Schanes et al., 2018).
Neben Bewusstseinsbildung über die Auswirkung von Lebensmittelabfällen auf die Umwelt und die Haltbarkeit von Lebensmitteln bzw. ihre bestmögliche Lagerung, braucht es vor allem Aufklärung über das Mindesthaltbarkeitsdatum. Maßnahmen zur Eindämmung der Lebensmittelverschwendung sollen jedoch nicht nur auf Bewusstseinsbildung abzielen und die Verantwortung für Lebensmittelabfälle individualisieren, sondern die gesamte Wertschöpfungskette miteinbeziehen. Durch den Kauf von der Norm abweichender Produkte (z. B. unter der Marke „Wunderlinge“; REWE International AG) können Konsument_innen dazu beitragen, dass Lebensmittelabfälle in der Produktion verringert werden. Weiters kann zum Beispiel durch weniger Aktionsangebote des Einzelhandels („Kauf 3, zahl 2“) verhindert werden, dass zu viele Lebensmittel eingekauft werden. Kleinere Teller bewirken, dass weniger Lebensmittelabfälle anfallen, und könnten zum Beispiel in der Gastronomie eingesetzt werden (Wansink & van Ittersum, 2013). Technologien wie smarte Kühlschränke oder intelligente Verpackungen sind ebenfalls wirksame Instrumente, um Abfälle zu vermeiden (Vanderroost et al., 2014). Ein weiteres Instrument findet sich in manchen Ländern (z. B. Schweden, Kanada, Japan), wo die Gebühren für Abfälle auf dem „Pay-As-You-Throw“ (PAYT)-Prinzip basieren, das heißt man zahlt so viel, wie man tatsächlich wegwirft (Dahlén & Lagerkvist, 2010; UNEP, 2014, S. 2014).
Neben den Haushalten besteht ein großes Potenzial zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen und -verlusten in der Gastronomie, speziell in Verbindung mit dem Tourismus (Gössling & Lund-Durlacher, 2021; Lund-Durlacher et al., 2021). Ähnliches gilt für die Gemeinschaftsverpflegung in öffentlichen Einrichtungen und Betrieben, auf deren Potenzial bereits umgesetzte Maßnahmen z. B. im städtischen Bereich verweisen (Gusenbauer et al., 2018; Schlatzer et al., 2017).
5.3 Notwendige Veränderungen, Barrieren und Konflikte im Bereich klimafreundlicher Ernährung
Aus dem oben genannten Status quo ergeben sich eine Reihe von notwendigen Veränderungen, die auf Barrieren stoßen und mit Konflikten einhergehen. Diese sind einerseits im Land selbst sichtbar, werden jedoch auch andernorts ausgetragen. Aus der Perspektive der Food-Regime-Theorie ist zu beachten, dass das österreichische Ernährungssystem in das globale WTO-zentrierte Nahrungsregime eingebettet ist (Ermann et al., 2018; Krausmann & Langthaler, 2019; McMichael, 2009). Durch den EU-Beitritt wurde Österreichs Integration in den Weltmarkt seit den 1990er Jahren vorangetrieben (Schermer, 2015). Dadurch wurde einerseits die Produktion und der Konsum von „food from nowhere“ (McMichael, 2009) forciert [Kap. 15]. Andererseits wurde zeitgleich der Biolandbau, „Konsumpatriotismus“ und die Direktvermarktung als eine Strategie („food from somewhere“ (Campbell, 2009)) unterstützt, um die kleinen und mittleren Betriebe der österreichischen Landwirtschaft zu schützen (Schermer, 2015).
5.3.1 Umkämpfte Transformation verschiedener Politikbereiche um Ernährung
Ernährung stellt ein Querschnittsthema dar, das sich aktuell über verschiedene Politikbereiche erstreckt (unter anderem Umwelt und Klima, Gesundheit, Landwirtschaft, Konsument_innenschutz) und in Österreich von mehreren Ressorts verantwortet wird, wobei die Kooperation unterentwickelt ist (Plank, Haas, et al., 2021). In Bezug auf Umweltprobleme sind Agrarinteressen oftmals auf die Aufrechterhaltung des Status quo ausgerichtet und werden mit Lobbyarbeit agrarwirtschaftlicher und agrarindustrieller Interessenverbände durchgesetzt (Nischwitz et al., 2018). Die langjährige Ressortierung von Umwelt und Landwirtschaft in einem Ministerium hat zur Einebnung möglicher Interessenkonflikte beigetragen.
Auch in der österreichischen Klimapolitik ist eine Klientelpolitik sichtbar, die eine Integration der Klimapolitik mit beispielsweise der Landwirtschaftspolitik erschwert (Plank, Haas, et al., 2021). Ernährungspolitik findet bzw. fand vorwiegend als Gesundheitspolitik statt mit starkem Fokus auf Aufklärungs- und Informationsinstrumenten, die sich allerdings angesichts der oben skizzierten Ernährungsprobleme, als nicht sehr wirksam erweisen. Ernährungsroutinen sind schwer zu brechen (Warde, 2016). Die Verantwortung für klimafreundliches Handeln wird den Konsument_innen zugeschrieben (H. K. Bruckner & Kowasch, 2019; Brunner & Christanell, 2014; Jackson et al., 2021), die gesteuert von Nährwertangaben, freiwilligen Nachhaltigkeitslabels und durch die Gestaltung entsprechender Genussumgebungen in Einkaufsstraßen zu klimafreundlichen Kauf- und Ernährungspraktiken motiviert werden sollen.
Ernährung wird als „privat“ interpretiert, in die sich der Staat nicht einmischen solle. Doch angesichts der Herausforderung der Klimakrise erweist sich dieser Zugang als ungenügend. Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Ernährungspolitik wird auf europäischer als auch auf nationaler Ebene diskutiert (IPES, 2019; SAPEA, 2020) ebenso wie die Notwendigkeit, alle Steuerungsinstrumente im Bereich der Ernährung einzusetzen (SAPEA, 2020; WBAE et al., 2020). Eine horizontale wie auch vertikale Integration von Politikbereichen bzw. -ebenen in Verbindung mit der österreichischen Klimapolitik bringt jedoch eine Reihe von Herausforderungen mit sich, die beispielsweise für die Landwirtschaft noch nicht hinreichend bearbeitet werden (Plank, Haas, et al., 2021).
Durch die Einbindung in das globale WTO-zentrierte Nahrungsregime gibt es eine starke Verbindung von Wirtschafts-, Agrar-, Handels- und Geopolitiken auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Der Bereich der Agrarpolitik wird in Österreich von der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und der EU-Außenhandelspolitik bestimmt [Kap. 15]. Die GAP, die national unter anderem über das breit aufgestellte und finanziell vergleichsweise gut dotierte Agrar-Umweltprogramm ÖPUL ausgestaltet wird, geht allerdings noch nicht weit genug in puncto Klima und Nachhaltigkeit (Pe’er et al., 2020). Kritik wird auch geübt wegen des relativ großen Biodiversitätsfußabdrucks der Landwirtschaft (Gattringer, 2014; Marques et al., 2021) oder der geringen Wirksamkeit bei der Erhaltung von Grünlandflächen im Berggebiet (Darnhofer et al., 2017). Die Bewirtschaftungsaufgabe von extensiven Standorten vor allem im Grünland, stellt – trotz massivem Gegensteuern der Agrarpolitik – seit vielen Jahrzehnten ein Problem dar, da sich deren Bewirtschaftung aufgrund der geringen Preise, welche für die dort produzierten tierischen Lebensmittel unter WTO-Handelsbedingungen erzielt werden können, ökonomisch nicht rechnet (Schuh et al., 2020). Die flächenbezogenen Förderungen der aktuellen Agrarpolitik führen zu steigenden Pacht- und Kaufpreisen, wovon vor allem auch die (ehemaligen) Eigentümer_innen von Land profitieren (Feichtinger & Salhofer, 2013, 2016; Kilian et al., 2012). Daher werden nationale und europäische Politiken und Förderstrukturen in Frage gestellt (Nowack et al., 2019) und Veränderungen der GAP gefordert, um diese Probleme besser zu berücksichtigen (Höltl et al., 2020; Österreichischer Biodiversitätsrat, 2020). Neueste Entwicklungen zielen auf eine Umgestaltung der GAP im Sinne eines Europäischen Grünen Deals ab, unter anderem über die „Vom-Hof-auf-den-Tisch-Strategie“ (Europäische Kommission, 2020). Während für die Landwirtschaft zahlreiche quantitative Ziele und Maßnahmen formuliert wurden, sieht sie für die Industrie, Verpflegungsdienstleister_innen und den Einzelhandel freiwillige Maßnahmen ohne verbindliche Zielangaben vor. Ungewiss ist, ob eine Ernährungswende gelingen kann, wenn die angesichts der realen Machtverhältnisse bedeutendsten Akteur_innen nicht in die Pflicht genommen werden (Jackson et al., 2021).
Österreichs Agrar-Ernährungspolitik ist in internationale Handelsstrukturen eingebettet, die dem Wettbewerbsparadigma unterliegen. Österreichs Außenhandel zeigte 2020 weiterhin eine steigende Tendenz. Die Exporte stiegen stärker als die Importe und damit hat sich das Außenhandelsdefizit weiter auf eine Deckungsquote von 99,9 Prozent verbessert (BMNT, 2021). Insbesondere bei Obst, Gemüse, Fisch, Fetten, Ölen und Ölsaaten (unter anderem Soja) ist Österreich auf Importe angewiesen (BMNT, 2021). Ölsaaten werden auch zunehmend in der Bioökonomie verwendet (Kalt et al., 2021). Der globale Wettbewerb wird von einflussreichen Akteuren wie globalen Saatgut-, Agrar- und Lebensmittelkonzernen bestimmt, die durch Freihandelsabkommen gestärkt werden (Cifuentes & Frumkin, 2007; Davis, 2003; Otero, 2012) [Kap. 15]. Sozial-ökologische Konflikte werden dabei in die Produktionsorte im Ausland ausgelagert; die Produktion treibt dort die Kommodifizierung der Flächen und damit den ungleichen Zugang zu Land voran (Backhouse, 2015; Brad et al., 2015; Plank, 2016). Um mit dem globalen Wettbewerbsparadigma zu brechen, wird die Notwendigkeit einer dezentraleren Versorgung sowie eines fairen Handels thematisiert (Novy et al., 2020). Inwiefern eine selektive ökonomische Deglobalisierung sinnvoll ist und wie sie umgesetzt werden kann, steht vor allem seit der COVID-19-Krise wieder verstärkt zur Diskussion (Schmalz, 2020).
5.3.2 Konfliktthema Fleisch
Etwa die Hälfte der landwirtschaftlichen Fläche Österreichs ist Grünland, auf dem vor allem in alpinen Lagen kein Getreide oder Gemüse angebaut werden kann. Das erklärt aber nur teilweise, warum es in Österreich pro 1000 Einwohner_innen 270 – wegen ihrer Methanemissionen besonders klimarelevante – Rinder gibt und einen Selbstversorgungsgrad von ca. 177 Prozent bei Konsummilch, 145 Prozent bei Rind-/Kalbfleisch und 112 Prozent bei Fleisch insgesamt (Statistik Austria, 2021). Während Wiederkäuer für Menschen unverdauliches Gras in hochwertiges Eiweiß verwandeln, verfügen Schweine- und Geflügelfleisch über eine bessere Treibhausgaseffizienz (Willett et al., 2019). Seit den 1950er Jahren ermöglichten Industrialisierung, Spezialisierung, Rationalisierung, Digitalisierung (Roboter, Sensoren, Just-in-time-Logistik) und ein gestiegener Import von Futtermitteln und fossilen Ressourcen eine beispiellose Produktivitätssteigerung (Ermann et al., 2018). Wenngleich der Status quo zeigt, dass aus klima- wie auch aus gesundheitspolitischer Perspektive die Reduktion der Fleischproduktion und des Fleischkonsums angebracht wäre, stößt die Umsetzung dieses Ziels auf eine Reihe von Barrieren und manifesten Konflikten außerhalb Österreichs sowie latenten innerhalb des Landes. Niedrige Fleischpreise, Fleischmarketing, ein steigender Anteil des Außer-Haus-Konsums, kulinarische Sozialisationsprozesse, Kochtraditionen und Menükompositionen, Geschmackspräferenzen, genderspezifische Normen einer „richtigen Mahlzeit“, eine schwache klimapolitische Ernährungskommunikation sowie fehlende politische Maßnahmen für eine Fleischreduktion sind nur einige Gründe für den hohen Fleischkonsum (Brunner & Littig, 2017) und den gemessen an den konstatierten potenziellen Win-win-Konstellationen für das Klima und die Gesundheit gering ausgeprägten Konsumveränderungen (Austgulen et al., 2018; Graca et al., 2019; Sanchez-Sabate & Sabaté, 2019).
Studien, die auf das Treibhausgaspotenzial einer Fleischreduktion hinweisen, sind allerdings transformationspolitisch oft zu optimistisch, setzen auf Kommunikations- und Aufklärungsmaßnahmen, freiwillige Maßnahmen von Unternehmen und/oder staatliche Rahmensetzung (WBGU, 2011). Schwierigkeiten einer Umstellung solchen Ausmaßes werden in den verschiedenen Studien unterschätzt (vgl. z. B. Mylan, 2018; Oleschuk et al., 2019). Obwohl eine Fleischreduktion – je nach Nutztierart/-rasse, Fütterung und Haltung unterschiedliche – insgesamt sehr hohe Treibhausgasreduktionen zur Folge hätte und auch gesundheitsförderlich wäre, wird dieses Thema agrar-/klimapolitisch (außer von Wissenschaft und Zivilgesellschaft) nicht aufgegriffen bzw. bearbeitet. Deutschland etwa hat das Fleischthema auf die klimapolitische Agenda gesetzt (vgl. z. B. WBAE, 2020). Fleisch ist ein relativ arbeitsintensives Produkt und kann nur dann niedrigpreisig sein, wenn entlang der gesamten Wertschöpfungskette prekäre Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne herrschen (Barth et al., 2019). Das WTO-zentrierte produktivistische und auf billige Massenware ausgerichtete Nahrungsregime beruht auf der Ausbeutung von Mensch, Tier und natürlichen Ressourcen. Dies zeigt sich auch am Anbau von Soja, das als Futtermittel für die Fleischproduktion verwendet wird (Hafner, 2018; ILA Kollektiv, 2017; Langthaler, 2019). Darüber hinaus ist auch von Bedeutung, wie die Marktmacht der Supermärkte und die Kaufvorstellungen der Konsument_innen das Angebot und die Nachfrage bestimmen. Insbesondere die Bio-Eigenmarken der Supermärkte haben zu einem Machtgewinn dieser geführt, die Produzent_innen unsichtbar machen und so deren Handlungsspielraum einschränken (Grünewald, 2013).
Ernährungsphysiologisch und -ökologisch begründete Reduktionsszenarien beim Fleischkonsum zeichnen oft aus der Marktperspektive ein normativ verengtes Bild von Ernährungspraktiken, indem sie sowohl deren soziale, kulturelle, infrastrukturelle und technische Einbettung ausblenden als auch die Verbindung mit anderen Teilen der Wertschöpfungskette bzw. anderen sozialen Praktiken wie z. B. die Bereitstellungsperspektive hervorhebt (Brunner, 2020). So sind Geschlechterverhältnisse und Ernährungspraktiken eng verbunden: Frauen ernähren sich tendenziell klimafreundlicher, bekommen aber immer noch in hohem Maße die Verantwortung für die (unbezahlte) Ernährungsarbeit im Haushalt zugeschrieben (Brunner et al., 2007) [Kap. 8]. (Verarbeitete) Fleischprodukte reduzieren den Kochaufwand und viele Männer sind so sozialisiert, dass Fleischkonsum Teil ihrer männlichen Identität darstellt (Rosenfeld & Tomiyama, 2021). Generell wird durch den Fokus auf „dietary choices“ die Verantwortung für verändertes Ernährungshandeln individualisiert, der systemische Charakter der Ernährung ausgeblendet und die Handlungslast auf die Schultern der Konsument_innen verlagert. Zwar orientieren sich mehr Menschen als noch vor zehn Jahren in ihrem Ernährungsalltag neben anderen auch an Kriterien der Nachhaltigkeit und Gesundheit (Jackson et al., 2021), aber diese Ansprüche müssen mit der alltäglichen Lebensführung und den verfügbaren Ressourcen (unter anderem Geld, Zeit, Ernährungsinteresse und -wissen, sozialen Beziehungen) vereinbar gemacht werden. Daraus resultieren auch bei nachhaltigkeitsorientierten Konsument_innen alltagspraktisch erzwungene Kompromisse bei der Nahrungswahl [Kap. 7].
5.3.3 Arbeitskonflikte
Ein Ernährungssystem, das auf saisonalen und regionalen Produkten beruht und das weniger energieintensiv und damit klimaschonend wirkt, berücksichtigt auch die sozialen Arbeitsbedingungen (Plank, Penker, et al., 2021). Die Agrar-Ernährungswirtschaft – inklusive Verarbeitungsindustrie, Lebensmitteleinzelhandel, Lebensmittelzustellung und Gastronomie – ist ein Sektor, in dem die Arbeitskraft unter den herrschenden Rahmenbedingungen nur niedrig entlohnt werden kann. Um klimafreundlich zu leben, sind jedoch die gesellschaftlich notwendigen Arbeitsplätze attraktiv zu gestalten und deren Energieintensivität wie auch deren Treibhausgasemissionen zu verringern (Keil, 2021). Das österreichische Nahrungssystem ist auf Erntearbeiter_innen angewiesen, die oftmals ihre Rechte nicht kennen, geringen Lohn erhalten sowie unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden (Behr, 2013; Bolyos et al., 2016; Gétaz, 2004; Mende, 2006). Sie werden für arbeitsintensive nichtmechanisierbare Prozesse beispielsweise in der Gemüseproduktion eingesetzt (Becker, 2010). Diese Beschäftigungsbedingungen beruhen auf Lohnunterschieden zwischen den Herkunftsländern und dem Arbeitsland sowie auf Situationen, in denen Arbeitsschutzbestimmungen nicht greifen. Konflikte äußern sich in Form von Protesten osteuropäischer Erntearbeiter_innen, die einen Großteil der Erntearbeiter_innen ausmachen (Schmidt, 2015). Ihre Arbeits- und Lebensbedingungen unterscheiden sich von jenen der Bäuerinnen und Bauern. Diese wiederum sind zunehmend dem globalen Wettbewerb ausgesetzt und somit von der Konzentration von Land und dem Höfesterben (Möhrs et al., 2013) sowie der Dominanz der Supermärkte betroffen und geben diesen Wettbewerbsdruck an die Erntearbeiter_innen weiter (Behr, 2013). Berechnungen zeigen, dass der Anteil der Wertschöpfung der Landwirt_innen am österreichischen Lebensmittelhandel, konkret den Konsumausgaben für Lebensmittel, in vier Jahrzehnten von 40 Prozent auf knapp über 20 Prozent gesunken ist. Daraus lässt sich schließen, dass eine Entwertung der Arbeit von Bäuerinnen und Bauern erfolgte, die sich in einem geringeren Einkommen aus der Landwirtschaft niederschlägt (Quendler & Sinabell, 2016). Zivilgesellschaftliche Organisationen fordern in diesem Zusammenhang im Zuge der GAP-Reform die Förderung von standardisierter Arbeitszeit anstelle von Flächenförderungen (BirdLife Österreich et al., 2021).
Durch die COVID-19-Krise wurden systemrelevante Menschen, die im Bereich der Aufrechterhaltung der sogenannten kritischen Infrastruktur tätig sind, sichtbar gemacht. Arbeiter_innen in der Fleischindustrie (Winterberg, 2020) standen neben Personen, die im Supermarkt oder bei der Essenszustellung arbeiten, im Zentrum der Aufmerksamkeit. Hier besteht, wie auch bei der Verarbeitungsindustrie (Weis, 2013), noch Forschungsbedarf, um ihre Rolle in einem klimafreundlichen Ernährungssystem besser zu verstehen.
5.3.4 Konfligierende Wissensformen
Es wurden erhebliche wissenschaftliche Fortschritte beim Versuch erzielt, die Auswirkungen der Lebensmittelproduktion und des Lebensmittelkonsums besser zu verstehen. Dieses Wissen wurde jedoch noch nicht entsprechend für eine Ernährungswende mobilisiert. Da Triple- (oder auch Quadriple- oder Quintuple-)Helix-Partnerschaften mit dem Fokus auf Industrie, Regierung und Forschungseinrichtungen nicht notwendigerweise zivilgesellschaftliche Interessen aufgreifen (Pant, 2019), wird in Agrar- und Ernährungsfragen auch auf Transdisziplinarität gesetzt (Schermer et al., 2018; Schunko et al., 2012; Vogl et al., 2016; Winter et al., 2011). Diese transdisziplinären Aktivitäten finden oftmals auf lokaler Ebene statt, um kontextbezogenes Wissen, Werte und Präferenzen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu integrieren. Die meisten Herausforderungen der Ernährung können jedoch nicht allein auf lokaler Ebene gemeistert werden und erfordern umfassendere Konsultationsprozesse auf nationaler oder sogar transnationaler Ebene, die nicht durch vordefinierte Ziele zur Unterstützung des derzeitigen Ernährungsregimes und enge Einladungslisten von Akteur_innen behindert werden (McInnes, 2019). Kritisiert wird zudem, dass die Agrarforschung nicht an der Praxis orientiert und in weiten Bereichen für Bauern und Bäuerinnen nicht relevant sei (Laborde et al., 2020; Nature, 2020). Agrarökologische Zugänge stellen ein Beispiel dar, wie Wissen zu nachhaltigen Anbauweisen entwickelt und weitergegeben werden kann (Anderson et al., 2020). Agrarökologie kann man als Praxis, Wissenschaft und als soziale Bewegung verstehen (Wezel et al., 2009), wobei der Begriff der Agrarökologie zwischen sozialen Bewegungen und politischen Institutionen zunehmend umkämpft ist (Giraldo & Rosset, 2018).
5.4 Gestaltungsoptionen für ein klimafreundlicheres Ernährungssystem
Angesichts der Komplexität und des lückenhaften Wissens zu klimafreundlichen Ernährungssystemen verwundert es nicht, dass Übergangspfade zu einer klimafreundlichen Ernährung in der wissenschaftlichen Literatur kontrovers diskutiert werden. Sie werden stark vereinfachend oftmals als Gegensatz dargestellt:
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„Bioökonomie“ (mit Fokus auf technologische Innovationen bei weitgehend gleichbleibenden Produktions- und Konsummustern) versus sozialökologische Transformation der Produktions- und Konsumpraktiken in einer „Ökoökonomie“ (Ermann et al., 2018; Horlings & Marsden, 2011);
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diversifizierte agrarökologische versus spezialisierte industrielle Systeme (IPES, 2016);
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Steuerung durch Agribusiness, Datenplattformen und E-Commerce-Giganten versus Selbstorganisation durch Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen, die Finanzströme, Governance-Strukturen und Ernährungssysteme von Grund auf verändern (IPES Food & ETC Group, 2021);
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„climate smart“ (technische Korrekturen auf Produktionsebene ohne Fragen zu Macht und Ungleichheit zu adressieren) versus „climate wise“ (mit Fokus auf politische Dimensionen von Ernährung und Landwirtschaft in Zeiten des Klimawandels) (Taylor, 2017);
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Gegenüberstellung verschiedener Framings: Lebensmittel als Ware versus Lebensmittel als Gemeinschaftsgut oder als Menschenrecht (Jackson et al., 2021; SAPEA, 2020).
Analytisch kann es sinnvoll sein, gegensätzliche Entwicklungspfade zu diskutieren. Für eine tiefgreifende Ernährungswende mag es jedoch weniger um ein Entweder-oder, sondern vielmehr um ein Sowohl-als-auch gehen: technische und soziale Innovationen, agrarökologische und industrielle Ansätze, zentrale und dezentrale Ansätze, produktions- und konsumseitige Maßnahmen (Ermann et al., 2018). Abb. 5.3 gibt einen Überblick darüber, bei welchen strukturellen Rahmenbedingungen Gestaltungsoptionen ansetzen können.
5.4.1 Recht
Anpassungen im Rechtssystem sind insbesondere dort gefragt, wo widersprüchliche Agrar-, Gesundheits-, Raumordnungs-, Sozial- und Umweltpolitiken zu koordinieren, kontraproduktive oder gar schädliche Zuschüsse zu beenden oder Steuersysteme auf ökologische und soziale Prioritäten auszurichten sind (SAPEA, 2020). Reduktionsziele ließen sich über höhere Standards (z. B. Klimaschutz, Fütterung, Tierschutz, Bio) bzw. Steuern auf klimaschädliche Lebensmittel wie Fleisch forcieren. Anpassungen bei den Mehrwertsteuersätzen für Fleisch versprechen gemeinsam mit einer steuerlichen Entlastung von gesunden Lebensmitteln wie unverarbeitetem Obst und Gemüse Lenkungseffekte für Klima und Gesundheit (WBAE et al., 2020; Wirsenius et al., 2010). Damit ressourcen- und energieintensiv produzierte Lebensmittel nicht im Müll landen, braucht es eine Koordinationsstelle über die unterschiedlichen Politikbereiche hinweg (Klima, Gesundheit, Wirtschaft, Landwirtschaft, Tourismus), solide Datengrundlagen und effektive Maßnahmen (z. B. Prüfung von Marktschranken für Frischware, Mindesthaltbarkeitsdatum, unlautere Handelspraktiken, Rechtssicherheit zur Lebensmittelweitergabe) sowie verpflichtende Reduktionsziele pro Sektor (Rechnungshof Österreich, 2021). Zur Reduzierung von Lebensmittelabfall im Handel hat Frankreich bereits mehrjährige Erfahrung (Albizzati et al., 2019).
Kennzeichnungspflichten für Handel, Gemeinschaftsverpflegung und Gastronomie können die Voraussetzung dafür schaffen, dass Informationen zu Herkunft und Umweltrelevanz in Produktions- und Konsumentscheidungen einfließen (Bastian & Zentes, 2013). Die geschützte Ursprungsbezeichnung (g. U.) und die geschützte geografische Angabe (g. g. A.) sind die einzigen EU-rechtlich geschützten und extern kontrollierten Labels zur regionalen Herkunft. Dieser rechtliche Schutz fördert die kontinuierliche Arbeit an vielfältigen regionsspezifischen Produktqualitäten, die allerdings oftmals noch um Umweltstandards zu ergänzen wären (Edelmann, Quiñones-Ruiz, Penker, et al., 2020; Marescotti et al., 2020). Die Position landwirtschaftlicher Betriebe entlang der Wertschöpfungskette ließe sich durch die Forcierung betrieblicher Kooperationen, durch Herkunftsbezeichnungen, faire Handelsbedingungen und Maßnahmen im Wettbewerbsrecht stärken (siehe dazu auch Europäische Kommission, 2020). Ein wesentlicher staatlicher Hebel wird in rechtlichen Rahmenbedingungen der Beschaffung gesehen, damit Städte, Gemeinden und öffentliche Einrichtungen Weichenstellungen für ein klimafreundliches, gesundes, frisches und auf die regionale Saison ausgerichtetes Essen in Schulen, Krankenhäusern und öffentlichen Einrichtungen vornehmen können (IPES, 2019; SAPEA, 2020).
5.4.2 Governance und politische Beteiligung
In Bezug auf die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) wird eine weitere Verschiebung von flächenbezogenen Direktzahlungen zu Umweltleistungen empfohlen, auch weil die gesellschaftliche Bedeutung von Umweltleistungen jene von Agrarprodukten in manchen Fällen inzwischen übertrifft (Schaller et al., 2018). Diese Gelder braucht es insbesondere für Anpassungen in der Tierhaltung, eine klimafreundliche und biodiversitätsschonende Bodennutzung, für Maßnahmen zur Kohlenstoffbindung oder zur Schließung von Nährstoffkreisläufen zwischen Tierhaltung und Ackerbau. Erfahrungen aus dem Biolandbau (z. B. Kreislauf- und Humuswirtschaft) bieten Anhaltspunkte für Maßnahmen, um auch die konventionelle Landwirtschaft, die beinahe drei Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche Österreichs bewirtschaftet, von einem linearen Input-Output-Modell schrittweise zu einem Kreislaufmodell überzuführen (SAPEA, 2020). Unter dem Motto „weniger, aber besser“ (WBAE et al., 2020) können Weichenstellungen in Richtung eines maßvollen Genusses mit höherer Qualität bezüglich Fütterung (Reststoffe, Gras) und Tierwohl vorgenommen werden (Derler et al., 2021; Knudsen et al., 2019; Scherhaufer et al., 2020). Aus betriebswirtschaftlicher Sicht könnten Umstellungen in Richtung „low-input“ und agrarökologische Systeme unter bestimmten Bedingungen einkommensneutral erfolgen (Kirner, 2012; Scollan et al., 2017; van der Ploeg et al., 2019). Aus einer globalen Betrachtung werden aber auch Produktivitätszuwächse in der weltweiten Tierhaltung empfohlen (Valin et al., 2013).
Bottom-up-Ansätze versprechen Transformationen in den Ernährungspraktiken (Schäfer et al., 2018) und stellen Reallabore für klimafreundlichere Ernährungspraktiken dar. Daher haben etwa Lebensmittelkooperativen, solidarische Landwirtschaft, Gemeinschaftsgärten und alternative Lebensmittelnetzwerke in Zusammenhang mit der Nachhaltigkeitsdebatte an Beachtung gewonnen (M. Bruckner et al., 2019; El Bilali, 2019; Göttl & Penker, 2020; Karner, 2009; Plieninger et al., 2018; Schermer, 2015). Unterstützen ließen sich auch neue Praktiken wie kollektiv getragene Ernährungsstile (Paris Lifestyle, Veganismus, Vegetarismus) (Jungmeier et al., 2017; Ploll et al., 2020; Ploll & Stern, 2020). Zudem gestalten Bürger_innen und Stakeholder_innen aktiv Ernährungssysteme in Ernährungsräten oder Open Food Labs mit (Berner et al., 2019). Wie Frankreich, Deutschland oder skandinavische Länder könnte auch Österreich eine nationale Ernährungsstrategie erarbeiten, um die Aktivitäten der Zivilgesellschaft, der unterschiedlichen Ministerien, Bundesländer und Kommunen sektorübergreifend zu koordinieren und Gesundheits-, Klima- und Umweltziele mit sozioökonomischen Zielen besser in Einklang zu bringen (SAPEA, 2020). Neue Wertvorstellungen über den gesellschaftlich akzeptablen und wirtschaftlich machbaren Umgang mit Lebensmitteln ließen sich partizipativ aushandeln. Damit verbunden wäre ein Rollenwechsel von Produzent_in bzw. Konsument_in hin zu Bürger_in und ein Bedeutungszuwachs der Zivilgesellschaft im Sinne einer „Food Citizenship“ (Renting et al., 2012).
5.4.3 Technische Entwicklung und soziotechnische Innovation
Biotechnologie, Gentechnologie und Digitalisierung versprechen einen effizienteren Einsatz klimaschädlicher Ressourcen oder disruptive Veränderungen bei Fleischersatz, der auf pflanzlichem Eiweiß, Insekten oder der Vermehrung von Stammzellen im Labor basiert (Baumann & Schönhart, 2016; Derler et al., 2021; Eichhorn & Meixner, 2020; Klammsteiner et al., 2019; Melkonyan et al., 2020; Painter et al., 2020; Treich, 2021). Das Internet der Dinge, Big Data, Augmented Reality, Robotik, Sensoren, 3D-Druck, künstliche Intelligenz, digitale Zwillinge und Blockchain sind nur einige der Technologien, die – unter anderem auch unter Begriffen wie Precision Farming, Smart Farming oder Landwirtschaft 4.0 – als unverzichtbares Werkzeug für eine gerechte Lebensmittelversorgung der Weltbevölkerung und die Gesundheit des Planeten gesehen werden (Araújo et al., 2021; Mondejar et al., 2021). Anders als in anderen Teilen der Welt wird die grüne Gentechnik im europäischen Kontext kontrovers diskutiert und es fehlen Plattformen für einen offenen Diskurs. Produktionstechnischen Chancen angesichts der Klimakrise werden Risiken für Natur und Mensch, Abhängigkeiten vom Agrotech Business oder dem Verlust von Verkaufsargumenten der Gentechnikfreiheit oder „Natürlichkeit“ gegenübergestellt (z. B. Niggli, 2021; Quist et al., 2013). Ermann et al. (2018) zeigen, dass die Produktion, Verarbeitung und Lagerung von Essen schon seit vielen Jahrtausenden von technologischen Entwicklungen der Züchtung, Mechanisierung und Konservierung profitieren und eine Abgrenzung zwischen Natur und Technik nicht leichtfällt. Abgesehen von technologischen Innovationen werden auch soziale Innovationen (z. B. Nose-to-tail-Gastronomie, verpackungsfreie Supermärkte) oder agrarische Innovationen (z. B. unbeheizter Wintergemüseanbau, Market Gardening, Futtermittelzusätze) diskutiert (C. Gugerell & Penker, 2020; Roque et al., 2021; Theurl et al., 2017).
Trotz erheblicher systemischer Spannungen zwischen neuen Agrartechnologien und agrarökologischen Ansätzen schließen sich diese nicht aus. Kombinationen von sozialen und digitalen Innovationen bieten etwa Online-Bauernmärkte, Cow Sharing, die außerfamiliäre Hofübergabe oder Food Sharing (Ganglbauer et al., 2014; K. Gugerell et al., 2019; Schanes & Stagl, 2019). Allerdings mangelt es an gesichertem Wissen zur Skalierbarkeit verschiedener Nachhaltigkeitsinnovationen mit digitaler Unterstützung, um wirtschaftlich selbsttragend und großflächig zu einer Transformation beitragen zu können. Es fehlt an Wissen, wie digitale Technologien agrarökologische Systeme konkret unterstützen können (Rotz et al., 2019). Systematische Reviews zeigen Forschungsbedarf zu digital unterstützten Übergangspfaden (Klerkx et al., 2019). Oftmals stoßen Nachhaltigkeitsinnovationen an rechtliche und infrastrukturelle Barrieren (z. B. Informationspflichten, Hygienestandards, Zulassungsverfahren, inkompatible technologische Standards oder Infrastrukturen) oder es mangelt an leistbaren landwirtschaftlichen Flächen (z. B. bereitgestellt von Bodengenossenschaften/-stiftungen) (Derler et al., 2021; Eisenberger et al., 2017; C. Gugerell & Penker, 2020).
Der Gesetzgeber kann Risiken und Chancen einer technologisierten, automatisierten und digitalisierten Landwirtschaft gegeneinander abwägen und mögliches Konfliktpotenzial rechtzeitig kanalisieren (Eisenberger et al., 2017; Pascher, 2016). Die Reichweite und der kommerzielle Erfolg unternehmerischer Ökoinnovationen lassen sich durch eine „social license to operate“ und eine transparente Beteiligung der Stakeholder_innen stärken (Provasnek et al., 2017). Technologische Innovationen implizieren oftmals Verschiebungen der Machtverhältnisse sowie Investitions- und Wachstumszwänge, denen nicht jedes Unternehmen gewachsen ist. Zudem gibt es warnende Stimmen, dass technologische Innovationen mit Fokus auf Ökoeffizienz zur Erreichung von Klima- und Umweltzielen nicht ausreichen und um Ansätze der Suffizienz und Maßnahmen zur Reduktion des Energie- und Materialumsatzes zu ergänzen sind (Haberl et al., 2011, 2020; Theurl et al., 2020).
5.4.4 Globalisierung, globale Arbeitsteilung und Wertschöpfungsketten
Auch wenn der Handlungsspielraum auf nationaler Ebene beträchtlich scheint, kann eine Ernährungswende nicht entkoppelt von wirtschafts-, handels-, wettbewerbs- und finanzpolitischen Änderungen auf europäischer und internationaler Ebene gedacht werden. Eine Verlagerung der Produktion und damit zusammenhängender Umweltprobleme in andere Regionen der Welt schmälert die Anstrengungen in Österreich und in anderen EU-Mitgliedsländern (Europäische Kommission, 2021). Klimabezogene und sozial-ökologische Standards in bilateralen und multilateralen Handelsabkommen, ein effektiver Emissionshandel und eine internationale CO2-Bepreisung (inklusive CO2-Grenzabgabe) können daher nationale Anstrengungen in Bezug auf eine klimafreundliche Produktion, Direktvermarktung regionaler Qualitätsprodukte, Bio-/Slow-Food-Regionen sehr unterstützen (Europäische Kommission, 2020; SAPEA, 2020). Damit klimafreundliches Verhalten auch im globalen Handel zum Wettbewerbsvorteil werden kann, bedarf es einer guten Abstimmung zwischen CO2-Bepreisung, Agrar-/Umweltpolitiken und WTO-Handelsregeln (Kirchner & Schmid, 2013). Zu beachten ist zudem, dass – wie bereits erwähnt – regional nicht per se klimafreundlicher ist, sondern dies immer von den konkreten Produktionsprozessen, Jahreszeiten und Logistiksystemen abhängt (Ermann et al., 2018; Theurl et al., 2014). Der Fokus auf kurze Wertschöpfungsketten und eine Produktion in Österreich (z. B. bei Fisch, Feingemüse, Ölsaaten oder Futtermitteln) könnte einer Verlagerung von unerwünschten Klimaeffekten in andere Erdteile entgegenwirken, welche sich durch erhöhte CO2-Preise noch beschleunigen könnte (Frank et al., 2015).
5.4.5 Wirtschaft, Finanzmärkte, Investitionen und Geldsysteme
Klimaschonende und kreislauforientierte Agrar-Ernährungssysteme eröffnen neue Geschäftsmodelle und Investitionsmöglichkeiten, beispielsweise im Zusammenhang mit der Nutzung von Lebensmittelabfällen, der CO2-Bindung durch die Landwirtschaft, Bioraffinerien, Biodünger, Eiweißfuttermittel, Phosphorrückgewinnung, Bioenergie und Biochemikalien (Europäische Kommission, 2020; Hörtenhuber et al., 2019; Zoboli et al., 2016). Entsprechende private und öffentliche Investitionen können die Ernährungswende beschleunigen. Abhängig vom gewählten Transformationspfad reicht die Bandbreite von institutionellen Investoren mit Fokus auf kapitalintensive Innovationen globaler Player der Biotechnologie, Fleischersatzprodukte und Digitalisierung einerseits bis zu regionalen Crowd-Funding- oder Crowd-Farming-Modellen engagierter Bürger_innen andererseits. Angesichts der sich rasch ändernden klimatischen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden bei Investitionsentscheidungen – neben Fragen der kurzfristig orientierten Effizienz – in Zukunft wohl insbesondere die langfristige Anpassungsfähigkeit und Resilienz sowie die regionalen Kontexte an Fokus gewinnen (z. B. durch Diversifizierung, regional maßgeschneiderte und sektorübergreifende Maßnahmen der Klimawandelanpassung oder Eindämmung von Schadorganismen) (Darnhofer, 2010, 2014, 2021; Darnhofer, Bellon, et al., 2010; Darnhofer, Fairweather, et al., 2010; Grüneis et al., 2018; Knickel et al., 2018; Kohler et al., 2017; Mitter et al., 2019; Schermer et al., 2018; Wilson et al., 2018; Wüstemann et al., 2017; Zulka & Götzl, 2015). Handlungsbedarf besteht auch bei agrarischen Investitionsförderungen, um unerwünschte Nebeneffekte von Investitionen auf die Umwelt, den Strukturwandel, eine resilienzreduzierende Spezialisierung oder die Verschuldung der Betriebe zu vermeiden (Kirchweger et al., 2015; Kirchweger & Kantelhardt, 2015).
5.4.6 Soziale Ungleichheit, soziale Sicherungssysteme und sozial-ökologische Infrastrukturen
Klimafreundliche Ernährungssysteme können – in Verbindung mit einer verstärkten Förderung von Biotreibstoffen (Oliveira et al., 2017) – zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise führen (z. B. Stürmer et al., 2013). Konsument_innen in Österreich – insbesondere jene, die bei Discountern kaufen – reagieren sensibel auf höhere Fleisch- und Milchpreise (Widenhorn & Salhofer, 2014a, 2014b). Reduktionsziele ließen sich also über höhere Preise bzw. Steuern auf klimaschädliche Lebensmittel (siehe oben) forcieren, was aber sozial benachteiligte Gruppen stärker treffen würde. Diese Gruppen sind auch von ernährungsbedingten Gesundheitsfolgen aktueller Ernährungsmuster mit hohen Anteilen an Fleisch und hoch verarbeiteten Lebensmitteln betroffen (Brunner, 2020; Fekete & Weyers, 2016). Hier stellt sich die grundsätzliche Frage, wie der Übergang sozial verträglich gestaltet werden kann und ob die Sozialpolitik über billige Lebensmittelpreise zu organisieren ist oder ob es dafür treffsicherere Maßnahmen gäbe (z. B. Anhebung der Sätze für Lebensmittel in der Sozialhilfe). So wird in der Diskussion um ein Menschenrecht auf Nahrung der Zugang zu Lebensmitteln wesentlich weiter gefasst als die Verfügbarkeit von billigen Lebensmitteln (Jackson et al., 2021). Die Handlungsmöglichkeiten reichen von einem staatlich garantierten Menschenrecht auf Zugang zu gesellschaftlich angepasster und gesunder Ernährung in öffentlichen Einrichtungen bis hin zur Unterstützung von Corporate-Social-Responsibility-Aktivitäten oder zivilgesellschaftlichem Engagement für die Bereitstellung von Essen für Bedürftige.
Die Wende zu einem klimafreundlichen und nachhaltigen Ernährungssystem kann nicht ohne soziale Absicherung, faire Arbeitsbedingungen und Anerkennung der bäuerlichen Haushalte und all jener, die in der Lebensmittelproduktion, Essenszubereitung und -zustellung arbeiten, erfolgen (SAPEA, 2020). Neben einer steuerlichen Entlastung von Arbeit und der Senkungen von Sozialversicherungsabgaben für Personen mit geringem Einkommen wird auch die Ausgestaltung des Fördersystems reflektiert. Kirner et al. (2009) haben Unterschiede in der landwirtschaftlichen Arbeitsbelastung diskutiert und dargelegt, dass eine Verschiebung von flächengebundenen Direktzahlungen zu einer Förderung der Arbeitszeit vor allem arbeitsintensiven Betrieben in Berggebieten zugutekäme. Konsumseitig könnten Versorgungsarbeiten wie Einkaufen und Kochen, aber auch Aktivitäten der Selbstversorgung (Gartenarbeit, Haltbarmachung, Lagerung von Lebensmitteln) durch eine Reduktion der Wochenarbeitszeit profitieren, zumal Strukturen der Erwerbsarbeit eng mit den Ernährungspraktiken und der verfügbaren Zeit für Sorgearbeit verbunden sind (Backhaus et al., 2015) [Kap. 7, 8]. Nicht nur, aber besonders am Land können Partizipation und gendersensible Politiken dazu beitragen, soziale Praktiken nachhaltig zu ändern (Oedl-Wieser, 2020).
5.4.7 Raumplanung und räumliche Ungleichheiten
Gerade die Bioökonomie und die Energiewende, aber auch die Kohlenstoffbindung im Boden erfordern den qualitativen und quantitativen Erhalt fruchtbarer Böden (z. B. raumplanerische Instrumente der Innenverdichtung, Entsiegelungsbörse). Weitere raumplanerische und ausgleichende Handlungsmöglichkeiten sind weiter hinten im Bericht angeführt [Kap. 19, 17]. Die seit den 1950er Jahren erwirkten beispiellosen Produktivitätssteigerungen haben das Wohlergehen von Menschen, die ihren Lebensunterhalt im Agrar-Ernährungssektor erwirtschaften, nicht wesentlich verbessert, unabhängig davon, ob sie auf landwirtschaftlichen Betrieben, in Schlachthöfen, in der Gastronomie oder im Transportwesen arbeiten. Die Akzeptanz von Veränderungen in der Agrar-Ernährungspolitik hängt nicht zuletzt vom Ausgleich territorialer Ungleichgewichte zwischen den Regionen, zwischen agrarischen Gunst- und Ungunstlagen sowie zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Sektoren ab (SAPEA, 2020).
5.4.8 Diskurse und Medien
Im allgemeinen Nachhaltigkeitsdiskurs fehlt es an attraktiven Bildern und Zukunftsgeschichten [Kap. 20]. Mit positiv besetzten Framings ließe sich allenfalls das lineare und durch fossile Energieinputs getriebene Produktionsmodell der niedrigpreisigen Massenware durch ein Bild der Kreislaufwirtschaft mit Fokus auf Qualität, Genuss, Wohlbefinden von Mensch und Tier sowie Wertschätzung für Lebensmittel ersetzen (SAPEA, 2020). Bezugnehmend auf den Sachstandsbericht zu einem nachhaltigen Ernährungssystem in Europa (SAPEA, 2020) argumentieren die Chefberater_innen der Europäischen Kommission, dass für eine Ernährungswende ein neues Framing von Lebensmitteln nicht bloß als Ware, sondern auch als Gemeingut nötig wäre (GCSA, 2020). Die Medien tragen nicht nur zu diesem Metadiskurs bei, sondern spielen auch eine zentrale Rolle bei der Vermittlung von Informationen und Wissen. Durch die Entfremdung von der Landwirtschaft verfügt der größte Teil der Bevölkerung über keine direkten Einblicke in die Lebensmittelproduktion (Ermann et al., 2018).
5.4.9 Bildung und Wissenschaft
Wie die äußerst beschränkte Wirksamkeit von bewusstseinsbildenden Maßnahmen zur Sensibilisierung für gesunde Ernährung zeigt (GBD 2015 Obesity Collaborators, 2017), kann Wissen allein kaum das Einkaufs- oder Ernährungsverhalten erklären, das zudem massiv von Werbung gesteuert wird. Ernährungspraktiken sind komplex und brauchen eine Vielzahl an Maßnahmen, die unter anderem auch bei handlungsbasierten Kompetenzen ansetzen (Brunner et al., 2007; Gotschi et al., 2009). Vielversprechend scheint ein erfahrungsnaher Wissensaustausch zwischen Produktion und Konsum, z. B. Direktvermarktung, Tag der offenen Bauernhöfe, solidarische Landwirtschaft, aber auch internationaler Direkthandel, der auf langfristige Beziehungen setzt (Edelmann, Quiñones-Ruiz, & Penker, 2020; Edelmann, Quiñones-Ruiz, Penker, et al., 2020; Milestad et al., 2010; Plank et al., 2020; Schermer, 2015). Beratungsleistungen für Bäuerinnen und Bauern zur Kommunikation mit der Gesellschaft werden bisher vorwiegend von größeren Betrieben nachgefragt (Kirner, 2017).
Es gibt also eine Reihe von regulativen, bewusstseinsbildenden, finanzpolitischen und technologischen Hebeln für eine breite Unterstützung einer klimafreundlichen Ernährung. Um die unterschiedlichen Framings von Lebensmitteln, die diversen Motivationen, Produktions- und Konsumstile gleichermaßen ansprechen zu können, braucht es einen Politikmix. Zu beachten ist, dass für Produzent_innen und Konsument_innen nicht nur der Preis und finanzielle Anreize zählen, sondern auch soziale Anerkennung, Stolz auf eine gesunde Herde oder ein sinnvoller Beitrag zur Zukunft (Braito et al., 2020; Hampl & Loock, 2013; Maurer, 2021; Walder & Kantelhardt, 2018). Ernährung als Querschnittsthema ruft nach einer sektorübergreifenden und demokratischen Gestaltung im Rahmen einer integrativen Ernährungspolitik. Da die Verarbeitungsindustrie und der Handel nicht nur den Konsum, sondern auch die Produktion mitbestimmen, sind diese Machtverhältnisse für eine Transformation zu berücksichtigen. Ohne grundlegende strukturelle Änderungen, die auch die Industrie und den Handel miteinbeziehen, können technologische Innovationen und individuelle Ansätze alleine nicht zu einem klimafreundlichen Ernährungssystem führen.
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Penker, M., Brunner, KM., Plank, C. (2023). Kapitel 5. Ernährung. In: Görg, C., et al. APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66497-1_9
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