1 Einleitung

Der überwiegende Anteil der Kindeschutzverfahren vor dem Familiengericht wird aufgrund einer Mitteilung durch das Jugendamt über die (mögliche) Gefährdung eines Kindes oder Jugendlichen eingeleitet. Im Folgenden wird dargestellt, welche Funktion die Anrufung erfüllt (2.2), unter welchen Voraussetzungen das Jugendamt zur Anrufung des Familiengerichts verpflichtet ist und welche Form diese haben sollte (2.3) sowie ob gegebenenfalls auch andere Akteur:innen das Familiengericht anrufen dürfen (2.4).

2 Funktionen der Anrufung

2.1 Verzahnung der Aufgaben von Jugendamt und Familiengericht zum Schutz eines Kindes

Das sogenannte Wächteramt des Staates (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) verpflichtet den Staat einzugreifen, wenn Eltern durch ihr Erziehungsverhalten ihre Kinder in ihrem Wohl gefährden. Dieses Wächteramt verpflichtet den Staat zunächst, die Eltern durch öffentliche Hilfen in ihrem Erziehungsverhalten zu unterstützen. In Betracht kommen insbesondere Hilfen nach dem SGB VIII: Hilfen zur Erziehung gemäß §§ 27 ff. SGB VIII, Unterbringung in einer Eltern-Kind-Einrichtung gemäß § 19 SGB VIII oder Beratung und Unterstützung gemäß §§ 16 bis 18 SGB VIII. Erst wenn unterstützende Maßnahmen nicht ausreichen, um das Kind vor Gefahren zu schützen, ist der Staat berechtigt, auch gegen den Willen der Eltern intervenierende Maßnahmen zu ergreifen (BVerfG 29.7.1968 – 1 BvL 20/63, 1 BvL 31/66, 1 BvL 5/67 Rn. 59). Bei den intervenierenden Maßnahmen handelt es sich dann in der Regel um familiengerichtliche Maßnahmen nach § 1666 Abs. 3 BGB. (s. a. Familiengerichtliche Maßnahmen zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung [Kap. 7])

Das Wächteramt des Staates adressiert also in erster Linie die Institutionen Jugendamt und Familiengericht. Damit das Wächteramt effektiv umgesetzt wird, müssen die Aufgaben beider Institutionen notwendig miteinander verzahnt werden (Meysen 2008). Wenn Eltern unterstützende Leistungen des Jugendamts nicht annehmen oder diese zum Schutz des Kindes nicht mehr ausreichen und eine weitergehende Intervention erforderlich wird – im äußersten Fall die Trennung des Kindes von seiner Familie –, muss das Familiengericht eingeschaltet werden. Diese Verzahnung zwischen der Gewährung von Hilfen und Eingriffen in die elterliche Sorge herzustellen, ist zentrale Funktion der Anrufung.

2.2 Perspektive Familiengericht: Anregung zur Einleitung eines Verfahrens

Aus der Perspektive des Familiengerichts stellt die Anrufung des Jugendamts eine Anregung nach § 24 FamFG zur Einleitung eines Verfahrens nach §§ 1666, 1666a BGB dar. Die Anrufung dient also dazu, das Verfahren vor dem Familiengericht in Gang zu bringen.

Das Kinderschutzverfahren ist ein Amtsverfahren. Im Gegensatz zu einem Antragsverfahren (z. B. einem Verfahren auf Übertragung der Alleinsorge nach Trennung und Scheidung gemäß § 1671 BGB) braucht es in einem Amtsverfahren zur Einleitung des Verfahrens nicht den Antrag eines Beteiligten. Das Familiengericht muss vielmehr von sich aus das Verfahren einleiten, sobald es Kenntnis von der Notwendigkeit seines Tätigwerdens erhält. Sobald das Familiengericht also von einem Sachverhalt erfährt, der sorgerechtliche Maßnahmen zum Schutz des Wohls eines Kindes erforderlich lassen werden könnte, muss es das Verfahren einleiten.

Auch wenn es keines förmlichen Antrags zur Einleitung eines Kinderschutzverfahrens bedarf, kann ein Kinderschutzverfahren jederzeit angeregt werden (§ 24 Abs. 1 FamFG), sprich, der Hinweis an das Familiengericht gegeben werden, dass dieses tätig werden muss. Grundsätzlich kann jedermann ein Kinderschutzverfahren anregen, auch Nachbarn, Freunde der Familie, Ärzt:innen oder eine Behörde (Prütting und Helms/Ahn-Roth 2018, § 24 FamFG Rn. 4). Allein das Jugendamt trifft jedoch eine Pflicht, ein Kinderschutzverfahren anzuregen (s. III.; zu einer Anrufung durch andere Akteur:innen s. VII.).

2.3 Perspektive Jugendamt: Aktivierung, Mitteilung des Sachverhalts und sozialpädagogische Einschätzung

Aus der Perspektive des Jugendamts verfolgt es mit der Anrufung drei Zwecke:

  1. 1.

    Aktivierung des Familiengerichts

    Zunächst einmal dient die Anrufung dem Zweck, dass das Familiengericht überhaupt von der Notwendigkeit seines Tätigwerdens erfährt. Das Familiengericht erfährt aus seiner eigenen Tätigkeit von der Notwendigkeit, ein Kinderschutzverfahren einzuleiten, wenn sich Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung im Kontext eines anderen Verfahrens, etwa eines Umgangs- oder Sorgerechtsverfahrens nach § 1671 BGB ergeben. Ansonsten ist es auf einen Hinweis von „außen“ angewiesen. Dieser kann z. B. auch von der Polizei nach einem Einsatz wegen häuslicher Gewalt kommen. Oft kommt der Hinweis jedoch aus dem Jugendamt, das mit der Familie schon seit Längerem arbeitet bzw. von einem anderen Akteur (Kita, Schule) über Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung informiert wurde.

  2. 2.

    Mitteilung des Sachverhalts

    Dem Familiengericht ist die Familie in der Mehrheit der Fälle bislang nicht bekannt. Es weiß nichts über die familiäre Situation, Anlass und Hintergründe der möglichen Gefährdung des Wohls des Kindes. Ganz konkrete Funktion der Anrufung ist daher, dem Familiengericht die im Jugendamt bekannten Tatsachen zur Familie und zur Gefährdungssituation zu schildern.

  3. 3.

    Sozialpädagogische Einschätzung

    Es geht bei der Anrufung jedoch nicht nur darum, dem Familiengericht die tatsächliche Situation des Kindes und der Familie so konkret wie möglich zu schildern, sondern auch darum, dass das Jugendamt als Fachbehörde eine sozialpädagogischeEinschätzung zur Gefährdung des Kindes sowie zu einer möglichen Abwendung dieser Gefährdung abgibt. Die Anrufung ist insoweit untrennbar mit dem Mitwirkungsauftrag des Jugendamts gemäß § 50 SGB VIII verknüpft. Nach Abs. 2 S. 1 der Vorschrift unterrichtet das Jugendamt insbesondere über angebotene und erbrachte Leistungen, bringt erzieherische und soziale Gesichtspunkte zur Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen ein und weist auf weitere Möglichkeiten der Hilfe hin. Im Kinderschutzverfahren beginnt diese Mitwirkungsaufgabe schon mit der Anrufung: Zur Begründung seiner Einschätzung, dass es zum Schutz des Kindes (möglicherweise) Maßnahmen des Familiengerichts braucht, muss es darlegen, wie sich das Kind – ohne Erlass einer solchen Maßnahme – entwickeln würde, ob Hilfen erbracht wurden, wie diese gewirkt haben und warum weitere Hilfen aus seiner Sicht nicht erfolgversprechend sind.

3 Anlässe und Form der Anrufung

3.1 Drei verschiedene Anrufungsanlässe im SGB VIII

Das SGB VIII sieht drei verschiedene Situationen vor, in denen das Jugendamt das Familiengericht anzurufen hat. Die Unterscheidung zwischen diesen verschiedenen Anrufungsanlässen hilft bei der Formulierung einer qualifizierten Anrufung des Familiengerichts, das so einen schnellen Überblick über die aktuelle Situation und eine erste Orientierung für die nächsten verfahrensrechtlichen Schritte gewinnt.

Zentrale Vorschrift für die Anrufung des Familiengerichts durch das Jugendamt ist § 8a Abs. 2 S. 1 SGB VIII:

„Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es das Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Erziehungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken.“

Das Gesetz unterscheidet in § 8a Abs. 2 SGB VIII also zwei verschiedene Anrufungstatbestände: Die Anrufung wegen der Erforderlichkeit einer familiengerichtlichen Kinderschutzmaßnahme und die Anrufung wegen der mangelnden Mitwirkung der Eltern an der Gefährdungseinschätzung. Wapler (in Wiesner/Wapler/Wapler 2022, § 8a SGB VIII Rn. 35) unterscheidet entsprechend prägnant zwischen einer Anrufung wegen festgestellter Kindeswohlgefährdung und einer Anrufung im Vorfeld einer (festzustellenden) Kindeswohlgefährdung.

  1. a.

    Anrufung wegen Erforderlichkeit einer familiengerichtlichen Kinderschutzmaßnahme

    Damit formuliert das Gesetz eine Anrufungsverpflichtung des Jugendamts zunächst für die Situation, dass das Jugendamt das Wohl des Kindes als gefährdet einschätzt und ein Tätigwerden des Familiengerichts zur Abwendung der Gefährdung für erforderlich hält. Es sind also die Voraussetzungen des § 1666 BGB in den Blick zu nehmen:

    1. 1)

      Liegt nach Einschätzung des Jugendamts eine Gefährdung des geistigen, seelischen oder körperlichen Wohls des Kindes vor und

    2. 2)

      sind die Eltern nicht bereit und (auch mit Hilfen nach dem SGB VIII) nicht in der Lage, die Gefährdung abzuwenden.

    muss es das Familiengericht anrufen (s. 2.2.)

  2. b.

    Anrufung zur Klärung einer (möglichen) Gefährdung

    Das Jugendamt hat das Familiengericht auch anzurufen, wenn es eine Gefährdung des Kindes für möglich hält, aber – mit seinen Mitteln – nicht in der Lage ist, die Gefährdung bzw. Nichtgefährdung abschließend einzuschätzen (2. Halbsatz).

    Diese Vorschrift ermöglicht eine frühere Einbeziehung des Familiengerichts und ist insofern Spiegelbild der Regelung in § 157 FamFG, der dem Familiengericht aufgibt, in Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB mit den Eltern und gegebenenfalls dem Kind zu erörtern, wie eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls abgewendet werden kann. Das Familiengericht ist also nicht nur zur Intervention im Falle einer aus Sicht des Jugendamts festgestellten Gefährdung, sondern auch zur zur Prüfung einer möglichen Gefährdung, verpflichtet (BT-Drs. 16/6308, S. 237).

    Eine Anrufung des Familiengerichts nach Halbsatz 2 (Anrufung im Vorfeld) kommt insbesondere dann in Betracht, wenn

    1. a.

      das Jugendamt die Durchführung eines Erörterungstermins für notwendig hält, um den Hilfeprozess aufzunehmen bzw. zu fördern.

    2. b.

      die Gefährdung nur mit Mitteln des Familiengerichts abschließend eingeschätzt werden kann. (So kann das Familiengericht anders als das Jugendamt z. B. die sachverständige Begutachtung des Kindes anordnen).

      • Ruft das Jugendamt das Familiengericht an, um mit Hilfe der Autorität des Familiengerichts im Rahmen eines Erörterungsgesprächs gemäß § 157 FamFG Fortschritte im Hilfeprozess zu erzielen, ist sorgfältig abzuwägen, ob die Anrufung des Familiengerichts das Vertrauensverhältnis zwischen Jugendamt und Familie belastet. Wichtig ist daher, der Familie das Vorgehen transparent und soweit möglich nachvollziehbar zu machen.

  3. c.

    Anrufung nach Widerspruch der Eltern gegen eine Inobhutnahme

    Ein dritter Anrufungstatbestand findet sich schließlich in § 42 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 SGB VIII, wenn die Eltern der Inobhutnahme widersprechen, eine Herausgabe an die Eltern aber wegen einer fortbestehenden Gefährdung des Kindes ausgeschlossen ist.

3.2 Beurteilungsspielraum des Jugendamts

Bei der Frage, ob das Tätigwerden des Familiengerichts erforderlich ist, kommt dem Jugendamt ein Beurteilungsspielraum zu (Wiesner/Wapler/Wapler 2022, § 8a SGB VIII Rn. 37).Footnote 1 Kommt es allerdings im Rahmen seiner Einschätzung dazu, dass das Familiengericht tätig werden muss, ist es verpflichtet, das Familiengericht anzurufen (Wortlaut: „hat es das Gericht anzurufen“).

Familienrichter und Familienrichterinnen klagen mitunter über (vermeintlich) verfrühte oder unstrukturierte Anrufungen. Sie haben den Eindruck, mit Fällen befasst zu werden, in denen das Jugendamt „seit Jahren nicht weiterkomme“ und nun – als letztes Instrument – das Familiengericht anrufe.

  • Um entsprechende Frustrationen zu vermeiden, empfiehlt sich, in Konstellationen, in denen ein Erörterungstermin vor dem Familiengericht vor allem genutzt werden soll, um den Hilfeprozess unter dem Eindruck eines Termins vor dem Familiengericht in Gang zu bringen, dieses in der Anrufung entsprechend deutlich zu machen (Lohse et al. 2019; zur Formulierung s. 2.4).

3.3 Inobhutnahme statt Anrufung?

Gemäß § 8a Abs. 2 S. 2 SGB VIII ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr besteht und die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden kann. Für die Fachkräfte des Jugendamts ist in dringenden Fällen nicht immer leicht zu entscheiden, ob das Kind in Obhut genommen oder versucht werden soll, über das Familiengericht im Wege eines einstweiligen Anordnungsverfahrens eine Herausnahme des Kindes aus der Familie zu erreichen.

Eine allgemeingültige Zeitspanne, wann eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann, lässt sich nicht festlegen. Es kommt vielmehr auf die Gefährdungssituation und die Arbeitsweise des örtlichen Familiengerichts (verlässlicher Notdienst?) im Einzelfall an. Dabei gilt, dass je größer und folgenschwerer der potenzielle Schaden ist, umso geringere Anforderungen an die Eintrittswahrscheinlichkeit zu stellen sind (FK-SGB VIII/Trenczek/Beckmann 2022; § 42 SGB VIII Rn. 18).Footnote 2

  • Faustregel: Jedenfalls wenn selbst die Kontaktaufnahme mit dem Familiengericht und die Klärung, bis wann mit einer Entscheidung zu rechnen ist, so lange dauert, dass die dringende Gefahr für das Kind nicht mehr rechtzeitig abgewendet werden kann, ist eine Inobhutnahme zulässig (Schlegel und Voelzke/Kirchhoff 2018, § 42 SGB VIII Rn. 108).

3.4 Form der Anrufung

  1. a.

    Überschrift und Bezeichnung

    Da es sich bei der Anrufung nach § 8a Abs. 2 SGB VIII aus verfahrensrechtlicher Perspektive um eine Anregung zur Einleitung eines Verfahrens handelt und mit ihr in das Stadium des gerichtlichen Verfahrens eingetreten wird, empfiehlt sich, die Anrufung mit „Anregung zur Einleitung eines Verfahrens gemäß §§ 1666, 1666a BGB“ zu überschreiben. Die Überschrift „Anrufung gemäß § 8a Abs. 2 SGB VIII“ ist genau so richtig, sie orientiert sich an der Anrufungsverpflichtung des Jugendamts.

    Letztlich gibt es keine „falsche“ Bezeichnung, das Jugendamt kann hier keinen Formfehler machen. Entscheidend ist, dass das Familiengericht von dem Gefährdungssachverhalt, der sein Aktivwerden erfordert, erfährt.

    Vermieden werden sollte jedoch, die Anrufung als „Antrag“ zu bezeichnen. Zum einen ist dies verfahrensrechtlich unzutreffend. Vor allem aber stärkt die Formulierung den für das Verfahren und den darüber hinausgehenden Hilfeprozess wenig förderlichen Eindruck, das Jugendamt sei Gegner der Eltern. (s. a. Häufige Missverständnisse im Kinderschutzverfahren [Kap. 43]).

  2. b.

    Aufbau und Begründung

    Hinsichtlich des Aufbaus und Begründung der Anrufung gilt im Kern dasselbe wie für sonstige Stellungnahmen des Jugendamts in einem Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB, worauf hier nicht näher eingegangen wird.

    An dieser Stelle soll nur nahegelegt werden, der eigentlichen Begründung der Anrufung voranzustellen, mit welchem Ziel das Familiengericht angerufen wird. Auf diese Weise kann das Familiengericht schnell erfassen, „wohin die Reise geht“. Dabei muss es sich nicht notwendig um einen konkreten Entscheidungsvorschlag handeln, auch verfahrensrechtliche Anregungen kommen in Betracht, zum Beispiel:

Übersicht

Das Jugendamt regt an:

  • einen Erörterungstermin gemäß § 157 FamFG durchzuführen (und/oder)

  • das persönliche Erscheinen der Mutter anzuordnen (und/oder)

  • ein Sachverständigengutachten zu der Frage … einzuholen (und/oder)

  • den Eltern die elterliche Sorge für ihr Kind A. zu entziehen, Vormundschaft anzuordnen und die Großmutter des Kindes zur Vormundin auszuwählen und zu bestellen.

4 Anregung durch andere Akteur:innen

Für andere Personen, die aufgrund ihres beruflichen Kontakts mit dem Kind oder Jugendlichen ebenfalls als Anrufende in Betracht kommen, z. B. Ärzt:innen oder Lehrer:innen, gilt keine dem Jugendamt entsprechende Anrufungspflicht.

4.1 Berufsgeheimnisträger:innen

Für Berufsgeheimnisträger:innen greift § 4 KKG. Danach sollen Berufsgeheimnisträger:innen zunächst mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird (§ 4 Abs. 1 KKG). Nur wenn ein solches Vorgehen ausgeschlossen ist bzw. erst dann, wenn es zur Abwendung der Gefährdung scheitert, sind Berufsgeheimnisträger:innen befugt, das Jugendamt zu informieren. Tun sie dies, verstoßen sie nicht gegen ihre strafbewehrte Schweigepflicht aus § 203 StGB, weil es sich nicht um eine unbefugte Weitergabe eines fremden Geheimnisses im Sinne des § 203 StGB handelt. § 4 KKG erteilt den Berufsgeheimnisträger*innen also „nur“ die Befugnis, das Jugendamt zu informieren, nicht das Familiengericht (zur Schweigepflicht und zum Datenschutz s. a. [Kap. 42]).

Eine direkte Information des Familiengerichts ist demnach grundsätzlich nur mit Einwilligung der Betroffenen erlaubt. Allerdings werden die Betroffenen in der Regel keine entsprechende Einwilligungserklärung abgeben. Ganz ausnahmsweise kommt eine direkte Weitergabe an das Familiengericht in Betracht, wenn die Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstands (§§ 32, 34 StGB, §§ 228, 904 BGB) vorliegen (FK-SGB VIII/Münder et al. 2022, – Anhang § 8b SGB III, § 4 KKG Rn. 104) also eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben des Kindes besteht, die anders nicht abwendbar erscheint.Footnote 3

4.2 Fachkräfte eines freien Trägers

Für Fachkräfte eines freien Trägers sind vergleichbare Schritte vorgesehen. Über eine Vereinbarung mit dem Jugendamt gemäß § 8a Abs. 4 SGB VIII werden sie verpflichtet, zunächst selbst eine Gefährdungseinschätzung vorzunehmen – unter Hinzuziehung einer insoweit erfahrenen Fachkraft und grundsätzlich unter Einbeziehung des Kindes oder Jugendlichen und seiner Erziehungsberechtigten. Erst wenn sie eine aus ihrer Sicht erforderliche Annahme von Hilfen nicht erreichen, haben sie das Jugendamt zu informieren. Eine direkte Anrufung des Familiengerichts kommt, ebenso wie bei anderen Berufsgeheimnisträger*innen, nur ausnahmsweise unter den Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands in Betracht.

  • Eine direkte Anrufung von Berufsgeheimnisträger*innen oder Fachkräften des freien Trägers kommt insbesondere dann in Betracht, wenn nach ihrer Einschätzung eine dringende Gefahr für Leib oder Leben des Kindes besteht und das Jugendamt trotz Information untätig bleibt.

5 Fazit

Mit der Anrufung wird das familiengerichtliche Kinderschutzverfahren eingeleitet. Es handelt sich insoweit nicht um einen „Antrag“, sondern um die „Anregung“, ein Verfahren gemäß §§ 1666, 1666a BGB einzuleiten. Das Jugendamt ist verpflichtet, das Familiengericht anzurufen:

  1. 1.

    wenn es eine sorgerechtliche Maßnahme des Familiengerichts zum Schutz des Kindes erforderlich hält.

  2. 2.

    wenn eine mögliche Gefährdung des Kindes vor dem Familiengericht geklärt werden soll.

  3. 3.

    wenn die Eltern der Inobhutnahme widersprechen, das Kind bei einer Rückkehr in ihren Haushalt jedoch nach wie vor gefährdet ist.

Die Anrufung des Familiengerichts geht einer Inobhutnahme vor, sofern die Gefahr für das Kind nicht so dringend ist, dass eine Entscheidung des Familiengerichts nicht abgewartet werden kann. Andere Personen, die in beruflichem Kontakt mit dem Kind stehen, insbesondere Ärzt:innen, Lehrer:innen und Fachkräfte freier Träger dürfen das Familiengericht nur ausnahmsweise direkt anrufen, vorrangig ist die Information des Jugendamts. Um den Übergang in das familiengerichtliche Verfahren effektiv zu gestalten, empfiehlt sich, das Anrufungsziel dem eigentlichen Text voranzustellen.