Zusammenfassung
Ziel dieses Beitrags ist es, einen Überblick über verschiedene helfende und schützende Interventionen im Kinderschutz zu geben, sowie deren Potenziale, Grenzen und Risiken aufzuzeigen. Innerhalb verschiedener Versorgungsbereiche gibt es verschiedene Zugänge zu Schutz und Hilfen sowie diverse Angebote. Unterschiedliche familiäre Kontexte verdeutlichen den Bedarf an passgenauen Hilfen. Empirische Belege für Kinder- und Jugendhilfe liefern zwar erste Hinweise auf die Wirksamkeit von Methoden, verlässliche Belege fehlen jedoch. Die Empirie legt nahe, dass die betroffenen Kinder soweit wie möglich in das Entscheidungsverfahren eingebunden werden sollten, um hohe Zufriedenheit der Betroffenen trotz Entscheidung gegen deren Willen zu erreichen. Schutzkonzept sollten in jeder Kinder- und Jugendeinrichtung erstellt und umgesetzt werden, was sich jedoch häufig als problematisch darstellt. Wichtig bleibt, fortlaufend Verbesserungspotenzial zu erkennen und entsprechende Maßnahmen umzusetzen.
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1 Einleitung
Kinderschutzsysteme umfassen mehrere Versorgungsbereiche und verschiedene Disziplinen. Entsprechend vielfältig sind die Konzepte für Schutz- und Hilfeleistungen. Der Schutz vor weiterer Gefährdung reicht von Interventionen zur Verbesserung der Erziehungskapazitäten der Eltern bis hin zu Fremdplatzierung des Kindes und zu strafrechtlichen Maßnahmen bei Tätern. Hilfen zur Bewältigung von Misshandlungsfolgen umfassen medizinische Maßnahmen, (misshandlungs- oder traumaspezifische) psychotherapeutische Verfahren und Maßnahmen zur Stärkung des sozialen Umfeldes. Hier sind die Grenzen zwischen Schutz und Hilfen oft fließend, da durch die Stärkung elterlicher Kapazitäten mitunter weitere Gefährdung vermieden werden kann. Miteinzubeziehen sind außerdem finanzielle Hilfen, die sowohl zur Bewältigung von Folgen beitragen können als auch zur Minderung eines gut belegten Risikofaktors von Vernachlässigung.
Hinzu kommt, dass sich Schutz und Hilfen je nach Art der Misshandlung unterscheiden können. Sexueller Missbrauch unterscheidet sich dabei unter anderem von den weiteren Formen der Misshandlung, da hier auch organisierte Kriminalität aus der Familie heraus vorkommt, weil es massive finanzielle Anreize durch Verbreitung von Videomaterial oder durch direkte Überlassung von eigenen Kindern zur sexuellen Ausbeutung gibt (vgl. Fegert 2020, S. 8).Footnote 1 Da Betroffene oft gleichzeitig oder nacheinander verschiedene Formen der Gewalt erfahren, müssen Interventionen entsprechend aufeinander abgestimmt werden.
2 Vielfalt als Potenzial und Risiko
Auch innerhalb der jeweiligen Versorgungsbereiche gibt es verschiedenartige Zugänge zu Schutz und Hilfen, zum Beispiel verschiedene psychotherapeutische Verfahren mit Fokus auf Kindesmisshandlung oder sexuellen Missbrauch (s. a. Hilfen und Fördermöglichkeiten dies- und jenseits der Kinder- und Jugendhilfe [Kap. 29]). Zudem fokussieren Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe je nach theoretischer Prägung eher auf das Kind oder systemisch auf die Familie als Ganzes resp. auf weitere Betreuungspersonen wie Pflegefamilien. Die Vielfalt an Zugängen, Methoden und Leistungen ist sowohl Potenzial als auch Risiko. Aus der Vielfalt kann ein maßgeschneidertes Angebot für die betroffenen Kinder und ihre Familien zusammengestellt werden. Das ist entscheidend, da Typologien misshandelnder und vernachlässigender Familien unterschiedliche Profile und damit unterschiedliche Bedürfnisse nahelegen. Bekannt geworden ist bspw. die TypologievernachlässigenderFamilien von Crittenden (1999), die zwischen desorganisierten, depressiven und emotional vernachlässigenden Familien unterscheidet: Die desorganisierten Familien leben von Krise zu Krise, Handlungen sind stark affektgetrieben, geprägt vom aktuell dominierenden Bedürfnis; Unterbrechungen und Abbrüche von Tätigkeiten sind eher Regel denn Ausnahme. In depressiv vernachlässigenden Familien sind die Eltern zurückgezogen, emotional unempfänglich, passiv und hilflos. Es geht dabei weniger um einen Mangel an Zuneigung zu den Kindern, sondern um einen Mangel, Bedürfnisse der Kinder adäquat wahrzunehmen. Beim dritten Typus, der emotional vernachlässigenden Familie liegt der Mangel wiederum nicht in der Schwierigkeit, die Bedürfnisse adäquat wahrzunehmen, sondern im Unvermögen, sich emotional auf dieses Bedürfnis einzulassen. Diese Familien sind häufiger hoch strukturiert, gut organisiert und materiell abgesichert. Allerdings sind menschliche Beziehungen durch den Blick auf die Leistung geprägt. Die unterschiedlichen familiären Kontexte von Vernachlässigung verdeutlichen noch einmal den Bedarf an passgenauen Hilfen (s. a. Hilfen und Fördermöglichkeiten dies- und jenseits der Kinder- und Jugendhilfe [Kap. 29]).
Die zweifelsohne vielfältig vorhandenen Hilfen und Leistungen bergen aber auch die Gefahr, die Übersicht zu verlieren. Die empirische Literatur weist auch für den deutschsprachigen Raum auf eine oft umfangreiche mitunter schwer überschaubare Zahl an Helfenden hin, die für einen einzelnen Fall mehrere Dutzend Fachkräfte umfassen kann (z. B. Jud 2008). Studien weisen weiter auf komplexe Wege in den Versorgungssystemen hin, die teils lange Wartezeiten und mehrere Anläufe bei der gleichen Anlaufstelle umfassen können (z. B. Fegert et al. 2001). Aus der Empirie wird dabei auch deutlich, dass ein Mehr an Maßnahmen nicht unbedingt immer besser ist und die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien in der Vielfalt auch die Orientierung verlieren können (z. B. Chaffin et al. 2011).
3 Empirische Untermauerung der Wirksamkeit von Schutz und Hilfen
Zudem fehlt in der Vielfalt an Maßnahmen und Verfahren in der Kinder- und Jugendhilfe nach Gefährdungsereignissen mit sexueller Gewalt, aber auch zu Gefährdungsereignissen mit Vernachlässigung, körperlicher oder psychischer Gewalt oft eine empirische Untermauerung ihrer Wirksamkeit und gelegentlich auch ein theoretischer Unterbau. Einige Zugänge und Leistungen beschränken sich damit auf eine, wenn auch oft hohe, Augenscheinvalidität. Ein nachfolgender Abschnitt fasst die entsprechende Evidenz für die Kinder- und Jugendhilfe kurz zusammen (ausführlicher dazu z. B. Jud 2020; Jud & Gartenhauser 2014; Kindler & Spangler 2005). Deutlich anders als für die Kinder- und Jugendhilfe ist die Situation für psychotherapeutische Interventionen bei Kindern und Jugendlichen, die nach erfahrener sexueller Gewalt psychische Belastungen mit Krankheitswert zeigen. Hier existieren nicht nur international, sondern auch in Deutschland mehrere Forschungsgruppen, die Therapieverfahren entwickelt und im Rahmen von Wirksamkeitsstudien evaluiert haben (z. B. Rosner et al. 2019). Ein Überblick findet sich beispielsweise bei Sachser et al. (2020). Trotz aller positiven Befunde zeigt sich in der ambulanten Versorgung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen in Deutschland ein heterogenes Bild mit teilweise großen Versorgungslücken, vorhandene wirksame Verfahren sind längst nicht überall verfügbar (Müller et al. 2019). Kritisch muss in der psychotherapeutischen Forschung zu Kindesmisshandlung auch der bisherige Schwerpunkt auf Traumata, insbesondere sexuellen Missbrauch betrachtet werden. Vernachlässigungen und psychische Misshandlung, die prävalenter sind und mitunter ähnlich weitreichende Folgen für die psychische Gesundheit der Betroffenen wie beispielsweise sexueller Missbrauch, haben dadurch nicht dieselbe Aufmerksamkeit erlangt, was übergeordnet auch als Vernachlässigung der Vernachlässigung kritisiert wird (z. B. McSherry 2007).
3.1 Wirksamkeit in der Kinder- und Jugendhilfe
Zwar liegen etwa zu Methoden der freiwilligen Beratung (z. B. Erziehungs- und Familienberatung) Studien mit positiven Ergebnissen vor (z. B. Kröger & Klann 2006; Lindner 2004), durch die fehlenden Kontrollgruppen und Gelegenheitsstichproben kann eine Wirkung, die zu solchen positiven Ergebnissen gelangt, jedoch meist nur ungenügend auf die Methode selbst zurückgeführt werden. Explorative Studien liefern zwar erste Hinweise auf die Wirksamkeit von Methoden der freiwilligen Beratung, verlässliche Belege stehen jedoch aus. Ein ähnliches Fazit ist auch für Studien zur Wirksamkeit invasiverer und umfangreicherer Interventionen zu ziehen (vgl. Jud & Gartenhauser 2014). Bisher kann erst auf eine umfangreiche deutsche Studie zu Effekten der Kinder- und Jugendhilfe verwiesen werden (Schmidt et al. 2002). Kindler & Spangler (2005) haben in einer praxisnahen Übersicht Merkmale besonders wirksamer ambulanter Hilfekonzepte zusammengetragen:
-
Belegbar wirksame Interventionen bei direkter Gewalt durch Misshandlung beinhalten eine intensive Unterstützung und Anleitung der Eltern bei der angemessenen Bewältigung von Konfliktsituationen in der Erziehung und bei der positiven Beziehungsgestaltung mit den Kindern.
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Für Vernachlässigung sind eine alltagsnahe, detaillierte und geplante Anleitung und Unterstützung der Eltern bei der angemessenen Versorgung und Erziehung ihrer Kinder entscheidend.
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Ebenso dauern wirksame Interventionen bei Vernachlässigung in der Regel deutlich über ein halbes Jahr und umfassen zumindest in Teilen eine aufsuchende Arbeitsweise.
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Sowohl für Misshandlung als auch für Vernachlässigung gilt, dass die Möglichkeit zur bedarfsgerechten Ergänzung durch weitere Dienste wie sozialpsychiatrische Dienste, Suchtberatung etc. entscheidend ist.
Kindler & Spangler (2005) weisen außerdem darauf hin, dass die Familie allgemein entlastende oder die Familienbeziehungen bzw. das familiäre Netzwerk allgemein fördernde Maßnahmen für sich genommen bisher eher geringe Wirkung zeigten, aber dennoch als wichtige Ergänzungen angesehen werden können.
Zum invasivsten Eingriff, der Fremdplatzierung, liegt besonders aus dem nordamerikanischen Raum umfangreiches empirisches Material vor (im Überblick Fernandez & Barth 2010), dass jedoch aufgrund der unterschiedlichen soziostrukturellen Herausforderungen und abweichenden Rechtssysteme mit Vorsicht gewertet werden muss. Der deutschsprachige Raum kann nicht mit derselben Dichte an Ergebnissen zu Platzierung aufwarten und Belege zur Wirksamkeit sind noch ausbaufähig (z. B. Aeberhard & Stohler 2008) und teils schwierig auffindbar (vgl. Jud et al. 2020). Längsschnittstudien verweisen auf eine verbesserte psychische Befindlichkeit und positive Entwicklung im Zusammenhang mit Platzierungen: In einer Metaanalyse wird besonders auf die Wichtigkeit der Kontinuität sozialer Bezüge und den Grad der Partizipation der jungen Menschen und ihrer Eltern als unterstützende Faktoren hingewiesen (Gabriel et al. 2007). Allerdings wird auch Potenzial für eine Qualitätsentwicklung aufgezeigt, etwa in Bezug auf die schulische und berufliche Benachteiligung junger Menschen bei den Hilfen zur Erziehung (Gabriel et al. 2007). Mit Blick auf den Prozess der Platzierung ist von besonderem Interesse, dass die Strategien mancher Leistungsträger, es zunächst einmal aus Prinzip mit ambulanten Hilfsangeboten zu versuchen, bevor eine (teure) stationäre Hilfeleistung eingesetzt wird, kritisch zu hinterfragen sind (Tornow 2009).
Abschließend kann festgehalten werden, dass im deutschen Sprachraum in den letzten Jahren zwar erste empirische Ergebnisse zusammengetragen wurden, die auf die Wirksamkeit der Methoden in der Kinder- und Jugendhilfe hindeuten, dass die Wirksamkeit jedoch für keine der Methoden und Leistungsbereiche als belegt betrachtet werden kann. Hinzu kommt, dass viele Leistungen in der Kinder- und Jugendhilfe wenig manualisiert sind und eher allgemein auf die Behebung einer wie auch immer gearteten Problemsituation oder Gefährdungslage ausgerichtet sind. Elemente, die spezifisch auf den Schutz vor erneuter Gewalt ausgerichtet sind oder spezialisierte Hilfeleistungen bei Misshandlungserfahrungen sind wenig im Umlauf oder nicht evaluiert.
4 Hilfen außerhalb etablierter Versorgungsbereiche
Nicht alle gewaltbetroffenen Kinder und Jugendlichen oder Erwachsene, die in ihrer Kindheit Misshandlung erfahren haben, finden Schutz und Hilfen in den etablierten Versorgungssystemen im Sozialbereich, medizinischen Sektor oder im Strafrecht. Das betrifft keineswegs nur marginalisierte Gruppen Betroffener, z. B. männliche Betroffene sexualisierter Gewalt durch Täterinnen, die Schwierigkeiten haben, geeignete Unterstützung zu finden, da ihnen nicht geglaubt wird oder ihre Erfahrungen bagatellisiert werden (z. B. Denov 2003; Gerke et al. o. J.). Auch ist die Versorgungslage in ländlichen Gebieten häufig mangelhaft; entsprechend schwierig ist es, hier geeignete Unterstützung zu finden. So machen beispielsweise Berichte Betroffener bei der Anlaufstelle der ersten Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) deutlich, dass die sich meldenden Betroffenen erhebliche Schwierigkeiten hatten, angemessene Behandlungen zu finden (Fegert et al. 2013). Viele berichteten von einer erfolglosen Inanspruchnahme mehrerer Behandlungsformen sowie einer Nutzung alternativer Angebote, beispielsweise Selbsthilfegruppen, selbst zu bezahlende Therapieformen, Coaching oder religiöse Angebote. Gleichzeitig schilderte ein Anteil der Betroffenen, überhaupt keine hilfreiche Unterstützung gefunden zu haben. Somit bleibt nicht nur ein Dunkelfeld an Personen, die ihre Misshandlungserfahrung nicht mitteilen und keine Hilfen suchen, sondern auch ein bedeutsamer Anteil an Misshandlungsbetroffenen, die aus den Angeboten im Sozial- und Gesundheitsbereich keine adäquaten Bewältigungsstrategien zum Umgang mit dem Erlebten mitnehmen können. Es besteht daher das Risiko, dass sich die Auswirkungen der Misshandlungserfahrungen bei den Betroffenen verfestigen und potenzieren.
5 Hilfen und Schutz im Übergang
Der Wechsel von Rechten und Pflichten mit Erreichen der sogenannten „Volljährigkeit“Footnote 2 im Alter von 18 Jahren markiert auch für den Kinderschutz eine klare Grenze. Maßnahmen enden mitunter abrupt, auch wenn sie fachlich nach wie vor angebracht wären. Oder sie müssen in Hilfen und Schutz für Erwachsene übertragen werden, die andere Voraussetzungen, andere Interventionen und auch andere Betreuungspersonen mit sich bringen. Der gleichzeitige Übergang in die Eigenständigkeit macht junge Menschen, die aus dem Kinderschutzsystem kommen, in dieser Phase besonders vulnerabel. Die entsprechenden Herausforderungen sind erkannt und Heimbetreuung kann beispielsweise fast überall auch über das 18. Altersjahr hinaus bedarfsorientiert weitergeführt werden. Dennoch besteht hier weiterhin viel Aufholbedarf. In der Forschung und im akademischen Diskurs hat sich „Care Leaver“ als eigenständiger Begriff für die jungen Menschen in dieser Übergangsphase etabliert (z. B. Cameron et al. 2018).
6 Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Verfahren
Kinderschutzverfahren dringen in die Privatsphäre von Familien ein. Von außen erfolgt ein markanter Eingriff in das Leben der betroffenen Kinder oder Jugendlichen. Auch wenn Entscheidungen zum Wohl des Kindes nicht immer mit dem Kindeswillen übereinstimmen müssen (dazu ausführlich Zitelmann 2001), ist es dennoch ethisch und fachlich geboten, die betroffenen Kinder (oder Jugendlichen) soweit wie möglich in das Entscheidungsverfahren einzubinden. Selbst wenn Entscheidungen gegen den Willen der betroffenen Kinder fallen, bietet die Transparenz des Prozesses bei einer guten Beteiligung der Betroffenen die Möglichkeit, dass diese die Ereignisse und Entscheidungen besser nachvollziehen und in ihre eigene Geschichte einordnen können. Auch die (noch wenig umfangreiche) Empirie legt eine hohe Zufriedenheit der Betroffenen bei hoher Partizipation trotz Entscheidung gegen den Willen des Kindes nahe (z. B. Karle & Gathman 2016). Die vielfältigen Bemühungen und die reichhaltige Literatur zu Partizipation von Betroffenen (z. B. Rücker et al. 2015) sind unbedingt als Potenzial herauszustreichen – das es allerdings zu nutzen gilt. Nach wie vor halten Studien noch deutlich zu oft fest, dass Kinderschutz nicht mit dem, sondern über das Kind stattfindet (z. B. Bühler-Niederberger et al. 2014). Auch bei Studien zur Wirksamkeit und Zufriedenheit mit Kinderschutzverfahren standen bisher vorwiegend die subjektiven Einschätzungen der Eltern im Zentrum, die Befindlichkeit und das Selbsturteil der Kinder wurden nicht oder nur rudimentär berücksichtigt (Jud & Gartenhauser 2014; s. a. Das Kind im Verfahren [Kap. 5 und 6]).
7 Schutzkonzepte
Gewaltbetroffene Kinder und Jugendliche sind mitunter gefährdet, in Schutz- und Hilfeeinrichtungen durch Fachkräfte Gewalt zu erfahren (z. B. Franke & Riecher-Rössler 2011) oder durch andere, ebenfalls gewaltbetroffene Jugendliche (Allroggen et al. 2017). Eine deutsche „Erfindung“ bietet im Kinderschutz das hohe Potenzial, Hilfen und Schutz für misshandlungsgefährdete und -betroffene Kinder nicht nur als einzelne Intervention oder Kombination zu sehen, sondern eingebettet in den Kontext einer Institution.Footnote 3 Unter einem Schutzkonzept wird hier ein System von spezifischen Maßnahmen verstanden, die für den besseren Schutz von Mädchen und Jungen vor sexuellem Missbrauch und Gewalt in einer Institution sorgen. Schutzkonzepte sind als „Zusammenspiel aus Analyse, strukturellen Veränderungen, Vereinbarungen und Absprachen sowie Haltung und Kultur einer Organisation“ zu sehen (UBSKM 2015). Die bereits in den 1990er-Jahren gestartete Entwicklung (vgl. Fegert & Wolff 2002) hat inzwischen zu einer umfangreichen Literatur geführt (z. B. Oppermann et al. 2018; Wolff et al. 2017).
Für die Entwicklung von Schutzkonzepten hat der Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch in seinem Abschlussbericht (BMJ et al. 2012) Bausteine formuliert, die einen Rahmen für die Inhalte des Schutzkonzeptes und den Entwicklungsprozess vorgeben, jedoch von jeder Institution spezifisch mit Inhalt gefüllt, angepasst und umgesetzt werden müssen (UBSKM 2015). Es wurde empfohlen, dass jede Einrichtung, in der Kinder und Jugendliche betreut werden, ein solches Schutzkonzept erstellt. Eine Übersicht der Ebenen und Elemente eines Schutzkonzeptes zeigt Tab. 30.1.
In der Umsetzung von Schutzkonzepten zeigen sich in der Praxis jedoch noch Lücken (UBSKM & DJI 2019): In vielen Einrichtungen gestaltete sich die Schutzkonzeptentwicklung so, dass dieses von der Leitungsebene „top down“ vorgegeben und nicht gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen entwickelt wurde und ihre Perspektive damit weitgehend unberücksichtigt blieb. Auch zeigte die Überprüfung von Schutzkonzepten im Rahmen des Projekts „Ich bin sicher“ deutlich, dass eingeführte Schutzkonzepte bzw. Elemente von Schutzkonzepten den Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen teils nicht bekannt waren (Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm 2016). Es zeigte sich außerdem, dass sich die Fachkräfte stark individuell in Verantwortung für die Gewährleistung von Schutz in der Einrichtung sehen und weniger die Perspektive haben, dass die Organisation hier auch in der Verantwortung steht. Als förderliche Aspekte für die Umsetzung von Schutzkonzepten konnten „eine verantwortliche Rolle der Leitung, eine positive Einrichtungskultur sowie begleitende Strukturen und Dienste“ herausgearbeitet werden (UBSKM & DJI 2019). Auch Verpflichtungen zur Erstellung eines Schutzkonzeptes, wie etwa gesetzliche Vorgaben durch Länder oder Regelungen des Trägers, haben einen hohen Einfluss darauf, ob solche Konzepte erstellt werden. In ihrem Monitoring ziehen UBSKM & DJI (2019) insgesamt das Fazit, dass Schutzkonzepte in allen Handlungsfeldern präsent sind, der Umsetzungsgrad und die Ausgestaltung jedoch noch sehr unterschiedlich sind.
8 Fazit
Der Überblick über Potenziale, Grenzen und Risiken schützender Interventionen ist keinesfalls abschließend, sondern zeigt einige übergreifende Themen auf. Wichtig bleibt, fortlaufend Verbesserungspotenzial zu erkennen und entsprechende Maßnahmen umzusetzen. Die Kosten, die eine Optimierung des Kinderschutzes mit sich bringen, müssen dabei stets auch mit Blick auf die Minimierung hoher Folgekosten gesehen werden (vgl. Habetha et al. 2012).
Notes
- 1.
Was in Deutschland vor allem auch durch den bundesweit bekannt gewordenen „Fall Staufen“ verdeutlicht wurde.
- 2.
Das Begriffspaar minder- und volljährig ist problematisch, da es eine wertende Komponente enthält.
- 3.
Vergleichbare Konzepte sind jedoch auch in anderen Staaten.
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Jud, A., Fegert, J.M. (2023). Potenziale, Grenzen und Risiken von helfenden und schützenden Interventionen. In: Fegert, J.M., Meysen, T., Kindler, H., Chauviré-Geib, K., Hoffmann, U., Schumann, E. (eds) Gute Kinderschutzverfahren. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66900-6_30
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