Im Zusammenwirken der verschiedenen Akteure im Kinderschutzverfahren lassen sich immer wieder Missverständnisse beobachten, die das konstruktive Ringen um die richtige Hilfe und die richtige Maßnahme zum Schutz des Kindes erschweren. Im Folgenden sollen daher einige der klassischen Missverständnisse ausgeräumt werden:

1 Über die Rollen der Beteiligten im Verfahren

„Das Jugendamt ist im Verfahren Gegner der Eltern“

Verfahren gem. den §§ 1666, 1666a BGB werden in der Mehrheit durch das Jugendamt angeregt. Oft kennt das Jugendamt die Familie schon lange und hat mit ihr in verschiedenen Hilfen zusammengearbeitet. Mit der Anrufung stellt sich das Jugendamt, jedenfalls aus der Perspektive der Eltern, gegen sie. Sie nehmen das Jugendamt als Gegner wahr, der „ihnen das Kind wegnehmen will“. Verstärkt wird die vermeintliche Gegnerschaft zwischen Jugendamt und Familie, wenn das Familiengericht das Jugendamt als Antragssteller im Verfahren behandelt, in dem es z. B. das Jugendamt in der Ladung oder im Sitzungsaushang als „Antragssteller“ aufführt. Auch die Sitzordnung im Termin (Jugendamt auf der „Klägerseite“ gegenüber von den Eltern auf der „Beklagtenseite“) kann den Eindruck einer Gegnerschaft von Jugendamt und Eltern verstärken.

Dieser Eindruck sollte jedoch unbedingt vermieden werden: Zum einen ist der Eindruck von Gegnerschaft schon formal nicht zutreffend: Das Kinderschutzverfahren ist kein kontradiktorisches Verfahren, in dem sich zwei Parteien gegenüberstehen. Es ist ein Amtsverfahren, das im übergeordneten, öffentlichen Interesse der Sicherstellung des Schutzes des Kindes geführt wird. Das Jugendamt ist nicht Antragssteller, die Eltern nicht Antragsgegner, folglich sind beide als Beteiligte zu führen. Das Jugendamt handelt im öffentlichen, nicht im eigenen Auftrag oder Interesse. Es nimmt mit der Anrufung den Schutzauftrag, mit seiner Beteiligung die Mitwirkungsaufgabe, wahr, die ihm als sozialpädagogische Fachbehörde zukommt.

Zum anderen ist eine Verfestigung der vermeintlichen Gegnerschaft mit Blick auf den weiteren Hilfeprozess fatal: Das Jugendamt wird auch nach Beendigung des Verfahrens mit den Eltern weiterarbeiten, sei es im Rahmen der Gewährung ambulanter Hilfen, sei es im Rahmen der Elternarbeit im Falle einer stationären Hilfe (§ 37 Abs. 1 SGB VIII). Diese Zusammenarbeit kann viel eher gelingen, wenn Vertrauen gestärkt wird und sich die Rolle des Jugendamts als Eingriffsbehörde und Gegner nicht verfestigt.

Schließlich kann das Bild von Gegnerschaft dazu verleiten, die Darstellungen des Jugendamts als übertrieben einzuschätzen. Eine solche Verfahrenstaktik liegt Jugendämtern in der Regel jedoch fern. Im Gegenteil: Jugendämter neigen viel eher dazu, (zu) zurückhaltend und ressourcenorientiert zu formulieren, um so die Gesprächskanäle zu den Eltern offen zu halten.

„Die Verfahrensbeistandschaft ist das bessere Jugendamt.“

Fachkräfte des ASD klagen mitunter, dass die Stellungnahme der Verfahrensbeiständin ebenso wie ihre Äußerungen im Termin mehr Beachtung finden als die des Jugendamts. Während das Jugendamt sich dem latenten Misstrauen ausgesetzt sieht, zu „übertreiben“ und „voreingenommen“ zu sein, würde der Verfahrensbeiständin automatisch eine neutralere Rolle und damit letztlich eine höhere Kompetenz bei der Einschätzung über die Gefährdung und der notwendigen Schutzmaßnahmen zugebilligt.

Entscheidend für das gute Gelingen eines Kinderschutzverfahrens ist jedoch, dass alle Akteure ihre Aufgaben in Rollenklarheit wahrnehmen. Nur so kann der positive Effekt der Multiperspektivität erreicht werden. Die Aufgaben von Verfahrensbeistandschaft und Jugendamt sind im Gesetz klar definiert: Während das Jugendamt insbesondere über angebotene und erbrachte Leistungen unterrichtet, erzieherische und soziale Gesichtspunkte zur Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen einbringt und auf weitere Möglichkeiten der Hilfe hinweist (§ 50 Abs. 2 S. 1 SGB VIII), haben Verfahrensbeiständ:innen vor allem das Interesse des Kindes festzustellen und im gerichtlichen Verfahren zur Geltung zu bringen sowie das Kind über Gegenstand, Ablauf und möglichen Ausgang des Verfahrens in geeigneter Weise zu informieren (§ 158b Abs. 1 FamFG). Tragen beide eher allgemein zum Kindeswohl vor, können Ungenauigkeiten und Konkurrenzen entstehen. Dem kann das Familiengericht entgegenwirken:

  • Wenn das Familiengericht im Rahmen seiner Verhandlungsleitung diese unterschiedlichen Handlungsaufträge im Blick behält und bei den Akteuren auf eine entsprechende Wahrnehmung hinwirkt, kann es maßgeblich dazu beitragen, dass sich die Aufgaben komplementär ergänzen und nicht gegenseitig verwässern.

  • Das Gericht kann den jeweiligen Beteiligten dazu auffordern, offenzulegen und zu konkretisieren, auf welche Tatsachengrundlage sich die Einschätzungen stützen und wie sich die Bewertung fachlich begründet.

„In Wirklichkeit trifft die/der Sachverständige die Entscheidung.“

Die Feststellungen des Sachverständigen sind für die Entscheidung des Familiengerichts oft maßgeblich. Denn der Sachverständige verhilft dem Familiengericht zu dem – meist psychologischen – Sachverstand, der ihm fehlt.

Auch wenn das Familiengericht mangels eigenen psychologischen, psychiatrischen oder sonstigen Sachverstands auf einen Sachverständige*n angewiesen ist, bedeutet dies nicht, dass dieser über die Anordnung bzw. das Absehen von sorgerechtlichen Maßnahmen entscheidet. Zum einen ist der Sachverständige gegenüber dem Familiengericht weisungsgebunden. Das bedeutet, dass er nur zu untersuchen und zu begutachten hat, was das Familiengericht ihm vorgibt. Dabei darf das Familiengericht ihm gerade nicht die Beantwortung von Rechtsfragen vorgeben (Ernst FF 2020, S. 195).

Vor allem aber darf das Familiengericht die Einschätzungen des Sachverständigen nicht „blind“ übernehmen. Gerade wenn die Qualität des Gutachtens zweifelhaft ist, muss das Familiengericht sich kritisch mit den Schwächen des Gutachtens auseinandersetzen. Das Gutachten ist zwar auch bei erheblichen Mängeln nicht per se unverwertbar, das Gericht hat jedoch besonders sorgfältig zu begründen, wenn es den Einschätzungen des Gutachters trotz der Mängel folgt (BVerfG 27.4.2017 – 1 BvR 563/17; 3.2.2017 – 1 BvR 2569/16). Ist das Gutachten so mangelhaft, dass entscheidungserhebliche Aspekte offen bleiben, muss das Familiengericht ggf. ein weiteres Sachverständigengutachten einholen (§ 30 FamFG, § 412 ZPO).

  • Wird die Begründung des Beschlusses diesen Anforderungen nicht gerecht, sondern stützt sich auf ein Gutachten, ohne sich damit auseinanderzusetzen, ob dieses die Entscheidung trägt oder ausreichend fundiert ist, sollte das Jugendamt die Einlegung einer Beschwerde prüfen.

(Ausführlich zu Gutachten/Sachverständigen Kap. 38, 39 und 40)

2 Über die Ermittlung des Sachverhalts

„Das Jugendamt muss im Auftrag des Familiengerichts den Sachverhalt ermitteln“

Im Kinderschutzverfahren gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Das bedeutet, dass das Familiengericht in eigener Verantwortung die für die Entscheidung notwendigen Tatsachen ermitteln muss (Prütting & Helms/Prütting 2018, § 26 FamFG Rn. 15). Anders als im normalen Zivilprozess gilt die Dispositionsmaxime, nach der bei der Entscheidung nur berücksichtigt werden kann, was die Parteien vorgetragen haben, nicht. Fehlt demnach dem Familiengericht eine bestimmte Information, muss es diese einholen, sofern sie für seine Entscheidung relevant ist. Es kann nicht das Jugendamt mit der Ermittlung beauftragen, z. B. die Einschätzung einer Kita-Erzieherin einzuholen. Denn anders als die Sachverständige ist das Jugendamt gegenüber dem Familiengericht nicht weisungsgebunden (Kunkel et al./Berneiser & Diehl 2022, § 50 SGB VIII Rn. 9), sondern Beteiligter im Verfahren. Allerdings trifft das Jugendamt zur Wahrnehmung seiner eigenen Aufgaben (Gefährdungseinschätzung gem. § 8a SGB VIII, Mitwirkung gem. § 50 SGB VIII) gem. § 20 SGB X ebenfalls ein Amtsermittlungs-, den sog. Untersuchungsgrundsatz. Die Schnittmenge der von Jugendamt bzw. Familiengericht zu ermittelnden Tatsachen ist daher in der Regel groß. Entscheidend kann das Jugendamt zur Sachverhaltsermittlung beitragen, wenn es seine Rolle als Verfahrensbeteiligter aktiv wahrnimmt, d. h., nicht nur in seiner Anrufung große Sorgfalt auf eine konkrete Sachverhaltsschilderung legt, sondern sich auch im weiteren Verlauf aktiv einbringt, z. B. durch die Anregung, eine bestimmte Person anzuhören.

„Die Richterin darf nicht mit dem Jugendamt telefonieren.“

Ob das Familiengericht in einem Kinderschutzverfahren die erforderlichen Tatsachen durch eine förmliche Beweisaufnahme erhebt oder nicht, entscheidet das Familiengericht nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 30 Abs. 1 FamFG). Im Kinderschutzverfahren gilt der Grundsatz des Freibeweises. Das heißt: Das Familiengericht ist bei der Erhebung seiner Beweise nicht an eine bestimmte Form gebunden, sodass auch die informelle persönliche, telefonische oder schriftliche Befragung zulässig ist (BT-Drs. 16/6308, S. 188). Die Richterin darf also den „kurzen Dienstweg“ gehen und mit einem der Beteiligten telefonieren. Das Gericht hat die erhobenen Beweise jedoch aktenkundig zu machen (§ 29 Abs. 1 FamFG) und den Beteiligten zur Kenntnis zu geben. Es darf die Entscheidung, sofern diese die Rechte eines Beteiligten beeinträchtigt, nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützen, zu denen dieser Beteiligte sich äußern konnte (§ 37 Abs. 2 FamFG).

Das Familiengericht hat also über die wesentlichen Inhalte des Telefonats einen Vermerk zu verfassen und diesen den anderen Verfahrensbeteiligten zukommen zu lassen. So wird der Eindruck einer im Hinterzimmer ausgehandelten Absprache von vornherein vermieden.

Bestreitet einer der Beteiligten die Richtigkeit einer Tatsachenbehauptung, auf die das Gericht seine Entscheidung hauptsächlich stützen möchte, muss es diese ohnehin im Wege des Strengbeweises (Beweisregeln der ZPO [§§ 355 ff.]) erheben (§ 30 Abs. 3 FamFG).

3 Über die Hilfegewährung

„Oft gewährt das Jugendamt Hilfen aus Kostengründen nicht.“

Lehnt das Jugendamt im Termin ab, eine bestimmte Hilfe zu erbringen, vermuten andere Verfahrensbeteiligte oder auch das Gericht mitunter Kostenerwägungen hinter dieser Entscheidung. Üblicherweise liegt der Konflikt so, dass das Jugendamt eine Trennung des Kindes von seiner Familie für erforderlich hält, die Eltern, die Verfahrensbeiständin und/oder das Familiengericht dagegen eine ambulante Hilfe für ausreichend halten, um die Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden. Die Kosten für eine stationäre Hilfe übersteigen die einer ambulanten um ein Vielfaches, sodass schon rein tatsächlich Kostenerwägungen nicht ausschlaggebend sein können. Zwar gibt es offenbar Kommunen, in denen die internen Abläufe eine Rücksprache der ASD-Fachkraft mit der Wirtschaftlichen Jugendhilfe vor der Hilfezusage verlangen, in aller Regel steht hinter der Ablehnung der Fachkraft, im Termin „spontan“ eine Hilfe zu gewähren, jedoch die fachliche Überlegung, dass die Hilfe nicht geeignet ist bzw. dass die Einschätzung über die Geeignetheit der Hilfe, die Gefährdung abzuwenden, im Fachteam vorgenommen werden sollte. Das Gericht sollte die fachlichen Erwägungen erfragen und prüfen, ob diese überzeugen können.

„Das Familiengericht kann das Jugendamt verpflichten, eine bestimmte Hilfe zu gewähren.“

Kommen Jugendamt und Familiengericht im Laufe des Verfahrens nicht zu einer übereinstimmenden Einschätzung, ob und ggf. welche Maßnahmen es braucht, um das Kind zu schützen, steht immer wieder die Frage im Raum, ob das Familiengericht das Jugendamt verpflichten kann, eine ambulante Hilfe zu gewähren, obwohl es diese für nicht geeignet bzw. nicht ausreichend hält, um das Kind zu schützen. Zwar kann das Familiengericht den Eltern aufgeben, eine bestimmte Hilfe beim Jugendamt zu „beantragen“ (§ 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB), das Familiengericht kann aber nicht das Jugendamt verpflichten, diese Hilfe auch zu gewähren. Denn für die Entscheidung, ob das Jugendamt zu Unrecht eine Hilfegewährung ablehnt, sind die Verwaltungsgerichte und gerade nicht das Familiengericht zuständig. Diese Trennung der Rechtswege wird z. T. als Hürde für einen effektiven Kinderschutz wahrgenommen (Heilmann NJW 2014, S. 2904).

Letztlich ist der Verweis auf den Verwaltungsrechtsweg auch keine praktikable Lösung, da im Kinderschutz regelmäßig schnelle Entscheidungen gefordert sind. Praktisch löst sich dieses (vermeintliche) Dilemma so auf: Das Jugendamt wird – wenn es ambulante Hilfen zum Schutz des Kindes nicht für ausreichend hält – gegen die Entscheidung des Familiengerichts in Beschwerde gehen. Kann es auch unter Ausschöpfung des Rechtswegs die aus seiner Sicht erforderliche Trennung des Kindes von seiner Familie nicht erreichen, wird es in der Regel trotz seiner Zweifel an der Geeignetheit der ambulanten Hilfe diese gleichwohl erbringen, weil eine ambulante Hilfe den Kontakt zur Familie aufrecht erhält und dem Jugendamt ermöglicht, Anhaltspunkte für eine Zuspitzung der Situation wahrzunehmen und ggf. das Kind erneut in Obhut zu nehmen bzw. erneut das Familiengericht anzurufen (ausführlich zur Debatte zur Anordnungskompetenz des Familiengerichts → s. a. Einschätzungsunterschiede konstruktiv ins Gespräch bringen [Kap. 44]).

„Engmaschige Hilfen sind als milderes Mittel einem Sorgerechtsentzug vorzuziehen.“

Bei Eingriffen in die elterliche Sorge ist – da sie mit einem Eingriff in die Grundrechte von Kindern und Eltern verbunden sind – der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz strikt zu beachten. Das bedeutet, dass das Familiengericht die Maßnahme zur Abwendung der Gefährdung anordnen muss, die am geringsten in die Grundrechte des Kindes und der Eltern eingreift (st. Rspr. BVerfG, zB 10.6.2020 – 1 BvR 572/20). Verkürzt verstanden führt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu der Annahme, dass ambulante Maßnahmen stets vorzuziehen seien. Tatsächlich gilt der Vorrang des milderen Mittels nur, sofern das mildere Mittel ebenso geeignet ist, die Gefährdung abzuwenden (vgl. BVerfG 27.8.2014 – 1 BvR 1822/14). Das heißt: Reicht eine ambulante Maßnahme nicht aus, um die Gefährdung für das Wohl des Kindes abzuwenden, ist sie nicht geeignet und kommt als milderes Mittel nicht in Betracht. Die Herausforderung für die Fachkräfte des Jugendamts ist im Kinderschutzverfahren daher häufig, darzulegen, warum auch eine hochfrequent eingesetzte Familienhelfer:in nicht ausreicht, um die Gefährdungen für das Kind abzuwenden (zur besonderen Problematik bei Risiko eines sexuellen Übergriffs vgl. BGH 6.2.2019 – 408/18; hierzu Familiengerichtliche Maßnahmen zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung [Kap. 7]).

4 Über die Entscheidung

„Das Familiengericht bestätigt die Inobhutnahme oder nicht.“

Fachkräfte des ASD formulieren häufig, dass das Familiengericht „die Inobhutnahme bestätigt habe.“ Rein tatsächlich stimmt diese Aussage, denn wenn das Familiengericht die elterliche Sorge entzieht, bleibt es bei der Herausnahme des Kindes aus seiner Familie. Trotzdem steckt in der Aussage ein Missverständnis:

  1. 1.

    Eine Inobhutnahme kann rechtmäßig sein, obwohl das Familiengericht keinen Sorgerechtseingriff ausspricht.

Denn eine Inobhutnahme setzt eine besondere Dringlichkeit voraus. Sie ist nur im Falle einer Gefahr zulässig, die so dringlich ist, dass eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann (§ 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII). Angesichts der Dringlichkeit des Handelns des Jugendamts können die Anforderungen an die Aufklärung der Situation noch geringer sein als im einstweiligen Anordnungsverfahren, insbesondere wenn es um Leib und Leben des Kindes geht. Wenn sich die Situation als im Moment so gefährlich herausgestellt hat, dass das Jugendamt nicht anders konnte, als in Obhut zu nehmen, sich im Nachhinein aber herausstellt, dass die Gefährdung zu Unrecht angenommen wurde, kann die Inobhutnahme rechtmäßig sein, die Voraussetzungen für einen Sorgerechtseingriff aber nicht vorliegen.

  1. 2.

    Nicht das Familiengericht, sondern das Verwaltungsgericht entscheidet über die Rechtmäßigkeit einer Inobhutnahme.

Auch diese Unterscheidung ist wichtig, denn die unterschiedlichen Rechtswege sind Ausdruck der Gewaltenteilung. Das Familiengericht ist gerade nicht berufen, über die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns des Jugendamts zu entscheiden. Tut es dies gleichwohl, entsteht das schiefe Bild einer vermeintlichen „Überordnung“ oder Rolle als „Prüfinstanz“ des Familiengerichts gegenüber dem Jugendamt. Ausführungen in den Gründen eines Gerichtsbeschlusses im Kinderschutzverfahren zur Recht- bzw. Unrechtmäßigkeit der Inobhutnahme überschreiten daher nicht nur den Prüfungsauftrag des Familiengerichts, sondern sind zudem geeignet, in den Augen der Familie die Autorität und Kompetenz des Jugendamts in Frage zu stellen.

„Wenn die Eltern erziehungsunfähig sind, ist das Wohl des Kindes gefährdet.“

Häufige Schwäche von Anrufungen des Jugendamts an das Familiengericht ist, dass diese sich auf die Beschreibung des defizitären elterlichen Erziehungsverhaltens fokussieren. Dies allein reicht jedoch nicht aus, um einen Eingriff in die elterliche Sorge zu rechtfertigen. Es müssen immer auch die Auswirkungen des elterlichen Erziehungsverhaltens auf das Wohl des Kindes dargestellt werden (BVerfG 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14). Denn Voraussetzung gem. den §§ 1666, 1666a BGB ist nicht allein, dass die Eltern mangelhaft erziehen, sondern dass das Wohl des Kindes dadurch gefährdet ist und die Eltern nicht bereit oder in der Lage sind, diese Gefährdung abzuwenden. Zudem ist die Entscheidung immer bezogen auf ein konkretes Kind zu treffen. Pauschale Aussagen zum elterlichen Erziehungsverhalten genügen nicht.

„Ziel ist, die beste Lösung für das Kind zu finden.“

Maßstab für einen familiengerichtlichen Eingriff in die elterliche Sorge ist eine Gefährdung des Kindeswohls. Immer wieder passiert es Fachkräften des Jugendamts, dass sie argumentieren, dass die außerfamiliäre Unterbringung für die weitere Entwicklung des Kindes das Beste sei. Diese „beste Lösung“ entspricht zwar der Logik des SGB VIII, dessen Ziel es ist, das Recht jedes jungen Menschen auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu realisieren (§ 1 Abs. 1 SGB VIII), nicht aber der Logik des familiengerichtlichen Kinderschutzverfahrens: Maßnahmen nach den §§ 1666, 1666a BGB sind nur geboten, wenn ohne sie das Kindeswohl gefährdet ist. Im Ampelbild gesprochen: Das Familiengericht wird erst im roten Bereich aktiv. Fachkräften des Jugendamts ist daher zu raten, sowohl in ihrer Anrufung als auch in ihren Beiträgen im Termin eher Formulierungen wie „Die Kindeswohlgefährdung kann nur abgewendet werden, indem … “ zu verwenden.

„Im Zweifel gilt die Unschuldsvermutung.“

Insbesondere in Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs, aber auch bei körperlicher Misshandlung eines Kindes, passiert es immer wieder, dass Eltern und ihre Rechtsanwält:innen anführen, dass das Strafverfahren ja schließlich auch eingestellt bzw. der betreffende Elternteil freigesprochen wurde. Diese Argumentation kann jedoch nicht durchgreifen: Voraussetzung einer strafrechtlichen Verurteilung ist, dass die Richter:in von der Tat durch die Beschuldigten überzeugt ist. Voraussetzung einer Kinderschutzmaßnahme ist dagegen, dass das Gericht aufgrund einer Prognoseentscheidung zu der Überzeugung gelangt ist, dass das Kindeswohl gefährdet ist. Im Strafverfahren geht es um die Nachweisbarkeit einer begangenen Tat, im Kinderschutzverfahren um die Abwendung einer bestehenden oder drohenden Gefährdung. Die Entscheidungsaufträge und -maßstäbe weichen also erheblich voneinander ab. Folglich lässt sich auch der Grundsatz des Strafverfahrens „im Zweifel für den Angeklagten“ nicht auf das Kinderschutzverfahren übertragen. Selbst wenn Zweifel an der Tat bestehen bleiben, kann eine Kinderschutzmaßnahme erforderlich sein, weil eine (weitere) Gefährdung wahrscheinlich ist. Dabei sind umso geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit zu stellen, desto größer der mögliche Schaden, also die physische und psychische Verletzung des Kindes, ist (BVerfG 7.4.2014 – 1 BvR 3121/13).

„Statt einer Entscheidung kann ein Vergleich geschlossen werden.“

Kinderschutzverfahren vor dem Familiengericht enden mancherorts regelmäßig mit einem „Vergleich“. Verfahren gem. den §§ 1666, 1666a BGB können als Amtsverfahren jedoch nicht durch einen förmlichenVergleich beendet werden. Die Beteiligten eines Verfahrens können einen Vergleich nur schließen, soweit sie über den Gegenstand des Verfahrens verfügen können (§ 36 Abs. 1 FamFG). Zwar können Eltern z. B. Vereinbarungen über die Ausübung der elterlichen Sorge treffen; die Grenze der elterlichen Verfügungsbefugnis in Bezug auf ihre elterliche Sorge ist jedoch das Kindeswohl. Folglich steht die sog. Dispositionsbefugnis den Beteiligten im Kinderschutzverfahren als Amtsverfahren – das ja im öffentlichen Interesse zur Wahrnehmung des staatlichen Schutzauftrags geführt wird – nicht zu. Das Einigungsgebot gem. § 156 Abs. 1 S. 1 FamFG, nach dem das Familiengericht in jeder Lage des Verfahrens auf ein Einvernehmen der Beteiligten hinwirken soll, wenn dies dem Kindeswohl nicht widerspricht, gilt im Kinderschutzverfahren gerade nicht. Dasselbe gilt für die Verfahrensbeistandschaft. Für diese ist – auch bei Bestellung im erweiterten Aufgabenkreis (§ 158b Abs. 2 FamFG) – kein Mitwirken am Zustandekommen einer einvernehmlichen Regelung angezeigt.

Denkbar ist, eine „Vereinbarung“ zu treffen oder eine „Selbstverpflichtung der Eltern“ in den Terminsvermerk (§ 28 Abs. 4 FamFG) aufzunehmen, wenn die Eltern im Termin ihre Mitwirkungsbereitschaft erklären, jedoch Zweifel an der Nachhaltigkeit derselben bestehen. Es sollte dann sogleich ein Folgetermin angesetzt werden, um zu überprüfen, ob die Eltern entsprechend ihrer Erklärung handeln. Letztlich entspricht ein solches „Offenlassen“ des Verfahrens jedoch nicht den Vorgaben des FamFG, weil Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls beschleunigt zu führen sind (§ 155 Abs. 1 FamFG) und die Angelegenheit entscheidungsreif ist.