Zusammenfassung
A series of German illustrated editions from a series of early English travel reports about the colony of Virginia has been published contemporarily through the copper engraver family de Bry/Merian. More important than even London, Frankfurt established itself as the primary distribution center for those engravings that would become formative for the imagination of the North American indigenous peoples. This connection has also been vital for the accounts and narratives concerning the Algonkin chieftain’s daughter Pocahontas (about 1595–1617) and her early iconography. Literary texts based on the imagination of fictionally expanded engravings that were produced after original watercolor paintings were first published in Germany in the 18th century. These texts predate the Anglo-American narrative tradition around this figure. Without direct contact to North American indigenous peoples themselves, early incarnations of a double theme simultaneously incorporating both the “barbaric” and the “noble savage” were developed in Germany based on this imagery.
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1 Pocahontas als Text- und Bildphänomen in der Frühen Neuzeit
Neben der Aztekin La Malinche ist Pocahontas sicherlich die bekannteste Indigene aus der Frühzeit der europäischen Kolonisierung Nordamerikas. Sie wurde um 1595 als Häuptlingstochter aus dem Stamm der Powhatan in der Nähe des heutigen Washington geboren und half 1608 im Alter von etwa 13 Jahren mit Nahrungsmittelgaben den vor dem Verhungern stehenden frühen englischen Siedlern in der ein Jahr zuvor gegründeten Kolonie Jamestown. Jahre später wurde sie von den Neuankömmlingen entführt und als erste Indigene in den englischen Kolonien in Nordamerika christlich getauft. Sie heiratete einen europäischen Siedler, wurde Mutter eines Sohnes und Stammmutter eines Südstaatengeschlechtes, dessen Reichtum auf dem Tabakanbau gründete. Unter ihre zahlreichen direkten Kindeskinder zählt unter anderen die ehemalige First Lady Nancy Reagan.
Pocahontas (Abb. 20.1) alias Matoaka alias The Nonpareil of Virginia alias Rebecca Rolfe selbst starb allerdings bereits 1617 im Alter von etwa 22 Jahren an einer Infektionskrankheit auf einer Reise nach England, während derer sie als ‚Werbeikone‘ der immer geldbedürftigen Virginia Company herumgereicht und unter anderem von Königin Anne empfangen worden war.
Ihre eigentliche Berühmtheit hat sie aber durch eine Episode erlangt, von der wir nur aus einem erst nach ihrem Tod veröffentlichten Bericht des einzigen, selbst betroffenen europäischen Augenzeugen wissen und deren Realitätsgehalt bis heute höchst umstritten ist. Im Winter 1607/1608 soll sie den Siedlerführer John Smith gerettet haben, der in die Gefangenschaft ihres Stammes geraten war. Smith behauptet, sie sei dem Tötungsbefehl ihres Vaters dadurch entgegengetreten, dass sie sich schützend über seinen Körper warf.
Dieser Komplex, der bis ins 21. Jahrhundert hinein vor allem im Kinofilm höchst produktiv geblieben ist,Footnote 1 ist natürlich historisch, kultur- und literaturwissenschaftlich vielfältig untersucht worden.Footnote 2 Ich selbst habe mich vor längerer Zeit mit den ersten eigenständigen literarischen Fassungen des Stoffs beschäftigt, die ausgerechnet aus Deutschland stammen. Das deutsche 18. Jahrhundert brachte noch vor den frühesten englischsprachigen Literarisierungen einen Roman, ein Singspiel und eine Erzählung mit Pocahontas im Zentrum hervor.Footnote 3 Schon von daher ist es ein Thema, das für Fragen des deutsch-englischen Kulturaustauschs von nicht geringer Relevanz ist.
Bei der Aufarbeitung der deutschen Überlieferungslinie habe ich die frühen Fassungen des 17. Jahrhunderts nur knapp registriert. Sie waren sämtlich nicht eigenständig und hatten zumeist eher einen berichtenden als einen literarischen Charakter. Auszumachen waren immerhin sieben Stück, zunächst als entsprechende Passagen in Quellenübersetzungen aus dem Englischen, deren älteste bereits auf Pocahontasʼ Todesjahr 1617 datiert ist, und dann im zeittypischen Kompilationsschrifttum.
Eigenständiger und auch folgenreicher als die Texte selbst, so soll hier im Folgenden ausgeführt werden, ist die Genese und Entwicklung der Illustrationen, die bereits diese frühen Fassungen begleiten und um die herum sich ein ganz eigenes deutsch-englisches kulturelles Wechselspiel – ein ‚Bildwechsel‘ – entwickelt hat, der auch noch durch einen niederländischen ‚Zwischenruf‘ ergänzt wird. Zugleich tut sich hiermit die Tür zu einem weit über diesen besonderen Fall hinausreichenden, niederländisch-englisch-deutschen Druck- und vor allem Bilduniversum auf, das mit den Namen de Bry und Merian verbunden ist. Als notwendige Voraussetzung ist dieses zunächst für sich knapp zu kartieren.
2 Der Kupferstecher Theodor de Bry und die Ikonographie der Indigenen Nordamerikas
Die Initial- und zugleich Zentralfigur dieser Vorgeschichte ist der 1527 oder 1528 in Lüttich geborene Theodor de Bry,Footnote 4 der zunächst die väterliche Goldschmiedekunst erlernte, sich später aber hauptsächlich auf den im Laufe des 16. Jahrhunderts immer mehr florierenden Kupferstich verlegte.Footnote 5 Er lebte einige Zeit in Straßburg, dann als calvinistischer Glaubensflüchtling in Antwerpen und wechselte von dort 1585, nachdem die Stadt an die spanische Krone gefallen war, mit seiner Familie nach London. Immer dann, wenn es in England größere Aufträge gab, war Hilfe aus Antwerpen höchst willkommen. Das Projekt, in das de Bry einstieg, war der 1588 abgeschlossene Doppelband The Mariners Mirrour, eine englische Übersetzung und Bearbeitung des ersten großen Seeatlas des niederländischen Kartographen Lucas Janszoon Waghenaer, der zuerst 1584 unter dem Titel Spieghel der Zeevaerdt in Leiden erschienen war.
Es handelte sich hierbei um einen der frühesten opulenten und sehr kostspieligen Bände, die Textdruck und Kupferstich miteinander verbanden. Es war zwar nicht völlig unerhört, den Hochdruck des Buchdrucks mit dem Tiefdruck des Kupferstichs zusammenzubringen, doch systematische Kombinationen waren technisch aufwändig und wurden erst in der Zeit um 1600 langsam zu einem breiter genutzten Geschäftsmodell. Produziert wurden Atlanten, Anatomiebücher, Architekturbände usw., – kurz: alles, was vom feineren Strich und der größeren Detailfülle profitierte, die der Kupferstich gegenüber dem Holzschnitt ermöglichte.
De Bry hatte bis dahin, wie es üblich war, Kupferstiche als Einzeldrucke hergestellt und war hier nun erstmals in ein derartiges Buchgroßprojekt eingebunden. Durch seine Arbeit an den Seekarten kam er auch mit den aktuellen englischen Kolonialbestrebungen in Kontakt. Zentral war hier der Geograph und Schriftsteller Richard Hakluyt, der Berichte von englischen Seereisenden zusammentrug und diese ab 1589 auch in Sammelausgaben unter dem Titel The Principal Navigations, Voyages and Discoveries of the English Nation veröffentlichte.Footnote 6 Sein Ziel lag vor allem darin, durch eine Verbreitung von Informationen die englischen Anstrengungen in der Kolonialisierung zu flankieren und zu befördern.
Hakluyt versorgte nun de Bry mit Material, das für diesen hochattraktiv war. Während seine eigene geplante Edition vor allem große Mengen von Texten miteinander verband, sollte der Partner herausragende Reiseberichte in Kombination mit hochwertigem Bildmaterial herausgeben und das sehr profitable Publikationsmodell, an dem er aktuell als Kupferstecher mitwirkte, in Zukunft in Eigenregie durchführen. Hakluyt wollte de Bry somit als zusätzlichen Arm in seinem breit angelegten Propagandafeldzug für die Erforschung und Eroberung der Welt durch England nutzen.
De Bry ging mit dem Material, das er von Hakluyt und anderen erhalten hatte, nach Frankfurt, der Heimatstadt seiner zweiten Ehefrau und durch ihre Buchmesse einer der europäischen Knotenpunkte des Buchdruckgewerbes und -handels. Als Band I seiner später so von ihm benannten Americae-Reihe erschien dann im Jahr 1590 eine Fassung von Thomas Harriots Bericht über die erste, bald gescheiterte englische Koloniegründung auf der Insel Roanoke vor der Küste des heutigen North Carolina in den Jahren 1585/86: A Briefe and True Report of the New Found Land of Virginia. Dieser Bericht war zuerst 1588 in England im Druck erschienen, dort allerdings als reine Textfassung. Vor dem Druck in Frankfurt waren auch schon mehrere lateinische Übersetzungen auf den Markt gekommen, ebenfalls ohne Illustrationen.Footnote 7
De Bry hatte nun aber auch die heute so berühmten, zunächst noch nicht mitpublizierten Aquarelle zur Verfügung gestellt bekommen, die das Expeditionsmitglied John White in Amerika angefertigt hatte und die vor allem das Leben der dort ansässigen Algonkin dokumentierten (Abb. 20.2). In dem 1590 in nicht weniger als vier Paralleldrucken auf Deutsch, Englisch, Französisch und Latein erscheinenden großformatigen Prachtband wurden diese heute ikonischen Bilder aus dem frühen Nordamerika nun erstmals der Öffentlichkeit präsentiert (Abb. 20.3). Es handelte sich, wie deutlich geworden sein dürfte, um ein sorgfältig vorbereitetes, auf den gesamteuropäischen Markt zielendes Druckunternehmen.Footnote 8
Auch der Band II der ReiheFootnote 9 ging direkt auf den Aufenthalt Theodor de Brys in London zurück. Es handelt sich um eine Sammlung von Berichten über den französisch-hugenottischen Siedlungsversuch in Florida aus den Jahren 1562–1565, der von der in dieser Region konkurrierenden spanischen Krone schließlich vereitelt worden war. Auch hier bestand das Attraktive in der Verbindung von Text und bis dahin noch nicht veröffentlichten Bildvorlagen von Jacques Le Moyne de Morgues.Footnote 10
Etwa von diesem Moment an emanzipierte sich das Unternehmen von seinem Initiator Hakluyt. Es war klar geworden, dass man mit dem Modell des illustrierten Reiseberichts, der von Frankfurt aus europaweit vertrieben wurde, viel Geld machen konnte. Es folgten unter Theodor de Bry und seinen beiden Söhnen sowie seinem Schwiegerenkel Matthäus Merian bis 1634 in zwei Reihen insgesamt 25 Bände mit Amerikaberichten sowie solchen von Reisen nach Ostasien. Lediglich die Viersprachigkeit gab man auf. Ab dem Band II erschienen die Texte nur noch auf Deutsch und Latein.
Der Hauptsitz des Unternehmens auf der Frankfurter Zeil trug den Namen „Zum indianischen König“,Footnote 11 und in seiner Auslage fanden sich immer Exemplare dieser ‚Paradereihe‘ des Verlags, mit der dieser deutlich mehr als die Hälfte seines Gesamtumsatzes erzielte. Während die ältere Forschung sie primär als Propagandainstrumente eines dezidiert protestantischen und am liebsten noch eines calvinistischen Kolonialismus betrachtet hat,Footnote 12 liegt der Fokus in der letzten Zeit darauf, die de Brys als höchst erfolgreiche Geschäftsleute zu präsentieren, die ihre Bücher sehr wohl auch in katholischen Gebieten verkaufen wollten und die für das Ziel der Gewinnmaximierung zahlreiche Kompromisse eingingen.
So konnte etwa nachgewiesen werden, dass in den jeweiligen lateinischen Fassungen, deren Absatzmärkte vor allem in den südeuropäischen Ländern lagen, die gar nicht so seltenen antikatholischen Passagen der Vorlagen gekürzt oder gestrichen wurden, um die entsprechende Zensur zu umgehen. Dies erfolgte ohne konkrete Hinweise und wurde auch in der Forschung erst jüngst überhaupt bemerkt.Footnote 13
Vielleicht noch ‚großzügiger‘ als mit den Texten selbst ging man mit dem Bildmaterial um: Wo es an Originalabbildungen mangelte, dachte man sich recht freihändig das Erwünschte ausFootnote 14 oder übernahm Motive aus anderen Kontexten. So trägt etwa die Figur aus dem Band I, die ein religiöses Idol der Algonkin darstellen soll (Abb. 20.4), eine Kopfbedeckung oder eine Haartracht, die eigentlich in die Bildwelt der Indigenen aus Florida im Band II der Reihe gehört (Abb. 20.5).Footnote 15 Weil die Aquarelle von John White wohl kein entsprechendes Motiv boten, bediente man sich bei dieser ebenfalls schon in Arbeit befindlichen Sammlung oder lehnte sich zumindest bei dieser an.
Ein weiteres Modell ist das der Effektsteigerung durch Dramatisierung. Wenn sich etwas Entsprechendes anbot, um die Verkäuflichkeit der Bände zu erhöhen, war man im Hause de Bry nicht zimperlich. In der Forschung spricht man in diesem Zusammenhang auch von einer sekundären ‚Barbarisierung‘, etwa in Bezug auf die Betonung der heidnischen religiösen Zeremonien sowie die Phänomene der Nacktheit oder der Anthropophagie.Footnote 16 Ein gutes Beispiel bietet hier die Beschreibung der Reise von Hans Staden nach Südamerika. Der Frankfurter Kupferstecher druckte den erstmals 1557 veröffentlichten Bericht 1593 als Band III der Americae-Reihe nach und erweiterte die beigefügten schlichten Holzschnitte teils zu opulenten und höchst eindrücklichen Schreckensszenarien (Abb. 20.6 und 20.7).Footnote 17
Hierbei handelt es sich um Veränderungen, die durchaus in einem Spannungsverhältnis zur Ursprungsintention des Initiators Richard Hakluyt stehen. Diesem war es um die Beförderung der Besiedlung der neuen Welt und einen Handel mit dieser gegangen, wobei ihm die Aquarelle, die John White von den Algonkin angefertigt hatte, sehr zupass kamen. Sie zeigten die Indigenen vor allem in sozialen Zusammenhängen und ihrem friedlichen, alltäglichen Tun. Der hochgestellte Krieger von Abb. 20.2 vermittelt dabei geradezu die Anmutung eines Idealmenschen der Renaissance. Auch wenn die spärliche Kleidung, die Haartracht und einige Accessoires fremd erscheinen mögen, so treten uns in den Bildern von John White Menschen wie du und ich entgegen, bei denen sich Anstrengungen, sie aus kolonial-europäischer Sicht zu ‚zivilisieren‘, durchaus vielversprechend erscheinen.Footnote 18
In Deutschland, das selbst am kolonialen Geschehen der Zeit kaum beteiligt war, konnte eine so betriebene ‚Werbung für die neue Welt‘ hingegen kaum eine Rolle spielen. Es war eher genau andersherum so, dass eine visuelle Dramatisierung die Verkaufszahlen zu erhöhen versprach. Dies ist auch der Weg, der mit den Pocahontasillustrationen auf lange Sicht gegangen wurde. Im Zuge des Transfers von England auf den Kontinent wird mit der Kappung der realen Kontakte nach Virginia die Bildsprache schrittweise immer drastischer und die dargestellten Menschen zugleich immer fremdartiger. Dies soll im Folgenden als ein spezifisches Phänomen der ‚Übersetzung‘ im Sinne einer politisch-kulturellen Transposition gefasst werden, die sich auf die jeweils herrschenden Interessen und Gegebenheiten neu einstellt. Dass diese Entwicklung auf der Bildebene dann auch wiederum Rückwirkungen auf die Textebene hat, wird Gegenstand des Schlussabschnitts.
3 Der Eintritt von Pocahontas in die Bildwelt von John White und Theodor de Bry
Pocahontas war bei der Gründung der Firma de Bry in Frankfurt und der Publikation des Bandes mit den Kupferstichen nach den Aquarellen von John White 1590 noch nicht geboren. Doch die Reihe der Americae-Publikationen war ein Langzeitunternehmen. Die ersten neun Bände erschienen in zügiger Abfolge bis 1602, dann pausierte die Serie, bis sie im Jahre 1617/18 wiederum einsetzte.
Der Band X, mit dem die Reihe neu startete, war wie zuvor der Band I erneut vor allem den aktuellen englischen Kolonialbestrebungen in Nordamerika gewidmet.Footnote 19 In dem Sammelband enthalten waren zwei Texte über den zweiten und nun dauerhaft erfolgreichen Siedlungsversuch in Virginia, der ab 1607 angestellt worden war. Die Berichte vom Sekretär der Kolonie Ralph Hamor (1615) und vom zeitweiligen Leiter der Kolonie John Smith (1616) reichen in der Chronologie der Ereignisse sehr nah an die Gegenwart heran.
Dieser Neueinsatz ist nun auch der Punkt, an dem Pocahontas als Figur die Bühne betrat – und zwar gleich auf dem Titel:
Zehender Theil AMERICAE Darinnen zubefinden: Erstlich/ zwo Schiffarten Herrn AMERICI VESPUTII [...]. Zum andern: Ein gründlicher Bericht von dem jetzigen Zustand der Landschafft Virginien […]. Beneben einer Heyrath deß Königs Powhatans in Virginien Tochter/ mit einem vornemmen Englischen […]. (In Hamor 1618)
Namentlich erwähnt wird sie hier zwar noch nicht, doch geschieht dies praktisch zeitgleich in einer preisgünstigeren ParallelausgabeFootnote 20 im kleineren Quartformat, die im Verlag Hulsius in einer Kooperation mit dem Verlag de Bry bereits unter der Jahresangabe 1617 erschienen ist.Footnote 21
Dreyzehnte Schiffahrt Darinnen Ein Warhafftiger vnd Gründtlicher Bericht/ von dem jtzigen Zustandt der Landtschafft Virginien; [...] Sampt Einer Relation, wie König Powhatans in Virginien Tochter/ Pocahuntas genant/ Christlichen getaufft vnd mit einem Englischen verheurathet worden.Footnote 22
Pocahontas wurde nach der Rettung von John Smith und den Nahrungsmittelspenden in den Jahren 1607 und 1608 von 1613 bis 1617 erneut zu einer zentralen Figur in der Kolonie. Den mittlerweile besser etablierten SiedlernFootnote 23 war es gelungen, sie zu entführen und zum Christentum zu ‚bekehren‘. Ihre Hochzeit mit John Rolfe 1614 bescherte der Kolonie für eine Weile den sogenannten ‚Pocahontas-Frieden‘, der erst Jahre nach ihrem Tod von den Indigenen wieder aufgekündigt wurde, als sie merkten, wie der Siedlungsdruck durch die immer zahlreicheren Neuankömmlinge kontinuierlich zunahm. Die nun abgedruckten Berichte enden allerdings bereits vor dieser Wende und thematisieren auch die berühmte Rettungstat aus den Jahren 1607/08 immer noch nicht, von der erst in der späteren Generall Historie of Virginia von John Smith aus dem Jahr 1624 erstmals die Rede sein wird.
Die Übersetzungen der Berichte erscheinen bei alldem weitgehend getreu. Eine kleine Ergänzung zum Beitrag von Ralph Hamor zeigt allerdings, dass es sich hier nicht nur um isolierte Texte handelt, die über den Kanal nach Frankfurt kamen, denn auch der Tod von Pocahontas im Frühjahr 1617, der in den schon zuvor publizierten englischen Vorlagen natürlich noch gar nicht enthalten sein konnte, wird hier zumindest knapp vermeldet.Footnote 24 Auch wenn dabei irrtümlich angenommen wurde, dass ihre Taufe erst nach ihrer Hochzeit stattgefunden habe, zeigt dies doch die Kontinuität des Kontakts nach EnglandFootnote 25 und das Interesse an der Aktualität des Berichteten.
Was sich im Zuge der Übertragung weiterhin verändert, sind zwei Dinge, die eng zusammenhängen. Zunächst ist wichtig, dass die Berichte, die in England selbst Teil eines nicht abreißenden, schnell gedruckten und begierig aufgenommenen Stroms von Nachrichten aus den Kolonien waren, im neuen Kontext quasi aus dem Stand kanonisiert wurden. Sie landeten umgehend in sorgfältig hergestellten und für die Dauer produzierten Vorzeigebänden. Unmittelbar damit verknüpft sind die qualitativ hochwertigen Illustrationen, die weiterhin zum Prinzip dieser Serie gehörten. Der Band X ist der Tradition der Reihe gemäß mit großformatigen Kupfern versehen, für die es aber in diesem Fall keine konkreten Vorlagen gab. Johann Theodor de Bry, der letzte verbliebene Familienangehörige aus der Londoner und der frühen Frankfurter Zeit musste sie also gleichsam ‚erfinden‘ (Abb. 20.8). Die Erstdarstellungen von Pocahontas in konkreten Geschehenszusammenhängen sind mithin rein imaginiert – das aber so überzeugend, dass sie bis in die neuere Forschungsliteratur hinein immer wieder einmal nachgedruckt wurden (Abb. 20.9).Footnote 26
Die Stiche sind technisch-künstlerisch gut gemacht und wirken inhaltlich-atmosphärisch stimmig. Wenn man sich die erste Darstellung von Pocahontas und den beiden bestochenen Indigenen anschaut, die sie zur Entführung auf das englische Schiff locken sollten, so finden sich zahlreiche Übernahmen aus der bereits bekannten Bildwelt. Zu nennen sind der Kopfschmuck und der Quastenschwanz des Mannes, die Perlen- oder Muschelkette, der Fransenrock sowie die gegenüber dem europäischen Usus kurzen Haare der Frauen und auch die Tätowierungen am Unterschenkel, die hier zu einer Fußkette transformiert erscheinen. Johann Theodor de Bry, der ja schon 1590 am Band I beteiligt war, ist knapp 30 Jahre später noch einmal in dieses Bilduniversum zurückgekehrt.
Wie gut ihm dies gelungen ist, zeigt ein etwas zeitversetzter englischer Parallelversuch in der großangelegten Generall Historie of Virginia, die erneut von John Smith stammt und im Jahr 1624 erschienen ist. Dies ist nun der Text, in dem die reale oder imaginierte Rettungstat von Pocahontas erstmals der Öffentlichkeit enthüllt wird. Smith erzählte von dieser Begebenheit erst, als alle anderen Beteiligten – vor allem aber Pocahontas und ihr Vater – nicht mehr lebten. Auch sein Bericht ist mit einigen Stichen versehen, von denen einer auch die zum ersten Mal Rettungstat selbst zeigt (Abb. 20.10).
Ganz offensichtlich reicht die Bildqualität bei weitem nicht an die Visualisierungen aus dem Hause de Bry heran, auch wenn hier ebenfalls das Prinzip gewählt wurde, aus dem älteren Material von White und den Frankfurter Kupferstechern zu kompilieren.
In der Abb. 20.11, die offenbar die Beschwörungszeremonien vor der Verurteilung von Smith zeigen soll, sind insgesamt vier ältere Vorlagen verarbeitet und dabei teils auch verändert worden.Footnote 27 So ist John Smith selbst natürlich ursprünglich kein Teil der Darstellung der um das Feuer versammelten Gruppe von Indigenen gewesen. Die Grundlage der Zusammenstellung ist eindeutig der Frankfurter Druck von den de Brys. Erkennbar ist dies vor allem an der vom ‚Idol‘ zum ‚Häuptling‘ umgedeuteten Figur oben in der Mitte, die ursprünglich aus der Florida-Bildwelt stammt und für die gar keine Aquarellvorlage von John White vorliegt. Die Transferrichtung ging also keineswegs nur einseitig von England nach Deutschland, sondern konnte auch den umgekehrten Weg nehmen.Footnote 28
In Frankfurt übernahm man nun im vorletzten Band XIII der Americae-Serie von 1628 Auszüge aus dem insgesamt sehr umfangreichen Text von Smith in Übersetzung, ließ aber die zugehörigen, grob zusammengestückelten Stiche als Vorlage links liegen.Footnote 29 Mittlerweile war auch Johann Theodor de Bry gestorben, so dass keiner von denjenigen mehr am Leben war, die im Jahr 1590 die Bildwelt der Algonkin an die europäische Öffentlichkeit gebracht hatten. Aus dem Verlagshaus de Bry war mittlerweile das Verlagshaus Merian geworden. Entsprechend lockerte sich der Bezug zu den Vorbildern. In dem einzigen Kupfer, das die neu enthüllten Geschehnisse um Pocahontas illustriert, werden die drei aufeinanderfolgenden Kernszenen des Geschehens – die Gefangennahme von John Smith, die Anrufung der Götter um Rat, wie mit ihm zu verfahren sei, sowie die von Pocahontas vereitelte Hinrichtung – auf einer einzigen Tafel gemeinsam präsentiert (Abb. 20.12).
Schaut man genau hin, so erkennt man noch einige Elemente des Ambientes von White und de Bry. Zu sehen sind die typischen, tonnenförmigen Langhäuser, und einige der Indigenen tragen den aus Abb. 20.2 und 20.3 schon bekannten ‚Hahnenkamm‘ mit Einzelfedern. Die ausgestopften Vögel auf den Köpfen einiger anderer könnten dagegen erneut aus der Florida-Ikonographie aus dem Band II der Americae-Reihe stammen.Footnote 30 Auffällig ist weiterhin der kreisrunde Federkranz des Häuptlings, der sich bei White und de Bry noch gar nicht findet und im Zusammenhang mit den Algonkin erstmals auf der Virginiakarte von John Smith von 1612 erscheint (Abb. 20.13).
Ob dieser Kopfschmuck, der hier recht überraschend auftaucht, nun allerdings wirklich der visuellen Erinnerung von Smith selbst entsprach, die er an den Stecher weitergegeben haben mag, ist unklar und angesichts der sonstigen zahlreichen Bildimporte aus verschiedenen Quellen, die die Karte enthält, auch eher unwahrscheinlich. Der Indigene rechts auf der Karte etwa stammt ganz eindeutig von White über de Bry, und auch die Körperhaltung des Powhatan links oben entspricht genau derjenigen des ‚Idols‘ bei den Frankfurter Kupferstechern (Abb. 20.4). Dessen variierte Kopfbedeckung wiederum ist im Bilduniversum der de Brys ebenfalls präsent. So findet man in den 1599 und 1602 erschienenen Bänden VIII und IX zahlreiche Abbildungen von Indigenen aus Guayana und Mexiko mit analogen Federkränzen.Footnote 31 Die Dinge scheinen sich hier mit dem zeitlichen Abstand immer mehr verwirrt zu haben, wobei die effektvolle Inszenierung schrittweise das Übergewicht gegenüber der sachlichen Akkuratesse gewonnen hat.
In der Dreifachabbildung aus dem Band XIII der Americae-Reihe (Abb. 20.12) wird dies vor allem bei der in den Bildvordergrund gerückten Beschwörungszeremonie deutlich. Hier versammeln sich die Indigenen mit aus fast allen Teilen des Doppelkontinents zusammengesuchten Kopfbedeckungen zu einer pittoresken Schar. Eine Tendenz ins Groteske erhält die Szene dann mittels exzentrischer Körperhaltungen der Priester bei ihren – wie es scheinen soll – heidnischen Zauberkunststücken. Hierin liegt ein wichtiger Schritt bei der zuvor angekündigten fortschreitenden Barbarisierung der Indigenen. Diese ist vom Text von John Smith angetriebenFootnote 32 und findet sich in Ansätzen auch in den englischen Kupfern aus dem Jahr 1624 (Abb. 20.10 und 20.11). Allerdings gehen die eigenständigen kontinentaleuropäischen Weiterentwicklungen nicht zuletzt in ihrer gestalterischen Attraktivität deutlich über diese hinaus. Auf der Folie dessen, was noch folgt, ist aber auch zu betonen, dass diese Entwicklung die Figur von Pocahontas selbst noch ebenso wenig erfasst, wie dies auf den Kupferstichen von 1617/18 (Abb. 20.8 und 20.9) der Fall gewesen ist.
Bei den beiden ersten deutschsprachigen Versionen der Geschehnisse um die Häuptlingstochter außerhalb der Americae-Reihe ereignet sich auf der Ebene der Abbildungen nichts Neues. In der Zusammenführung der beiden Erzählstränge um Pocahontas durch Johann Ludwig Gottfriedt (1631) werden die drei deutschen Illustrationen, auf denen sie zu sehen ist (Abb. 20.8, 20.9 und 20.12) einfach reproduziert, und die Nacherzählung von Erasmus Francisci (1670) bleibt ganz unbebildert.Footnote 33 Dies ändert sich erst bei der letzten mir bekannten deutschsprachigen Bearbeitung des 17. Jahrhunderts durch Eberhard Werner Happel im zweiten Teil seiner Grösten Denckwürdigkeiten der Welt aus dem Jahr 1685.
Happel ist hier der einzige deutsche Übersetzer und Kompilator, der nicht in der bisher fokussierten direkten ‚deutschen‘ Überlieferungslinie steht. Allerdings greift auch er nicht auf ein englischsprachiges Original zurück, sondern auf die recht geschickt dramatisierende niederländische Nacherzählung von Simon de Vries im zweiten Teil seiner wenige Jahre zuvor erschienenen Curieuse Aenmerckingen Der bysonderste Oost en West-Indische Verwonderenswaerdige Dingen aus dem Jahr 1682.Footnote 34 Der Band von de Vries enthält zu dieser Episode auch eine hochinteressante Illustration, die bei Happel in gespiegelter Form, ansonsten aber inhaltlich getreu übernommen wird (Abb. 20.14).
Der Stecher rückt die Rettungsszene hier erstmals überhaupt eindeutig in den Bildmittelpunkt und lässt sie einen großen Teil des Raumes füllen. Neben deutlichen Anknüpfungen an die Tradition von White und de Bry in Form des Tonnendachs und der hockenden, mit einem Federkranz bekrönten Figur im Hintergrund findet sich noch eine weitere Steigerung der dramatisierenden und exotisierenden Elemente. Priesterfiguren mit phantastischen Kopfbedeckungen oder eher -aufbauten vollführen endgültig groteske Tänze, die das Ganze wie eine Art Hexensabbat wirken lassen. Lokal ist das Geschehen aus dem konkreten Nordamerika in ein südliches ‚Irgendwo‘ verschoben, wie vor allem die Palmen im Hintergrund zeigen.
Denkbar ist hier ein konkreter niederländischer Einfluss. Die Niederlande hatten ihre einzige nordamerikanische Kolonie Nieuw Nederland bereits 1667 im Frieden von Breda gegen eine Zusicherung der Oberhoheit in Surinam eingetauscht. In der westlichen Hemisphäre konzentrierten sich ihre Besitzungen damit auf einige tropische Karibikinseln und ebenfalls sehr heiße Gebiete im Nordosten Südamerikas.
Zugleich wird die körperliche Nähe zwischen dem liegenden Smith und der über ihn gebeugten Pocahontas betont, und erstmals wird auch in der Abbildung selbst der Unterschied der Hautfarbe in Szene gesetzt.Footnote 35 Diese dezidiert ‚barbarische‘ Pocahontas wird hier zum ersten Mal in der gedruckten Bildtradition ihrem Namen gemäß zu einer PoC, einer Person of Colour.
Die Illustration selbst und der ebenfalls auf seine Weise das Geschehen dramatisierende Text bleiben dabei durchaus in Verbindung zueinander. Was allerdings aus dieser Linie ausschert und die Interpretation der Abbildung in eine ganz neue Richtung lenkt, ist der irritierende Titel des Stichs, der ihm in der deutschen Fassung gegeben wird. Heißt er bei de Vries schlicht „Virginiaense Ceremonien“,Footnote 36 so erscheint bei Happel ein überraschendes: „Die barbarische Liebe“. Damit wird auf eine Begründungsmöglichkeit für die unerwartete Rettungstat hingewiesen, die in de Vries’ und Happels Text wie in all ihren Vorläufern selbst gar nicht enthalten ist. Schon bei Smith ist eine Erklärung für Pocahontas’ Tun gänzlich ausgeblieben,Footnote 37 wobei bereits das junge Alter von kaum zwölf Jahren einen plötzlichen Liebesaffekt nur schwer vorstellbar macht. Bei de Vries soll die Ursache eindeutig im göttlich inspirierten Affekt des Mitleids liegen, was bei Happel nochmals verstärkt erscheint. In einer neu hinzugefügten Zwischenüberschrift direkt vor ihrem Auftreten wird Pocahontas bei ihm ganz ausdrücklich als „Das mitleidige Fräulein“Footnote 38 in die Handlung eingeführt. Die sentimental-erotische Option der Happel-Illustration ist hier tatsächlich ein Novum, das sich aber – wie sich noch andeuten wird – im späten 18. Jahrhundert auch auf die Textebene übertragen und im 19. Jahrhundert dann als Begründung für ihre unerhörte Tat weitestgehend durchsetzen wird.Footnote 39 Sie setzt voraus, dass das sehr jugendliche Alter der historischen Pocahontas von rund zwölf Jahren im Laufe der Zeit aus dem Blick geraten ist, was sich an der Happel-Illustration bereits ganz gut erkennen lässt: Die indigene junge Frau ist weder von ihren Zügen noch von ihrer Körpergröße her irgendwie als ‚kindlich‘ markiert.
4 … und die Folgen: Ein Ausblick auf das 18. Jahrhundert
Einerseits endet hier eine Geschichte, andererseits aber auch nicht. Für das gesamte 18. Jahrhundert sind mir keine weiteren Pocahontasillustrationen aus Deutschland oder den Niederlanden bekannt, und auch aus dem angloamerikanischen Raum stammen die ersten stilbildenden Abbildungen erst wieder aus dem 19. Jahrhundert.Footnote 40
Wenn man aber vom Bild wieder zurück ins Textmedium geht, findet sich sehr wohl eine Fährte, denn alle bekannten deutschen literarischen Fassungen des 18. Jahrhunderts weisen auf Vorlagen zurück, in denen die hier aufgefächerte, höchst intensive deutsche Bildtradition eine große Rolle spielt und zu der es im englischen Sprachraum bis dahin und auch noch eine Zeit darüber hinaus kein gleichgewichtiges Pendant gab: Über die wenig geschickten Abbildungen zu Smiths Generall Historie of Virginia ist man hier einfach nicht hinausgekommen. Es sind also wohl am ehesten die reichhaltigen Bilder, die die Initialzündungen für die früh gestartete deutsche Konjunktur dieses Stoffs geliefert haben. Beim 1781 erschienenen Pocahontasroman von Carl Friedrich Scheibler,Footnote 41 dürfte es die illustrierte Kompilationsversion von Johann Ludwig Gottfriedt gewesen sein, die das Interesse ausgelöst hat,Footnote 42 und beim Poacahontassingspiel von Johann Wilhelm Rose (1784/2008) die ebenfalls bebilderte Fassung des Bandes XIII der Americae-Serie.Footnote 43 In diesen zwei Literarisierungen verbinden sich die beiden Grundtendenzen der Zeit – die vielfach angedeutete sekundäre ‚Barbarisierung‘ und die Idee des beziehungsweise der edlen Wilden, hier dezidiert in der weiblichen Form. Vor allem im Roman hebt sich die edle Retterin Pocahontas weit von ihrer grell als barbarisch gezeichneten Umgebung ab. Im Singspiel gilt dies mit einigen Abmilderungen auch.
Wieder ist es die letzte Fassung innerhalb dieser kleinen Konjunktur vor und um 1800, die demgegenüber einen besonderen Akzent setzt, dabei aber sehr wohl ein genuiner Teil dieser sehr spezifischen Linie bleibt. Für die im Jahr 1800 erschienene Erzählung von Johann Christian Friedrich Schulz mit dem Titel Pocahuntas, Nonpareille genannt, oder: Die Virginische Wilde bildete offenbar vor allem der Band von Happel die Basis, wobei der zentrale Bezug weniger der recht keusche Text mit seiner Betonung der Mitleidsethik gewesen sein dürfte, als vielmehr die deutlich drastischere Illustration mit ihrem in der deutschen Fassung noch eindeutigeren Titel. Den entscheidenden Moment der Rettung beschreibt Schulz wie folgt:
Entschlossen setzte sich jetzt Pocahontas auf den Blutgerüststein, zog den Verurtheilten nach sich, und indem sie ihn in ihren Schooß verbarg, biegte sie ihren gantzen Oberleib über ihn.Footnote 44
Von einer ‚Biegung des ganzen Oberleibs‘ war bislang noch nirgends in den Texten die Rede gewesen. Vielmehr heißt es in der Quelle und in den bisherigen Bearbeitungen stets, dass sie ihren Kopf auf den des zu Rettenden gelegt habe.Footnote 45 Klar wird die Bedeutung dieser kleinen Verschiebung dann in der nachgeholten Reflexion von Smith knapp zwei Seiten später.
Die schöne Wilde schloß er in seine Arme, nannte sie seine Schwester, ja er fühlte würklich etwas mehr als Schwesterschaft für sie in seinem Herzen, woran ihre Bemühung ihn zu retten, ihr Muth, und vielleicht auch der Umstand, daß sie ihn an ihren Busen, in ihren glühenden Schooß vor dem Todesstoße beschützte, gewiß nicht geringen Antheil hatte.Footnote 46
Natürlich ist auch ein ‚glühender Schoß‘ der jungen Indigenen zuvor noch nirgends in der Texttradition aufgetaucht. Zusammen mit dem im Text von Schulz ausdrücklich erwähnten und nach der Abbildung bei Happel unbekleideten Busen sorgt dieser Umstand für eine überraschende Sexualisierung dieses Nahtoderlebnisses. Kurz darauf ist in der Abschiedsszene der beiden auch noch von „der Liebe glühenden Blicken seiner Retterin“ die Rede.Footnote 47 Die Idee, dass diese Rettungsszene auch eine erotische Komponente haben könnte, springt – so meine starke Vermutung – genau hier erstmals ausgehend von der Bild- hinüber in die Textwelt.
Das Proprium der deutschen Pocahontasübersetzungen und -bearbeitungen des 17. Jahrhunderts liegt, so sei nochmals betont, nicht so sehr auf der Textebene. Es sind vielmehr die Visualisierungen, die hier im Übergang zwischen den Kulturen und in der Fortschreibung innerhalb der aufnehmenden Kultur neue Akzente setzen – sei es die kenntnisreiche Weiterführung eines Johann Theodor de Bry, seien es die späteren, wenn auch höchst problematischen, so aber doch sehr effektvollen Exotisierungen und schließlich erneut über den Umweg der Niederlande hinzutretenden Erotisierungen, die weit über das hinausgingen, was im englischsprachigen Raum in dieser Zeitspanne geboten wurde.
Es entwickelte sich in Deutschland spätestens im 18. Jahrhundert ein affektives, von Angst und Lust zugleich durchzogenes Faszinationsbild ‚des Indianers‘ und hier noch mehr ‚der Indianerin‘, das kaum durch politische Fragen der Rechtfertigung des eigenen kolonialen Tuns und durch reale Kontakte mit den wirklichen nordamerikanischen Indigenen tangiert war. Von den hier vorgeführten frühen Pocahontas-Illustrationen unmittelbar auf die deutsche Begeisterung für Figuren wie Winnetou und seine mit einer Klapperschlangenhaut gegürtete Schwester Nscho-tschi zu schließen, wäre sicherlich überzogen, doch dass hier entsprechende Anknüpfungspunkte gesetzt und textlich später tatsächlich wiederaufgenommen wurden, hoffe ich mit meinen Ausführungen gleichwohl gezeigt zu haben.
Notes
- 1.
Dies geht durchaus über die beiden Disneyfilme Pocahontas (1995) und Pocahontas II. Journey to a New World (1998) hinaus. Die letzte größere Realfilmadaption ist The New World (2005) von Terence Malick, und auch James Camerons 3D-Spektakel Avatar (2009) greift Motive aus diesem Komplex auf. Und wenn Donald Trump die demokratische Politikerin Elisabeth Warren, die teils von Native Americans abstammt, als ‚Pocahontas‘ verhöhnen zu können glaubt, nutzt er damit natürlich den hier angedeuteten enormen Resonanzraum dieses Namens.
- 2.
- 3.
- 4.
Die mit Abstand wichtigste und in mancherlei Hinsicht bahnbrechende neuere Studie zu dieser Kupferstecherfamilie von europaweiter Bedeutung ist sicherlich Groesen (2012), der auch eine prachtvolle Sammelausgabe aller Stiche in der „Americae“-Sammlung der de Brys und Merians herausgegeben hat. Vgl. dazu Bry (2019) und darin die pointierte Einführung erneut von Groesen. Perplies (2017), der sich zudem auf die Bände I–VII der Reihe beschränkt, kann dem Komplex leider nicht viel Eigenes hinzufügen. Spezifischer zur Bildpolitik der Frankfurter Kupferstecher vgl. Greve (2004) sowie Burghartz (2004; 2008).
- 5.
Zur Person Theodor de Brys kursieren zahlreiche Falschangaben. Zuverlässig ist Groesen (2012), S. 51–78.
- 6.
Vgl. zu diesem und seiner Kooperation mit Theodor de Bry Groesen (2012), S. 41–49 u. ö.
- 7.
Vgl. Bry (2019), S. 53.
- 8.
Dies wiederholt sich noch einmal mit der jüngst veröffentlichten, großformatigen Sammlung aller „Americae“-Kupferstiche, die der Kölner Taschen-Verlag parallel auf Deutsch, Englisch und Französisch auf den internationalen Markt gebracht hat. Vgl. Bry (2019).
- 9.
Laudonnière et al. (1591).
- 10.
Vgl. als Beispiel daraus die Abb. 20.5. Die Originale zu diesen Stichen sind nicht überliefert.
- 11.
Groesen (2019), S. 15.
- 12.
- 13.
Vgl. Groesen (2012), S. 249–307.
- 14.
- 15.
Vgl. Groesen (2008), S. 13–15.
- 16.
- 17.
Vgl. Groesen (2019), S. 18.
- 18.
Vgl. Burghartz (2008).
- 19.
- 20.
Die Textzusammenstellung um den zentralen und umfangreichsten Bericht von Ralph Hamor herum variiert in den beiden Fassungen – so ist auch der kürzere Text von Smith in der Fassung im Verlag Hulsius nicht enthalten.
- 21.
Vgl. zu dieser Geschäftspraktik Groesen (2012), S. 346–352; Groesen (2019), S. 25. Anzumerken ist dazu, dass diese Differenz nicht unbedingt belegt, dass die Hanauer Zweitverwertung tatsächlich schon früher auf dem Markt war als der Band aus dem Hause de Bry selbst. Oft wurden Bücher vordatiert, damit man sie auch im Folgejahr noch als Novitäten präsentieren konnte.
- 22.
In Hamor (1617).
- 23.
Es handelte sich weiterhin ausschließlich um Männer und Jungen. Frauen kamen erst 1620 aus England hinzu.
- 24.
Vgl. Hamor (1617), S. 18.
- 25.
- 26.
So etwa in Woodward (1995), S. 110.
- 27.
Vgl. Bry (2019), S. 62, 68, 75, 80.
- 28.
Dies gilt zumindest für den in Frankfurt ja auch auf Englisch publizierten Band I der „Americae“-Reihe mit dem Bericht Thomas Harriots. Für eine zeitgenössische englische Rezeption der imaginierten Bilder in Band X sind mir dagegen keine Belege bekannt.
- 29.
Dass Smiths Generall Historie of Virginia von 1624 in Frankfurt vorlag und hier als Quelle genutzt wurde, kann mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Sondheim (1933) erzählt u. a. die Geschichte des englischen Buchhändlers Wilhelm Fitzer, der in der Mitte der 1620 Jahre aus London kommend eine Tochter Johann Theodor de Brys geheiratet hat. Die Verbindungen über den Kanal waren also weiterhin eng.
- 30.
- 31.
Vgl. Bry (2019), S. 324–350.
- 32.
Vgl. etwa Smith (1986), II, S. 147–150.
- 33.
Vgl. Meid (1975).
- 34.
Vgl. Meid (1975), S. 27.
- 35.
Separat zu diskutieren wäre diese Frage noch bei den Kolorierungen. Die Bände der „Americae“-Reihe wurden in schwarz-weiß ausgeliefert, ohne dass Figuren nach ihrer Herkunft differenziert signifikant heller oder dunkler erscheinen. Schöne Beispiele für später in Auftrag gegebene individuelle Kolorierungen einzelner Bände sieht man in Bry (2019), wobei die Indigenen und die Neuankömmlinge auch hierbei zumeist nicht nach Hauttönen unterschieden erscheinen. Generalisierende Aussagen in dem Sinne, dass dies bei der Nachbearbeitung der Drucke allgemein nicht geschehen sei, lassen sich anhand dieser Stichprobe aber natürlich nicht treffen.
- 36.
Vries (1682), nach S. 834.
- 37.
Vgl. Smith (1986), II, S. 151, 259.
- 38.
Happel (1685), S. 213.
- 39.
- 40.
Theweleit (1999a), S. 465, präsentiert ein Gemälde der Amerikanerin Mary Woodbury nach dem Stich von de Passe aus dem Jahre 1738, das aber in seiner Zeit keine Bekanntheit erlangte oder gar eine Tradition begründen konnte.
- 41.
Vgl. Meyer (2016).
- 42.
Vgl. Kraft (2005), S. 32.
- 43.
Vgl. Kraft (2005), S. 27–28.
- 44.
Schulz (1800), S. 79.
- 45.
Vgl. Smith (1986), II, S. 151.
- 46.
Schulz (1800), S. 80–81.
- 47.
Schulz (1800), S. 81.
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