1 Wozu „Kunst“?

Skepsis gegenüber der Rede von „der Kunst“ im Singular hat Tradition. Bekannt ist der Zweifel, den Ernst Gombrich am Anfang seiner Geschichte der Kunst artikuliert: „Genau genommen gibt es die Kunst gar nicht. Es gibt nur Künstler.“Footnote 1 Für sich genommen scheinen diese Sätze einen Widerstand gegen jede Art von Allgemeinbegriff auszudrücken, der nicht sonderlich überzeugend ist und überdies auf halbem Wege abbricht. Wirklich genau genommen, so könnte man einwenden, sind auch Künstler*innen nicht als Ausgangspunkt geeignet; man müsste auf die einzelnen Arbeiten zurückgehen, wenn nicht noch weiter auf die unzähligen Instanzen ihrer Rezeption und Interpretation. Dass es produktiv sein kann, die Differenzierung der Betrachtung bis zu diesem Punkt zu treiben, dürfte unstrittig sein; wäre dies aber die einzige legitime Betrachtungsebene, so müsste Theorie als solche abdanken. Gombrichs Punkt ist dann auch ein anderer: Ein allgemeiner Begriff der Kunst ist für ihn nur dann plausibel und legitim, wenn man die radikale Unterschiedlichkeit dessen nicht verschweigt, was darunter subsumiert wird. Dabei wäre allerdings nicht nur auf einzelne Künstler*innen oder Arbeiten zu blicken, sondern auch in erweiterter Perspektive auf Praxis- und Auffassungsformen und Institutionen in ihrer historischen und geographischen Differenz. Will man etwa mit Arthur C. Danto von einer „Kunst nach dem Ende der Kunst“ sprechen, so geht es ohne innere Differenzierung des Begriffs nicht ab.Footnote 2

Allerdings ist dieser Begriff der Kunst im Singular, auf den Gombrich trotz allem nicht verzichten möchte, bereits der einer bestimmten Kunst: Es geht um die „bildende“ Kunst, in deren heterogenem Feld heute Bilder nicht einmal mehr unbedingt im Zentrum stehen. Wir haben es hier offenbar mit einer grundsätzlichen Unklarheit zu tun: Manchmal steht der Begriff der Kunst für die bildende Kunst, manchmal für jede Form künstlerischer Äußerung; einmal ist er Musik, Literatur, Theater, Tanz etc. entgegengesetzt, im anderen Fall umfasst er sie. Das ist natürlich bekannt und wäre nicht weiter schlimm, wenn zumindest immer klar wäre, wovon jeweils die Rede ist; unglücklicherweise ist das aber nicht der Fall. Dantos Texte zur Kunst sind ein illustratives Beispiel: Bezugspunkt ist hier ohne Zweifel in erster Linie die bildende Kunst, der Anspruch geht aber klarerweise darüber hinaus. So heißt es im Vorwort zu Die Verklärung des Gewöhnlichen: „Die Probleme, denen dieses Buch sich zuwendet, traten in dem Bereich am lebhaftesten hervor, den man Malerei-und-Plastik nennen könnte. Deshalb ist ein großer Teil meiner Beispiele dieser Kunstgattung entnommen. Gleichwohl läßt sich sagen, daß sie gattungsübergreifend in allen Zweigen der Kunst auftreten: in Literatur und Architektur, in Musik und Tanz.“Footnote 3

Die große Frage ist, ob wir es jeweils wirklich mit allgemeinen Fragen und Problemen zu tun haben, die lediglich in einem Bereich am „lebhaftesten“ oder am „radikalsten“ hervorgetreten sind und sich daher ausgehend von diesem allgemein formulieren lassen. Es mag zu denken geben, dass dieser Bereich nicht nur bei Danto, sondern fast ausnahmslos derjenige der bildenden Kunst ist, während Verallgemeinerungen der Entwicklung anderer künstlerischer Disziplinen die absolute Ausnahme bilden.Footnote 4 Selbst wenn es angemessen sein mag, die bildende Kunst als Leitdisziplin in Bezug auf grundsätzliche Fragen künstlerischer Praxis heute zu betrachten, so erscheint mir doch die Leichtigkeit, mit der der Übergang von ihr zur Kunst als solcher geschieht, höchst problematisch – man hat den deutlichen Eindruck, dass dieses Problem nicht wirklich ernstgenommen wird. Bisweilen gleitet die Diskussion auch vom engen zum weiten Kunstbegriff, ohne dass dies überhaupt vermerkt würde.

Vielleicht ist die Fokussierung auf eine einzelne Disziplin aber auch mehr als ein Betriebsunfall und weist auf ein grundsätzliches Problem hin: Es ist kaum möglich, in allen Bereichen gleichermaßen versiert zu sein und ihnen allen und ihrer jeweiligen Entwicklung auf gleiche Weise gerecht zu werden, und ebenso wenig, sich den „biases of local culture“Footnote 5 vollständig zu entziehen. Insofern dürfte es die Regel sein, dass theoretische Aufarbeitungen von einer bestimmten Kunst oder einem spezifischen Problem her gedacht sind und damit zumindest potentiell eine gewisse Schlagseite haben, oder auch: dass sie situiert sind. Dies anzuerkennen bedeutet nicht, am Einzelnen kleben zu bleiben, aber es mag vor allzu großzügigen Verallgemeinerungen bewahren. Wenn bereits für die bildende Kunst gilt, dass sie als „increasingly differentiated, stratified, specialized, heterogeneous universe, offering various options to its inhabitants“,Footnote 6 angesehen werden muss, ist universale Zuständigkeit, die begriffliche Allgemeinheit mit höchster Differenziertheit im Einzelnen verbindet, ein schwieriges Ideal.

Ich möchte hier drei Varianten einer Rede von der Kunst im Singular unterscheiden, die mir für unsere Fragestellung besonders relevant erscheinen: eine anthropologische oder zumindest mit anthropologischen Motiven argumentierende, eine soziologische, die von der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ausgeht, und schließlich eine wiederum aus der Theorie der bildenden Kunst stammende, aber auf die sehr spezifische Situation der Gegenwart bezogene. Auch wenn sie alle ihre Plausibilität haben, erscheinen sie mir im Hinblick auf eine differenzierte Auseinandersetzung mit der künstlerischen Produktion der Gegenwart nicht ausreichend.Footnote 7

Die jeweils in Frage stehende Einheit, die der Kunstbegriff im Singular voraussetzt oder die er begründen soll, kann dabei im historischen Sinne als die eines sich durch die Menschheitsgeschichte ziehenden Typs von Praxis und systematisch als Einheit aller künstlerischen Arbeit über die verschiedenen Bereiche, Medien, Disziplinen hinweg verstanden werden. Während in der zweiten und dritten Variante nur die systematische Einheit eine Rolle spielt, werden in der ersten Variante beide zu einem denkbar starken Begriff der Einheit der Kunst gekoppelt.

2 Kunst als Form menschlicher Praxis

Die anthropologische Rede, die Kunst als spezifischen Typ menschlicher Praxis versteht, ist hier sicher die geläufigste. Unter den menschlichen Aktivitäten, so das prinzipielle Argument, finden sich immer auch solche, die auf die Herstellung von Gegenständen abzielen oder Praktiken kultivieren, die um ihrer Schönheit willen produziert bzw. vollzogen und angesehen werden oder die zumindest einen Überschuss an ästhetischen Qualitäten aufweisen, der nicht aus reiner Funktionalität zu erklären ist: „Even the poorest tribes have produced works that give to them esthetic pleasure […].“Footnote 8 Kunst in diesem allerweitesten Sinne, der von Höhlenmalereien und Knochenflöten über die griechische mousiké, die Gesänge der Aka-Pygmäen und byzantinische Ikonen bis zur postkonzeptuellen Gegenwartskunst reicht, wäre dann ein Wesensmerkmal des Menschen wie die Sprache, und in dieser Herkunft läge ihre Einheit.

Ellen Dissanayake führt diese Einheit auf natürliche Wurzeln zurück: „art can be regarded as a natural, general proclivity that manifests itself in culturally learned specifics such as dances, songs, performances, visual display, and poetic speech.“Footnote 9 Die Entwicklung unterschiedlicher künstlerischer Ausdrucksformen oder Disziplinen müsste als spätere Ausdifferenzierung eines einheitlichen Impulses begriffen werden. Weniger biologisch, aber strukturell ähnlich argumentiert Robert Layton: „the same artistic impulse can be expressed and recognized in many media: poetry, dance, sculpture, painting.“Footnote 10 Stephen Davies spricht von „artistic instincts that we share“.Footnote 11 In all diesen Ansätzen wird die Einheit weniger in bestimmten Eigenschaften von Artefakten als in den produzierenden, rezipierenden und kommunikativen Praktiken gesucht, und der Ort dieser „natürlichen Neigungen“ und „künstlerischen Impulse“ ist der Mensch. Dabei hängt alles daran, ob jene Neigungen und Impulse und die „ästhetische Lust“ einheitlich bestimmt werden können. Als solche beobachtet werden können sie nicht, sondern wir bleiben auf jene unterschiedlichen Medien verwiesen; wie differenziert die Auseinandersetzung mit diesen dann geschieht, ist von Autor zu Autor höchst unterschiedlich. Die Musik allerdings ganz außen vor zu lassen, wie Layton es nicht nur in seiner Liste, sondern in seinem ganzen Buch tut, erzeugt ein Bild, in dem Wesentliches fehlt – was vielleicht unvermeidlich ist, aber doch deutliche Zweifel an der Universalität oder Universalisierbarkeit dieses Begriffs der Kunst weckt.

Winfried Menninghaus ist einer der wenigen, der in diesem Kontext auf den historischen Charakter des Begriffs hingewiesen hat, wobei er gar nicht so sehr die sehr spezifische westliche Vorstellung eines autonomen Feldes künstlerischer Produktion im Auge hat, sondern eben die einer Einheit all jener Produktion, die implizit bei allen evolutionären Theorien vorausgesetzt wird. Diese Vorstellung ist erst zwei Jahrhunderte alt und kann nicht ohne weiteres in die ferne Vergangenheit projiziert werden.Footnote 12 Entsprechend hält Menninghaus fest, dass der Titel seines Buches Wozu Kunst? „streng genommen ‚Wozu die Künste?‘ lauten“Footnote 13 müsste und dass der evolutionären Entwicklung und Motivation jener Künste in je spezifischer Weise nachgegangen werden muss. Wenn das aber so ist, bleibt auch aus evolutionärer Perspektive fraglich, inwieweit die Rede von Kunst als einer im Grunde einheitlichen menschlichen Disposition und/oder universalen kulturellen Praxis synchron und diachron gerechtfertigt ist. Die Berufung auf „das Ästhetische“ ist hier deutlich zu vage und im Übrigen erkennbar von einem bestimmten modernen Verständnis imprägniert, das gerade nicht deckungsgleich mit dem Begriff der Kunst ist.Footnote 14

Die entscheidende Frage bleibt aber, inwiefern ein solcher Zugang zum Verständnis der Gegenwart beitragen kann. Dazu kann ein Ansatz in den Blick genommen werden, dessen Charakterisierung als anthropologisch nicht unbedingt naheliegt, der aber so gelesen werden kann: Georg W. Bertrams Kunst als menschliche Praxis. Er bezieht sich dezidiert auf die Gegenwart und versteht Kunst in einem denkbar weiten Sinne, der traditionelle und populäre ebenso wie hochkulturelle Formen umfasst. Dabei leitet er die Einheit der Kunst nicht aus dem Status und der Beschaffenheit von Werken ab, sondern aus der Rolle, die künstlerische Praktiken für das menschlichen Zusammenleben und Selbstverständnis spielen; allerdings entstammen seine (sparsam eingesetzten) Referenzen ausschließlich der europäischen Hochkultur. Dennoch ist an keiner Stelle die Rede davon, dass die Reichweite seiner Theorie auf jene zweihundert Jahre begrenzt ist, in denen, wie Menninghaus erinnert, der Kunstbegriff in unserem Sinne überhaupt erst auftaucht. Im Gegenteil: Konsequent wird auf „die menschliche Lebensform“ Bezug genommen, und die Verortung der Praxis Kunst in der Gesamtheit menschlicher Praxis scheint zumindest implizit universal zu gelten. Insofern kann auch Bertrams Ansatz als anthropologisch bezeichnet werden.

Kunst soll hier verstanden werden als Typus von Praxis, der zwar spezifisch ist, aber eingebettet in die Gesamtheit menschlicher Praktiken. Sie erscheint als Reflexionsinstanz, in der und vermittels derer andere Praktiken, Orientierungen und Bestimmungen bearbeitet und neu ausgehandelt werden können, und ihre Pluralisierung und Dynamisierung wird auf eine Weise vorausgesetzt, dass sich jede von außen urteilende normative oder kulturkritische Pointe verbietet. Die Kunst ist, wie es an anderer Stelle heißt, „untrennbar mit der Differenzierung von Künsten verbunden“, oder, noch stärker, „Kunst ist vielmehr das Beziehungsgefüge der Künste“.Footnote 15 Dabei ist allerdings gar nicht so sehr danach zu fragen, was sie ist, sondern eher danach, „was sie als Kunst leistetFootnote 16 – es ist also nach einer funktionalen statt einer ontologischen Bestimmung zu suchen.

Dabei ist es auch Bertram wichtig, die Einheit dieser plural verfassten Praxis festzuhalten, also letztlich jede künstlerische Arbeit von einer und derselben Funktion her zu verstehen. Der Grund dafür liegt für ihn in der künstlerischen Praxis selbst, insofern nämlich „Kunst eine Praxis ist, in der es immer auch um Kunst als ganze geht“.Footnote 17 Dies hat zwei Seiten, nämlich einmal vom einzelnen Werk her, dessen Ziel es ist, „in einer paradigmatischen Weise zu realisieren, was Kunst ist“,Footnote 18 und zum anderen von den Rezipient*innen, insofern „Kunst“ als Prädikat für Gegenstände verstanden wird, die der Beschäftigung wert sind. Die Einheit läge damit nicht in einem ursprünglichen Impuls oder einer natürlichen Neigung begründet und wäre auch keine Marotte des Philosophen, sondern würde in der Praxis selbst fortwährend evoziert und in Anspruch genommen.

Aber ist das wirklich so? Versuchen künstlerische Arbeiten tatsächlich von sich aus, „Kunst“ in ihrer Allgemeinheit exemplarisch zu realisieren, und zwar seit jeher, oder tun sie das erst im Blick des Philosophen? Und arbeiten wir in unseren Evaluationen tatsächlich fortwährend mit der Zuschreibung oder Verweigerung des Status „Kunst“? Am Anfang des früheren Buches findet sich hierzu eine aufschlussreiche Stelle: Bertram erinnert an das Jahr 1913, in dem in Wien Alban Bergs Altenberg-Lieder und in Paris Stravinskys Le sacre du printemps uraufgeführt wurden, beide unter tumultartigen Reaktionen des Publikums. Er schreibt dazu: „Die Zuhörer, die diesen Ereignissen beiwohnten, stellten sich – unabhängig voneinander – dieselbe Frage. ‚Ist das noch Kunst?‘ fragten sie […].“Footnote 19 Das erscheint mir nicht plausibel. Die Frage wird vielmehr gewesen sein „Ist das noch Musik?“, und die Unterstellung, dahinter stünde im Grunde die Frage nach der Kunst, scheint mir genau das zu markieren, was Bertram nicht zugestehen will: dass es der Blick des Philosophen ist, der Allgemeinheit auch dort findet, wo die Beteiligten sie nicht gesucht haben. Was hängt eigentlich daran?

Bertrams Anliegen ist es, die Vorstellung der Autonomie der Kunst als eines abgetrennten Bereichs zu kritisieren und künstlerische Praxis in ihre Rolle innerhalb der Gesamtheit menschlicher Praktiken einzusetzen, innerhalb derer sie eine wichtige, nämlich reflexive Funktion erfüllt. Dabei geht es ihm nicht, wie etwa Dissanayake, um die Rückkehr zu einem angeblichen, noch nicht entfremdeten Urzustand, sondern um ein angemessenes Verständnis dessen, was wir ohnehin tun. Die bei aller Pluralität einheitliche Vorstellung künstlerischer Praxis, die er dazu in Anschlag bringt, hängt auf eigentümliche Weise zwischen einer anthropologischen Begründung und einem deutlich auf die Moderne bezogenen Verständnis. Nicht nur wird die moderne Auffassung der Kunst als reflexive und selbstreflexive Praxis zumindest implizit auf die Geschichte als ganze projiziert, sondern sie wird auch jeder einzelnen Arbeit eingelegt, das mit dem Anspruch einer Selbstreflexion als Kunst, also als Teil eines am Ende einheitlichen Unterfangens, das bewusst verfolgt und möglichst paradigmatisch eingelöst wird, deutlich überlastet wird – wobei dies kein Anspruch, sondern eine Beschreibung der tatsächlichen Praxis sein soll.

Eine Überlastung wäre es bereits, wenn es sich auf die sogenannte Hochkultur beschränken würde; noch schwieriger wird die Sache, wenn die Populärkultur einbezogen wird, die doch ein wesentliches Argument für die Zurückweisung eines verfehlten Verständnisses künstlerischer Autonomie ist. Man kann sicher auch die Popmusik oder vielmehr: manche Popmusik als Reflexion unserer individuellen, kollektiven und kommunikativen Praxis verstehen, aber möchte man ernsthaft sagen, dass mit jedem Popsong die Kunst als solche zur Debatte steht, und zwar explizit auch durch ihn selbst? Ein großer Teil der popmusikalischen Produktion besteht in der Reproduktion des Bewährten, und genau betrachtet gilt auch für einen Teil der Hochkultur nichts anderes, wenn auch nicht so offensichtlich. Dann aber muss die Einheit entweder anders bestimmt oder zumindest relativiert werden.

Indem sie sich wesentlich auf die Reflexivität und Selbstreflexivität der Kunst stützt, kann Bertrams Kunstphilosophie die innerkünstlerische Dynamik mit ihrer gesellschaftlichen Funktion verbinden und jede substanzielle Festlegung vermeiden, was als Kunst gelten kann und auf welche Weise diese Praxis sich in Gattungen oder Disziplinen ordnet. Dass sie dies notwendigerweise tut und dass jede dieser Gliederungen vorläufig und umstritten ist, ist ein wichtiger Punkt, bei dessen Feststellung es aber bleibt; die tatsächliche Gliederung und ihre innere Dynamik kommen nicht wirklich in den Blick, ebenso wenig die konkrete Situation der Künste auf der institutionellen Seite von der Reproduktion von Künstlern, Musikern etc. in Akademien bis zur Präsentation in Museen und Konzertsälen und der habituellen und diskursiven Seite von Rezeptionsnormen und -erwartungen, Interpretationsweisen und -traditionen.Footnote 20 Sie ist es, sollte man meinen, die im soziologischen Blick im Zentrum steht.

3 Funktion & System

Bereits George Dickies philosophische Institutionentheorie der Kunst spricht nicht nur vom „Kunstsystem“, sondern von einer Pluralität von Systemen und Subsystemen: „The artworld consists of a bundle of systems: theater, painting, literature, music, and so on, each of which furnishes an institutional background for the conferring of status on objects within its domain. No limit can be place on the number of systems that can be brought under the generic conception of art, and each of the major systems contains further subsystems.“Footnote 21 Die Konkretisierung dieser Beschreibung, die bei Dickie fehlt, könnte man sich von der soziologischen Systemtheorie erhoffen. Tatsächlich findet sich bei Luhmann die am klarsten akzentuierte soziologische Theorie der Einheit der Kunst, die nicht nur faktisch vorausgesetzt, sondern systematisch begründet wird, aber interessanterweise sind auch hier die Ausführungen in Bezug auf die Logik der Kunst deutlich konkreter sind als in Bezug auf ihre Institutionen.

Diese Einheit der Kunst ist für Luhmann gegründet in der Einheit des Kunstsystems, und diese gründet sich wiederum weder in einer bestimmten einheitlichen Definition künstlerischer Praxis noch in einem durch empirische Analyse gewonnenen Vergleichsgesichtspunkt aller ihrer Institutionen, sondern in der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft insgesamt. So heißt es lapidar: „Die Gesellschaftlichkeit der modernen Kunst liegt zunächst einmal in ihrer operativen Geschlossenheit und Autonomie mit der Maßgabe, daß die Gesellschaft diese Form allen Funktionssystemen oktroyiert, unter anderen auch der Kunst.“Footnote 22 Diese operative Geschlossenheit ist darauf angewiesen, dass das jeweilige System eine spezifische Funktion übernimmt; sie „Autonomie“ zu nennen, depotenziert diesen aufgeladenen Begriff deutlich. Für die Kunst gilt: „Niemand sonst macht das, was sie macht“Footnote 23 – aber für das Recht, die Wirtschaft etc. gilt genau das Gleiche. Luhmann stellt klar, dass damit kein Zweck oder Ziel gemeint ist, an der sich die tatsächliche Praxis orientieren würde, sondern der „Vergleichsgesichtspunkt“ eines Beobachters, der möglicherweise disparate Gestaltungen als Lösungen eines gemeinsamen Problems zu beschreiben versucht.

Als Funktion bietet er nun zwei Varianten an, die sich wechselseitig erläutern: Zum einen ermöglicht Kunst es, die im Prinzip nicht kommunizierbare Wahrnehmung in die Kommunikation einzuspeisen bzw. als wahrnehmbare Form direkt als Kommunikation anzubieten. Ich würde dies mit einer Formulierung aus einem ganz anderen theoretischen Kontext zusammenbringen nämlich mit der Beobachtung Merleau-Pontys, dass „ich […] eher dem Bilde gemäß oder mit ihm [sehe], als daß ich es sehe“.Footnote 24 Ein Bild sehen heißt in diesem Sinne zu sehen, wie eine bestimmte Weise der Wahrnehmung funktioniert, weil diese selbst zu einer öffentlichen Wirklichkeit geworden ist.

Zum anderen erzeugt Kunst Fiktionen der Welt und lässt diese so in ihrem eigenen Licht erscheinen. Mit Fiktion ist hier nicht in erster Linie eine literarische Gattung gemeint, sondern ein Verfahren, das innerhalb der vollkommenen Kontingenz, also dort, wo alles auch ganz anders oder gänzlich chaotisch sein könnte, trotzdem eine plausible Ordnung vorführt. Man sieht so Luhmann zufolge zweierlei, nämlich die Realität der Kontingenz und die Unvermeidlichkeit von Ordnung. Erst die Fiktionalisierung lässt die Welt als solche – die unhinterfragbare Ordnung aller Ordnungen – beobachtbar werden, und die entscheidende Frage ist: „[W]ie zeigt sich Realität, wenn es Kunst gibt?“Footnote 25 Man könnte sagen, dass die Kunst einen Spalt in der Welt öffnet und Möglichkeit als solche erscheinen lässt, und zwar nicht als Chaos und Zerfall, sondern als andere – kontingente – Ordnung. Ob das idealisierend, kritisch oder affirmativ geschieht oder einfach nur interessant ist, ist dabei nicht ausgemacht, aber all dies kommt als Möglichkeit, sich zur Welt zu verhalten, allererst ins Spiel. Die Absetzung von der Wirklichkeit und der Bezug auf sie sind dann keine Gegensätze, sondern bedingen einander.

Das ist zwar sehr abstrakt formuliert, letztlich aber doch nicht so weit entfernt von dem, was Bertram der Praxis der Kunst als Funktion zuschreibt, mit einem Unterschied: Luhmann spricht klar über die Situation unter der Bedingung der funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne. Erst hier, etwa seit Ende des 18. Jahrhunderts, kann bei aller Heterogenität der Materialien und konkreten Verfahren von einem Kunstsystem und damit von einer Kunst im Singular gesprochen werden; die Annahme einer ursprünglichen Einheit der Künste erscheint ihm als unhaltbare Spekulation, während eine anthropologische Begründung über einen einheitlichen Kunstimpuls seiner gesamten theoretischen Orientierung zuwider laufen würde, weil sie Gesellschaft, Kommunikation und Geschichte hinausstriche.

Die Autonomie des Kunstsystems fungiert dabei nicht nur als Rahmen für sehr verschiedene Praktiken, sondern gibt in ihrer eigenen Gestalt die Form der Artefakte vor: „Das Kunstsystem ist in seiner Einzigartigkeit und thematischen Offenheit, in seiner operativen Konkretion und seinem Unfestgelegtsein zugleich das, was in jedes einzelne Kunstwerk hineincopiert wird.“Footnote 26 Damit wird einer der Grundbegriffe der philosophischen Ästhetik, nämlich das autonome Werk, nun soziologisch begründet, indem er aus der gesellschaftlichen Konstellation abgeleitet wird, in der jene Werke auftauchen. Zu dieser eigenartigen wechselseitigen Bestimmung von System und in ihm auftauchender Instanz gibt es in anderen Funktionssystemen keine wirkliche Parallele. Die Offenheit jener Instanzen, also die Möglichkeit der Werke, gegen ihre eigene Geschlossenheit und damit auch gegen diejenige des Kunstsystems als solche anzugehen, ist dabei von vornherein mitgesetzt. Das heißt allerdings nicht, dass sie damit die doppelte autonome Verfasstheit verließen – das offene Werk bleibt ein Werk, aus dem Kunstsystem kommende Interventionen bleiben Teil des Kunstsystems.

Es mag erstaunen, ausgerechnet hier eine recht grundsätzliche Verteidigung des Werkbegriffs zu finden; sie ergibt sich letztlich aus Luhmanns Verständnis der spezifischen Funktion der Kunst, die in gewisser Hinsicht den alten Begriff des ästhetischen Scheins beerbt. Man könnte allerdings fragen, ob hier nicht das Erbe der klassischen philosophischen Position stärker wirkt, als es nötig wäre. In jedem Fall soll die Einheitlichkeit dieser Funktion die Einheit des Kunstsystems über alle disziplinären Grenzen der Künste hinweg garantieren. Dabei erkennt Luhmann an, dass die faktische innere Heterogenität hier größer ist als in allen anderen Funktionssystemen; sie wird aber auf Unterschiede des Materials reduziert. Zweifel an der Einheitlichkeit werden eher kurz abgefertigt: „Damit werden zugleich akademische Distinktionen, Fächer, Akademien und Fakultäten verteidigt, die es nicht zulassen, daß jemand zugleich zum Maler und Bildhauer und Dichter und Musiker und Tänzer und Schauspieler ausgebildet wird.“Footnote 27

Es ist in der Tat hilfreich, daran zu erinnern, dass auch die Soziologie nicht darauf angewiesen ist, akademische Organisationsstrukturen als letzte Instanz der gesellschaftlichen Differenzierung anzuerkennen, sondern dass sie geradezu dazu verpflichtet ist, der Selbstbeschreibung von Institutionen mit Skepsis zu begegnen. Auch hat Luhmann sicher recht, dass es bei derartigen Auseinandersetzungen immer auch um die Verteidigung eigener Pfründe, Privilegien und Definitionsmacht geht. Jeder, der das Beharrungsvermögen und den Konservatismus mancher Ausbildungsstätten kennt, weiß, wovon er spricht. Aber es erscheint mir doch zweifelhaft, dass damit jede Form der Kritik an einem einheitlichen Kunstbegriff erledigt werden kann.

An einer anderen Stelle gibt es einen Verweis auf die institutionellen Strukturen der Kunstpräsentation, den „Kunstbetrieb“, und dessen Bedeutung für die Existenz und Rezipierbarkeit der Werke, die sich nicht auf die gleiche Weise abtun lässt: „Es scheint wichtig zu sein, daß die Wiedereinführung von Redundanzen als Eigenkonstruktionen des Systems in dieser Weise zweistufig erfolgt – über Rahmen und Werke.“Footnote 28 Die Notwendigkeit von Rahmungen weist in die Richtung einer Einführung von weiteren Instanzen, die in Bezug auf die unmittelbare strukturelle Entsprechung zwischen System und einzelnem Werk zumindest einige Fragen aufwerfen. Die einheitliche Funktion der verschiedenen Rahmungen – Museum, Galerie, Konzerthaus, Theater, „Literaturbeilagen von Zeitungen“ etc. – besteht vor allem in ihrer Abgrenzung von alltäglichen Auffassungs- und Umgangsweisen. Ihre dennoch deutliche Heterogenität kann aber nicht ausschließlich auf die Unterschiedlichkeit der jeweils verwendeten und zu präsentierenden Materialien geschoben werden, wie Luhmann es am Ende auf recht traditionelle Weise tut.

Wo Selbstverständnisse, Reproduktionsmechanismen, Diskurse, Rezeptionsnormen etc. so weit auseinandergehen, sollte auch und gerade die Soziologie noch einmal hinsehen. Der allgemeine Vergleichsgesichtspunkt der Funktion der Kunst bietet keine Handhabe, das Kunstsystem in Bezug auf seine inneren Differenzen genauer in den Blick zu nehmen. So könnte man fragen, ob man die gesellschaftlichen Funktionen etwa des Betriebs der klassischen Musik und der freien Performanceszene nicht durchaus verschieden beschreiben müsste, um sie wirklich angemessen zu erfassen. Was jeweils als „Werk“ gilt, müsste ebenfalls weiter ausdifferenziert werden, was die Systemtheorie zwar erlaubt, wofür sie aber kaum eigene Mittel bereitstellt. Überhaupt nicht erfasst werden kann die Dynamik der Übergänge und Wechsel zwischen verschiedenen Disziplinen im Hinblick auf ihre künstlerische Produktivität und darauf, dass sie Künstler*innen, Publikum und Kritiker*innen vor reale Herausforderungen stellen.

4 Generischer Kunstbegriff

Man kann sagen, dass die letzte Variante einer Rede von der Kunst im Singular zumindest teilweise von dieser Dynamik ausgeht. Sie kommt aus einem ganz anderen diskursiven Zusammenhang und berücksichtigt zwar die institutionelle Situation dieser Kunst, tut dies aber nur auf sehr spezifische Weise. Ihr Ansatzpunkt ist allerdings ein anderer, nämlich wiederum die Entwicklung der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Es geht um den „generischen“ Kunstbegriff, den Thierry de Duve für die bildende Kunst in Anschlag gebracht hat und den Peter Osborne zumindest dem Anspruch nach verallgemeinert hat. Wir haben es hier nicht mit jener Form der unreflektierten Übertragung eines sehr spezifischen Begriffs der bildenden Kunst auf die Kunst als solche zu tun, sondern mit einem von seiner Anlage her auf Universalisierung zielenden Begriff, der gleichwohl seine eigenen Schwierigkeiten hat.

In Kant After Duchamp stellt de Duve die Readymades in den Mittelpunkt, mit denen ihm zufolge nicht nur ein neuer Begriff, sondern ein neuer Typ von Kunst in die Welt kam: „It [Duchamps Fountain] is neither a painting nor a sculpture, nor, for that matter, a poem or a piece of music. It doesn’t belong to any of the arts. It is either art at large or nothing.“Footnote 29 Die Readymades sind Kunst in einem generischen Sinne, der sich nicht mehr in eine der traditionellen Disziplinen einordnen lässt, ohne dass sie aber eine neue Gattung stiften würden. Was hier wegfällt, ist die Vermittlung durch Genres in ihrer Heterogenität, mit dem Theorien wie die Bertrams umgehen müssen: Kunst als solche oder im Allgemeinen muss dann nicht als Allgemeinbegriff aus gemeinsamen Eigenschaften oder einer gemeinsamen Funktion der unterschiedlichen Künste destilliert werden, sondern sie findet sich in bestimmten Arbeiten unmittelbar verkörpert. Seit Duchamp (oder, wie man vielleicht besser sagen sollte, seit der deutlich verspäteten Wirkung Duchamps in den 1950er- und 60er-Jahren)Footnote 30 kann man Künstler*in sein, ohne Maler*in oder Bildhauer*in zu sein. Das heißt nicht, dass nun alle Kunst eine Wiederauflage der Duchampschen Geste ist, so wenig Rosalind Krauss’ Rede von der post-medium condition bedeuten soll, dass Medien und ihre Differenz nun überhaupt keine Rolle mehr spielen.Footnote 31 Es bedeutet vielmehr, dass künstlerische Arbeiten nicht mehr von den Medien und den traditionellen Disziplinen verstanden werden können, dass diese nicht mehr die Grundlage ihres Daseins bilden. Peter Osborne interpretiert dies denkbar stark als Verschiebung der Ontologie des Kunstwerks.Footnote 32

De Duve betont, dass dieser Schritt zu einer generischen Kunst von der Malerei ausgegangen ist und eine Reihe von Uminterpretationen durchlaufen hat: von der Farbe als Qualität (color) zur Farbe als Material (paint) und von der Gestaltung zur Entscheidung als zentralem künstlerischen Akt.Footnote 33 Die Reichweite dieser Bewegung umfasst zuerst einmal die bildende Kunst, innerhalb derer nun generisch gearbeitet werden kann; trotzdem finden sich immer wieder, wie oben, Referenzen auf andere Künste. Dass das Readymade kein Gedicht oder Musikstück ist, ist allerdings keine besonders informative Bemerkung, es sei denn, auch diese Künste werden in die Generalisierung mit einbezogen. Aber ist das tatsächlich der Fall?

Wenn de Duve die Praxis der verschiedenen künstlerischen Disziplinen ausdrücklich gegenüberstellt, muss auch er von grundlegenden Differenzen ausgehen: „If, for example, ‚sound‘ in general is now regarded by many musicians as a legitimate definition of their domain, if some musicians, even, prefer to call their work ‚sound‘ rather than ‚music‘, no musician would claim that what he or she is doing is ‚art‘ and nothing but ‚art‘. The readymades, by contrast, are ‚art‘ and nothing but ‚art‘.“Footnote 34 Man kann hier noch einmal das Hinübergleiten des Begriffs der Kunst von einem für die bildende Kunst spezifischen zu einem allgemeinen Begriff beobachten: Wenn „sound“ der allgemeinste Begriff für das wäre, was alle möglichen Arten von Musik zusammenfasst, warum sollte es dann hier einen Gegensatz zu der Verwendung von „art“ in der bildenden Kunst geben, es sei denn, letzteres wäre der wahre Allgemeinbegriff, der alle künstlerischen Praktiken in allen Disziplinen umfasst? Suggeriert wird, dass die Musik, würde sie dies anerkennen und sich ebenfalls als „Kunst“ verstehen, nicht die Selbstbestimmung der bildenden Kunst übernehmen, sondern sich zu wirklicher Allgemeinheit erheben würde.

Ganz in diesem Sinne heißt es kurz danach: „you can now be an artist without being either a painter, or a sculptor, or a composer, or a writer, or an architect – an artist at large.“Footnote 35 Dass Komponist*innen, Choreograph*innen, Schriftsteller*innen oder Architekt*innen ein solches Selbstverständnis bis heute eher nicht kultivieren, sollte allerdings vermerkt werden – was nicht bedeutet, dass diese Kategorien nicht problematisch geworden wären. Als problematische bleiben sie aber offensichtlich in Funktion und prägen weiterhin das Selbstverständnis der in ihnen Arbeitenden in beträchtlichem Maße. Trotz des Verweises auf die verschiedenen Künste trifft somit auch auf de Duve im Grunde das zu, was Rancière konstatiert: „Was man unter diesem Namen [der Gegenwartskunst] attackiert oder verteidigt, ist keineswegs eine gemeinsame Tendenz, die heute die unterschiedlichen Künste charakterisieren würde. In allen ausgetauschten Argumenten zu diesem Thema gibt es fast nie auch nur die geringste Bezugnahme auf Musik, Literatur, Kino, Tanz oder Fotografie. Diese Argumente beziehen sich alle auf ein Objekt, das man so definieren könnte: das, was den Platz der Malerei einnimmt, das heißt die Anordnungen von Objekten, von Fotografien, von Videoinstallationen, von Computern und eventuell von Performances, die die Räume besetzen, in denen man früher Porträts an den Wänden hängen sah.“Footnote 36

Osborne geht gegenüber de Duve noch einen deutlichen Schritt weiter, indem er kategorisch erklärt: „Contemporary art is postconceptual art.“Footnote 37 Das Postkonzeptuelle bezeichnet dabei einen bestimmten Stand der Kunst, der eng mit de Duves generischem Kunstbegriff gekoppelt ist, und keine Kunstrichtung unter anderen. Es zeichnet sich durch eine Reihe von Bestimmungen aus, die sich im Wesentlichen auf drei zurückführen lassen: Postkonzeptuelle Kunst hat eine konzeptuelle und eine ästhetische Dimension, wobei das Ästhetische in keinem Fall „ästhetizistisch“, d. h. als wahrnehmungsbezogener Kern der jeweiligen Arbeit verstanden werden kann; sie kann sich in allen möglichen Medien und mit den verschiedensten Materialien realisieren, wobei sie nicht von diesen Medien und ihrem „Wesen“ oder ihrer „Logik“ bestimmt ist; sie weist eine distributive, historisch offene Einheit auf, ist also auf mehrere Instanzen und Realisierungsformen verteilt, von denen keine den Anspruch des Originals erheben kann.Footnote 38 Zwischen den Readymades und dem Postkonzeptuellen liegt die konzeptuelle Kunst der sechziger und siebziger Jahre, die in ihren radikalsten Ausprägungen ganz auf das Ästhetische verzichten zu können glaubte und insofern die materielle Realisierung als belanglos ansah; Osbornes Konzept zieht die Lehre aus der Unmöglichkeit einer rein konzeptuellen Kunst, hält aber an der tendenziellen Entwertung des Materiell-Ästhetischen fest.

Die Differenzierungen, die Osborne hier am generischen Begriff der Kunst vornimmt, lassen diesen endgültig als wirklichen Allgemeinbegriff erscheinen. Auch besteht hier kein Zweifel mehr daran, dass er kritisch-normativ gedacht ist und insofern die gesamte künstlerische Produktion betrifft: Zwar ist es zweifellos der Fall, dass ein großer Teil des heute Produzierten ihm nicht entspricht – dies zeigt aber nur, dass nicht alle Kunst der Gegenwart den Anspruch erheben kann, im emphatischen Sinne zeitgenössisch zu sein. Dieser inhaltlichen Allgemeinheit zum Trotz ist der Bereich, von dem Osborne ausgeht und den er explizit adressiert, wiederum zuerst einmal ausschließlich derjenige der bildenden Kunst – im Ausdruck contemporary art oder „zeitgenössische Kunst“, deren Theorie er vorzulegen beansprucht, wird Kunst wiederum im engeren Sinne verwendet. Die anderen künstlerischen Disziplinen, die de Duve mit einem Seitenblick bedenkt und über deren Status er unsicher zu sein scheint, tauchen bei Osborne nicht auf.

Zu einer Stellungnahme in Bezug auf die Musik herausgefordert, zieht er allerdings die Konsequenzen aus dem Allgemeinheitsanspruch seines Begriffs der postkonzeptuellen Kunst und hält fest, „that all of the practices associated with or derived from the arts, as historically received in modern systems of the arts (hence, also ‚music‘), find their artistic (and hence social) meanings today in relation to such an idea“.Footnote 39 Dass dieses Verhältnis das einer Zurückweisung oder einer passiven Negation durch Ignorieren sein kann, ändert für ihn nichts am historisch-kritischen Geltungsanspruch der Kategorie für die Kunst der Gegenwart. Die postkonzeptuelle Gegenwartskunst ist dann wirklich eine Kunst im Singular.Footnote 40

Nun ist die Formulierung eines verbindlichen postkonzeptuellen Standes der bildenden Kunst bereits ein recht kühner Zug. Dies offensiv auf alle Künste auszuweiten, deren Diskussionsstand teilweise sehr weit von dem der bildenden Kunst entfernt ist, ist einigermaßen gewagt und bedarf einer noch ausführlicheren Begründung, die Osborne allerdings nur in Ansätzen liefert. Der erste wichtige Hinweis ist hier derjenige auf die Quellen der konzeptuellen und postkonzeptuellen Kunst, die ebenso eine postästhetische ist: Um die Entwicklung der konzeptuellen Kunst richtig zu verstehen, muss man das von intermedialen Überschreitungsbewegungen und wechselseitigen Resonanzen der verschiedenen Disziplinen geprägte künstlerische Feld der sechziger Jahre im Blick haben. Wie Osborne an anderer Stelle gezeigt hat, gehört Fluxus und damit letztlich die Musik zu denjenigen Bereichen, die die konzeptuelle Kunst wesentlich geprägt haben; hier geht es vor allem um die Einführung von scores und die damit verbundene Auflösung des materiell gebundenen Originals.Footnote 41 Hinzuzufügen wäre, dass auch in zwei weiteren der vier von ihm genannten Quellen, dem Minimalismus und der Verwendung von Sprache, ein Einfluss der Musik auszumachen ist.

Für den zweiten Punkt setzt Osborne noch einmal deutlich früher an, nämlich in der Frühromantik. Hier findet er vor allem bei Friedrich Schlegel einen alternativen Ansatz zu „that most confused of unifications of the field of the arts, commonly called ‚aesthetics‘“.Footnote 42 Gegen den Ansatz beim Geschmacksurteil, der keine Theorie des Kunstwerks entwickeln und die Kunst nicht in ihrer komplexen gesellschaftlichen und kulturellen Vermittlung – also letztlich überhaupt nicht – denken kann, kann die frühromantische Kunstphilosophie in Osbornes Verständnis all dies leisten. Vor allem aber hat sie bereits einen allgemeinen Begriff der Kunst entwickelt, der demjenigen der generischen Kunst entspricht: eine reflexive, historisch offene Kategorie, in der Ästhetisches, historische Konkretion und philosophische Reflexion in einer starken Ontologie des Kunstwerks miteinander vermittelt sind. Auch hier gab es bekanntlich eine Leitdisziplin, die Poesie, aber Schlegels Idee einer „progressive[n] Universalpoesie“Footnote 43 soll in ihrem fortdauernden Werden die Leitform von Kunst überhaupt sein. Die Einsetzung der zeitgenössischen Kunst zur progressiven Universalkunst wäre demnach nicht ohne Vorläufer, und der aktuelle Stand der historischen Ontologie des Kunstwerks könnte der des Postkonzeptuellen sein.

Vor diesem Hintergrund ist es verfehlt, die künstlerischen Disziplinen als voneinander isoliert operierende und ausschließlich ihrer eigenen Logik folgende Bereiche zu verstehen. Aber auch wenn man davon ausgeht, dass künstlerische Entwicklungen über ihren Ursprungsort hinaus Resonanzen auslösen bzw. normative Relevanz gewinnen, scheint mir die schlichte Übertragung des postkonzeptuellen Kunstbegriffs bzw. die Behauptung seiner Geltung für alle Kunst weiterhin wie ein ungedecktes Postulat. Zwar ist er für die anderen Künste sicher nicht irrelevant, ihre jeweils höchst unterschiedlichen Lagen müssten aber einer ähnlich kritischen Betrachtung ausgesetzt werden, wie Osborne und andere es für die bildende Kunst getan haben. Osbornes eigene Erläuterung steht hier auf sehr schwachen Füßen: „However, this generic art, the art of ‚contemporary art‘, only excludes literature ‚qua literature‘ in the latter’s residual critically principled difference from ‚art‘ (as the recent episode of conceptual writing, and artists’ current fascination with writing, reveals), just as it only excludes music ‚qua music‘ in the same respect.“Footnote 44 Die Beispiele aus der Literatur benennen marginale Entwicklungen bzw. solche, die gerade nicht in der Literatur, sondern in der alles verschlingenden bildenden Kunst stattfinden. Musik als Musik im Sinne eines medienspezifischen Fundamentalismus einer Musik als Kunst im Sinne eines generischen, post- oder transmedialen Standes gegenüberzustellen, mag als Herausforderung an eine traditionalistische (auch Neue) Musik angehen, als Beschreibung eines historischen Standes wirft es aber mehr Fragen auf, als es beantwortet. Der leicht imperialistische Gestus, mit dem die Universalisierung des Begriffs der zeitgenössischen Kunst stattfindet, macht die Sache nicht einfacher. Die Herausforderung aber bleibt bestehen, und auf sie wird zurückzukommen sein.Footnote 45

Der Tänzer und Choreograph Boris Charmatz macht eine Bemerkung, in der sich das ganze eigenartige Ineinander der verschiedenen Verständnisse einer Kunst im Singular spiegelt: „[D]ance is starting to be recognized as art. In the end it’s as if you had to enter the museum to be legitimized!“Footnote 46 Als Kunst anerkannt zu werden changiert hier offenbar zwischen mehreren Bedeutungen: Dass der Tanz eine Kunst, also eine der „Künste“ ist, dürfte unstrittig sein; um diese Anerkennung kann es also nicht gehen. Wenn es aber darum geht, als Subkategorie der bildenden Kunst, als eines der ihr zur Verfügung stehenden Medien anerkannt zu werden, ist das Befremden darüber, dass der Tanz sich dafür ins Museum bewegen muss, nicht recht zu verstehen. Wenn die bildende Kunst alle möglichen Medien, Materialien und Kunstformen willkommen heißt oder auch: schluckt, so tut sie dies wenig überraschend an dem ihr eigenen Ort, dem Museum (auch der Biennale, der Galerie etc.). Der letzte Satz treibt die Sache allerdings noch einmal weiter: Der Übergang ins Museum erscheint jetzt als Voraussetzung dafür, überhaupt Anerkennung zu finden, eine Anerkennung, die nur noch im Rahmen einer normativ auftretenden, postkonzeptuellen Kunst im Singular stattfinden zu können scheint. Die Universalität jener „art at large“ hat eine klare Situierung, einen angestammten und nicht ersetzbaren Ort. Außerhalb dieses Ortes liegt, so scheint es, nur noch anachronistische Provinzialität.

Wenn das alles nicht überzeugend ist, wenn die unterschiedlichen Weisen, von der Kunst als solcher zu sprechen, für eine Beschreibung der Gegenwart nicht ausreichen, können wir uns dann auf den traditionsreichen komplementären Plural der Künste zurückziehen, um die entsprechenden inneren Differenzierungen nachzuliefern? Oder sollten wir gar die Seiten wechseln und statt von der Kunst im Singular von den Künsten ausgehen, so dass Gombrichs Sätze auf einer allgemeineren Ebene lauten müssten: „Genau genommen gibt es die Kunst gar nicht. Es gibt nur Künste“? Sieht man sich die Sache genauer an, ist dies ebenso wenig ergiebig.