Exploration des Kindes bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung

Barrieren der Aussagebereitschaft

Bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung verhalten sich viele Kinder im Rahmen einer Befragung zurückhaltend und scheuen sich, einen Missbrauch durch Eltern und Bezugspersonen mitzuteilen [1]. In einer israelischen Studie offenbarten nur 12 % der Vorschulkinder einen vermuteten (nicht eindeutig begründeten) innerfamiliären sexuellen Missbrauch [2]. Mindestens zwei übergeordnete Gründe können der Aussagebereitschaft des Kindes entgegenstehen [3, 4]:

  • Das Kind hat schon vor dem Einstieg in das Interview mehr oder weniger den Vorsatz gefasst, den Täter zu schützen. Für eine solche Motivation ergeben sich fließende Übergänge. Sie reichen von subjektiv empfundener Loyalität zum Täter, Angst vor einem Auseinanderbrechen der Familie und damit erlebter eigener existenzieller Bedrohung, real ausgeübtem Druck und Androhungen von Bestrafung kombiniert mit Versprechungen bei Wohlverhalten, Einimpfen von Schuldgefühlen für Verrat und drohende familiäre Katastrophen bis hin zur Abnahme von Schweigeversprechen bzw. Verpflichtung auf bestimmte Sprachregelungen [4].

  • Eine suboptimale Gesprächsführung des Interviewers während der Einstiegsphase verhindert einen Beziehungs- und Vertrauensaufbau und blockiert so die Weiterentwicklung einer zunächst noch ambivalenten Gesprächsbereitschaft des Kindes.

Relevanz eines qualitätsgesicherten Interviews für das weitere Prozedere

Entsprechend anspruchsvoll ist die Herausforderung, im Rahmen der Durchführung eines Interviews beim betroffenen Kind eine Bereitschaft zur Aussage zu gewinnen. Angesichts der dramatischen Folgen für den weiteren Lebensweg des Kindes gilt es jedoch, alle Chancen auszuschöpfen, die Wahrscheinlichkeit für eine Aussage zu erhöhen, um eine Kette von Misshandlungen zu unterbrechen. Wenn die medizinischen Untersuchungsbefunde ursächlich nicht sicher zugeordnet werden können, so kommt der Befragung vielfach eine Schlüsselrolle zu. Wenn es dann nicht gelingt, eine valide und ggf. gerichtsfeste Aussage zu gewinnen, droht vielfach eine Fortsetzung der Viktimisierung.

Eine qualifizierte Befragung des Kindes muss geeignet sein, erstens möglichst umfangreiche und differenzierte Aussagen (Aussagenumfang) und zweitens möglichst wahre, erlebnisbasierte, gerichtsfeste Aussagen (Aussagenvalidität) hervorzubringen. Eine unqualifizierte Befragung unterliegt jedoch vielfachen Risiken, Umfang wie Validität der Aussagen zu beeinträchtigen [4]. Die Aussagen des Kindes können aus unterschiedlichen Gründen blockiert bzw. verzerrt werden. Dazu zählen unter anderem aufseiten des Kindes Überlagerungen seines Berichts durch motivationale und emotionale Copingprozesse, aufseiten des Interviewers ebenso vielfältige kognitive, emotionale und motivationale Verzerrungen bei der Befunderhebung und -interpretation und nicht zuletzt eine suggestive und nicht kindgerechte Gesprächsführung.

Die Standardfassung des NICHD-Interviews

Um solche Risiken zu minimieren, sind über die letzten zwei Dekaden empirisch fundierte Interviewprotokolle zur Gesprächsführung bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung erarbeitet und evaluiert worden. Eine Standardisierung des Vorgehens soll die Risiken einer subjektiven Verzerrung, Suggestion und Manipulation der kindlichen Aussagen deutlich eingrenzen und so die Validität der erhobenen Aussagen steigern.

Orbach et al. [5] sowie in der Folge Lamb et al. [6, 7] haben für das National Institute of Child Health and Human Development (NICHD) in den USA ein halbstrukturiertes, standardisiertes Interview für die Durchführung einer diagnostisch-forensischen Exploration eines betroffenen Kindes konzipiert. Diese Ursprungsversion (im Folgenden: Standardfassung) hat neben weiteren Interviewprotokollen aus anderen Arbeitsgruppen die mit Abstand breiteste Rezeption und die bisher profundeste empirische Evaluation erfahren. Dieses Protokoll ist zwischenzeitlich weiterentwickelt worden ([8]; im Folgenden: revidierte Fassung). Der vorliegende Beitrag bietet eine Übersicht zu

  • Zielsetzung und Grundkonzeption des NICHD-Protokolls,

  • Evaluation der Ursprungsfassung und des sich daraus ergebenden Weiterentwicklungsbedarfs,

  • Einflussfaktoren auf die Güte von Interviewergebnissen und

  • nicht zuletzt den Abdruck des revidierten Protokolls in seiner deutschsprachigen Fassung im Anhang inkl. der Anlagen 1–3.

Leitprinzipien

Drei essenzielle Leitprinzipien charakterisieren das NICHD-Protokoll. Diese können auch dann sinnvoll zur Anwendung gebracht werden, wenn ein Befragender sich formal nicht strikt an dem Interviewprotokoll ausrichten möchte.

Vermittlung von Grundregeln zu Gesprächsbeginn

Die Auskunftsbereitschaft des Kindes, der Detaillierungsgrad und der Wahrheitsgehalt der Aussagen verbessern sich nachweislich, wenn man das Kind vor Einstieg in das eigentliche („substanzielle“) Thema mit bestimmten Grundregeln („ground rules“) vertraut macht [9, 10]. Zur Verbesserung der Validität der Aussagen empfiehlt das Protokoll, das Kind explizit aufzufordern,

  • die Wahrheit zu sagen („Es ist wichtig, dass ich alles richtig verstehe“),

  • zu sagen, „ich weiß es nicht“, wenn es eine Frage nicht beantworten kann,

  • zu sagen, „ich verstehe das nicht“, wenn das Kind weitere Erläuterungen benötigt,

  • den Interviewer zu korrigieren, wenn dieser unzutreffende Vermutungen ausspricht oder sogar falsche Behauptungen aufstellt.

Zur Verbesserung des Aussagenumfangs empfiehlt das Protokoll unter anderem,

  • dem Kind zu danken, wenn es überhaupt eine Antwort gibt (also ohne kontingente, selektive Verstärkung von bestimmten Aussageinhalten),

  • ihm Brücken zu bauen, um im Redefluss zu bleiben („Du hast von X erzählt. Was ist danach als Nächstes passiert?“).

Gesprächsfokus auf misshandlungskritische Episoden legen

In der Gedächtnispsychologie unterscheidet man das deklarative und das episodische Gedächtnis. Deklarative Gedächtnisinhalte beziehen sich auf Wissensinhalte und werden zum Beispiel durch die Aufforderung: „Erzähl mir alles zu Onkel Peter, was dir so einfällt“, aktiviert. Episodische (prozedurale) Informationen beziehen sich dagegen auf Ereignisabfolgen und werden etwa durch die Aufforderung abgerufen: „Erzähl mir, wie sich der letzte Samstag mit Onkel Peter zugetragen hat, am besten alles nacheinander.“

Bestimmte Arten von Interviewfragen triggern entweder eher den Abruf von deklarativen oder episodischen Gedächtnisinhalten. Eine zentrale Empfehlung des Protokolls richtet sich nun darauf, die Exploration eines Misshandlungsverdachtes vorrangig an einer Aktivierung des episodischen Gedächtnisses auszurichten. In den Gesprächsfokus werden also spezifische, zeitlich-räumlich abgegrenzte Episoden einer mutmaßlichen Kindeswohlgefährdung gerückt. Diese werden dann in ihrer Ablaufsequenz in möglichst chronologischer Abfolge exploriert. Diese Fragetechnik wird zunächst anhand unkritischer Geschehnisse ohne Bezug zur Kernthematik eingeübt (ein Geburtstagsfest, der gestrige Tag etc.). Erst danach richtet sich die Exploration mit einer formal ähnlichen Befragungstechnik auf umschriebene Misshandlungsepisoden. Falls das Kind mehrfache Übergriffe erlebt hat, kann die Rekonstruktion solcher Episoden sich in mehreren Durchgängen beziehen auf

  • die letzte vorgefallene Episode (gute, frische Erinnerung),

  • eine besonders typische Episode,

  • die für das Kind schlimmste, traumatische Episode unter der Voraussetzung, dass dies für das Kind in der Befragungssituation ohne Risiko einer Retraumatisierung tolerabel ist.

Es ist bemerkenswert, dass die Fokussierung des NICHD-Interviews auf umschriebene Episoden Parallelitäten mit der funktionalen Bedingungsanalyse aus der verhaltenstherapeutischen Psychodiagnostik zeigt. Die funktionale Bedingungsanalyse fokussiert auf besonders störungstypische, kritische Episoden (entsprechend dem Blick durch ein Teleobjektiv), in denen eine psychische Störung sich symptomatisch besonders prägnant manifestiert (z. B. eine Panikattacke). Die Verhaltenstherapie kombiniert den mikroanalytischen Zugang einer funktionalen Bedingungsanalyse mit einer Makroanalyse der gegenwärtigen psychosozialen Kontextfaktoren und deren Entwicklung auf der biografischen Zeitachse [11]. Das NICHD-Protokoll entspricht auf der Mikroebene dieser Logik einer funktionalen Bedingungsanalyse, indem es wie mit einem Teleobjektiv eine Kindeswohlgefährdung anhand konkreter Misshandlungssituationen erfasst. Komplementär wird man zur Gefährdungseinschätzung und weiteren Hilfeplanung selbstverständlich auch eine Makroanalyse der relevanten Risiko- und Schutzfaktoren von Kind und Familie explorieren (entsprechend dem Blick durch ein Weitwinkelobjektiv). Zur akuten Abklärung einer Kindeswohlgefährdung stehen jedoch die Abgrenzung und Exploration spezifischer Misshandlungsepisoden klar im Vordergrund. Diese Angaben sind operational sehr viel konkreter zu falsifizieren oder zu verifizieren als eine globale Anamnese der allgemeinen Verhaltensentwicklung.

Verwendung offener statt geschlossener Fragen

Ein zentrales Anliegen des Protokolls zielt auf eine möglichst hohe Verwendung von offenen anstelle von geschlossenen Fragen [4, 8]. Geschlossene Fragen bergen mehrere Risiken der Suggestion und Blockade differenzierter und erlebnisbasierter Aussagen des Kindes. Geschlossene Frageformulierungen …

  • provozieren oft einsilbige Antworten des Kindes (ja, nein, ich weiß nicht) und verhindern, dass das Kind seine eigenen Erinnerungen aus dem episodischen Gedächtnis reaktiviert und mit eigenen Worten zum Ausdruck bringt.

  • spiegeln, was der Interviewer denkt, und nicht, was das Kind weiß.

  • beruhen auf den Worten des Interviewers und diese Wörter können am Erleben des Kindes vorbeigehen oder mehrdeutig sein.

  • fördern das Raten.

  • tendieren insgesamt dazu, suggestiver und anfälliger für Antwortverzerrungen zu sein als offene Fragen.

Demgegenüber bieten offene Fragen ohne einschränkende Vorannahmen einen guten Schutz vor Manipulation der Aussagen des Kindes („Erzähl mir alles, was passiert ist, als du mit Y in dem Zimmer warst“). In Verbindung mit der Ausrichtung an der zeitlichen Abfolge der kritischen Episode („Was passierte dann? Kannst du mir das noch etwas genauer erzählen? Was hast du noch gesehen?“) kann man mit diesen recht einfachen Leitprinzipien die Objektivität der Befragung deutlich steigern.

Evaluation der Standardfassung

Positive Effekte des Protokolls

Verschiedene Feldstudien in England, Israel, Kanada und den Vereinigten Staaten haben die Chancen und Grenzen der Anwendung des NICHD-Protokolls in der klinischen Praxis evaluiert. Eine neuere Metaanalyse hat die Studien eingeschlossen, die mit einer Kontrollgruppe gearbeitet hatten [12]. Zusammengefasst belegt diese Metaanalyse folgende positiven Effekte einer protokollgestützten Interviewdurchführung:

  • Es werden signifikant mehr offene Fragen gestellt als bei einer „freien“ Interviewgestaltung.

  • Fragen werden weniger suggestiv formuliert. Dies gilt vor allem für die besonders suggestible Gruppe der Vorschulkinder.

  • Die befragten Kinder liefern signifikant mehr forensisch verwertbare Detailinformationen.

Kritische Aspekte

Die Evaluationsstudien förderten jedoch auch fortbestehende Schwächen des Standardprotokolls zutage. Diese beziehen sich vor allem auf eine unzureichende Beziehungsgestaltung zwischen Interviewer und Kind beim Gesprächseinstieg.

Die Art und Weise der Beziehungsaufnahme zum Kind steuert wesentlich dessen Kontaktverhalten, Aussagebereitschaft und Sprechverhalten. In den Studien war wiederholt zu beobachten, dass sich bei „schwierig“ verlaufenden Gesprächseinstiegen wechselseitige Eskalationen ergeben, wenn das Kind sich direkt in der Anfangsphase des Interviews nicht kooperativ und auskunftsbereit verhält [13]. Manche Kinder zeigen sich initial im Kontakt abwehrend und antworten schon bei Eingangsfragen zu neutralen Themen einsilbig. Untersuchungen von Katz et al. [14] lassen erkennen, dass eine kooperative versus widerständige Gesprächsatmosphäre schon sehr früh beim Intervieweinstieg spürbar wird. Manche Interviewer reagieren auf eine Zurückhaltung des Kindes mit insistierendem Nachfragen und steigen zu früh auf sensible Themen ein. Ein solches forciertes Vorgehen beeinträchtigt dann zusätzlich die Mitteilungsbereitschaft. Es zeigte sich in den Studien, dass streng und fordernd agierende Interviewer sich zu kooperativen Kindern unterstützender verhalten als zu initial unkooperativen Kindern.

Als Konsequenz aus der Analyse solcher dysfunktionalen Interaktionssequenzen ziehen Hershkowitz et al. [13] die Schlussfolgerung, dass gerade bei Kindern, die sich reserviert und einsilbig verhalten, zunächst eine längere Phase des Rapportaufbaus vorgeschaltet werden sollte, bevor man zum eigentlichen Interviewthema überwechselt. Solche Studienergebnisse waren leitend für die Revision des Protokolls.

Eine Versicherung an das Kind, dass es nicht in Schwierigkeiten gerät, wenn es sich offenbart, erhöht zwar einerseits die Bereitschaft, sich mitzuteilen, andererseits aber auch die Anzahl falscher Vorwürfe [7, 15]. Ethisch ist eine solche Ankündigung und Versicherung dem Kind gegenüber als problematisch zu betrachten, denn zu diesem Zeitpunkt kann nicht wirklich ausgeschlossen werden, dass Täter oder Familie im weiteren Verlauf das Kind tatsächlich mit negativen Konsequenzen konfrontiert werden. Faktisch würde das Kind belogen.

Die revidierte Fassung

Gliederungsstruktur

Die revidierte Fassung wird im Anhang inklusive ihrer Anlagen vollumfänglich in ihrer deutschsprachigen Übersetzung zur Verfügung gestellt. Diese deutsche Fassung ist durch eine Vorwärts- und Rückwärtsübersetzung qualitätsgesichert. Sie kann damit direkt in der Praxis zur Anwendung gebracht werden. Die revidierte Fassung gliedert sich in folgende Abschnitte (vgl. Anhang):

  1. A.

    Vorstellung,

  2. B.

    Aufbau von Rapport und Erzähltraining,

  3. C.

    Erklärung und Anwenden von Grundregeln,

  4. D.

    weiterführender Aufbau von Rapport und Training der gemeinsamen Rekonstruktion eines Geschehensablaufs aus dem episodischen Gedächtnis,

  5. E.

    substanzieller Teil des Interviews,

  6. F.

    Offenbarung von Informationen,

  7. G.

    Ende des Interviews.

In der revidierten Fassung wird das Protokoll nun um folgende drei Anlagen komplettiert, die zusätzliche Techniken beinhalten, um schwierige Gesprächssituationen mit wenig gesprächsbereiten Kindern zu regulieren:

  • Anlage 1: Aufbau von Rapport, indem das Kind zusätzlich ein Bild malt,

  • Anlage 2: Vorgehen für den Fall, dass ein weiterer Interviewtermin benötigt wird,

  • Anlage 3: Unterstützende nonsuggestive Techniken.

Weiterentwicklung von der Standardfassung zur revidierten Fassung

Die Standardfassung hatte im Zuge des strikten Bemühens um formale Standardisierung und Objektivierung die Möglichkeiten zur Anpassung des Interviews an individuelle Besonderheiten des Kindes und eine freiere Gesprächsführung formal eingeschränkt. Die revidierte Fassung ist darauf ausgelegt, kontraproduktive Eskalationen zwischen Kind und Interviewer zu vermeiden. Daher widmet sie dem vorbereitenden Aufbau von Rapport nun einen sehr viel größeren Raum als die Standardfassung. Noch bevor man Grundregeln des Gesprächs erläutert und in das Kernthema einsteigt, wird eine ausführliche Phase des Beziehungsaufbaus und des Aufwärmens vorgeschaltet. Der Interviewer bringt gezielt sein Interesse an der Person des Kindes zum Ausdruck („Ich möchte dich noch besser kennenlernen …“). Er spiegelt die Gefühle des Kindes („Du sagst, dass du traurig, wütend … warst“), validiert („Ich sehe/ich verstehe, was du sagst“) und exploriert diese eingehender („Erzähl mir mehr darüber, wie du dich gefühlt hast“). Den Interviewern wird jetzt noch deutlicher empfohlen, die Gesprächsbereitschaft des Kindes positiv zu verstärken („Danke, dass du mir das so ausführlich erzählst. Du hilfst mir so, dich besser zu verstehen“), ohne die Äußerung bestimmter Inhalte selektiv zu verstärken. Auch wird Empathie mit den geäußerten Gefühlen des Kindes zur Erfahrung mit der Interviewsituation zum Ausdruck gebracht („Ich weiß, es ist ein langes Interview …“). Zusätzlich eröffnen die drei neuen Anhänge weitere Optionen, um die Kontaktaufnahme bei sehr gehemmten, reservierten und wenig auskunftsbereiten Kindern weiter zu flexibilisieren.

Das revidierte NICHD-Protokoll ist zwischenzeitlich mit der Standardversion verglichen und positiv evaluiert worden. In einer Studie zu fast 200 Interviews [8] konnte belegt werden, dass Interviewer, die das revidierte Protokoll nutzen, tatsächlich ein höheres Engagement beim Aufbau von Rapport zeigen. Sie geben häufiger unterstützende Rückmeldungen als Interviewer, die mit dem Standardprotokoll arbeiten. Es gelingt so, eine bessere Beziehung zu den Kindern aufzubauen. In der Folge steigt tatsächlich die Auskunftsbereitschaft bei den Kindern. Suggestive und andere verfälschende Fragen treten im Vergleich zwischen den beiden Interviewbedingungen gleichermaßen selten auf.

In einem Vergleich zwischen Standardfassung und revidierter Fassung wurde zusätzlich überprüft, wie viele Kinder jeweils einen schon aus anderen Quellen belegten Missbrauch bestätigen [8]. Die Raten liegen bei ca. 60 % in der Gruppe bei Durchführung des revidierten Protokolls im Vergleich von nur 50 % bei Durchführung des Ursprungsprotokolls. Auch hier führen eine intensivere Rapportphase und ein besserer Beziehungsaufbau zu einer höheren Bereitschaft, tatsächlich stattgefundenen Missbrauch auch zu kommunizieren. Die Vergleiche zwischen dem ursprünglichen und dem revidierten Protokoll zeigen, dass eine adäquate Interviewtechnik nicht nur einen kognitiv und psychopathologisch entwicklungsgerechten Befragungsstil sicherstellen muss, sondern auch interaktionell und damit motivational die Auskunftsbereitschaft erhöhen kann. Über eine verbesserte Herstellung von Rapport gelingt eine bessere Beziehungsgestaltung, die wiederum die Kooperations- und Aussagebereitschaft des Kindes und damit die Aufklärungsrate steigert.

Die Rücknahme der strengeren Standardisierung der Standardfassung könnte dem Eindruck Vorschub leisten, dass dies zulasten von Durchführungsobjektivität und Kontrolle von Suggestionseffekten geht. Tatsächlich steigert die intensivierte Vertrauensbildung zu Gesprächsbeginn jedoch die Quantität und Qualität der Aussagen des Kindes und damit wiederum die Validität und Verwertbarkeit der Befunde für Strafverfahren, Therapie und Hilfeplanung. Die revidierte Fassung kommt damit auch den Präferenzen erfahrener Praktiker bei der Gesprächsführung entgegen. Praktiker bevorzugen in der Regel als Einstieg in das Gespräch längere und individualisierte Gesprächssequenzen mit dem Ziel, zunächst Kontakt zum Kind aufzubauen und Vertrauen herzustellen [3].

Kompetenzen für eine professionelle Interviewdurchführung

Lernziele und Training

Differenzierte und valide Interviewergebnisse hängen nicht alleine von der Konzeption und Strukturierung des eingesetzten Interviewprotokolls ab, sondern ebenso von den Kompetenzen und dem Training der Person, die das Interview fachgerecht und sensitiv durchführt [12]. Bei allem begründeten Bemühen um Standardisierung entfaltet jedes Interview eine Eigendynamik zwischen einem individuellen Kind und einem individuellen Interviewer.

Die erforderlichen Kompetenzen auf Interviewerseite können bis zu einem gewissen Grad trainiert werden [6, 7, 12, 16, 17]. Niehaus et al. [18] schätzen den Nutzen einmaliger Trainingsmaßnahmen als eher begrenzt ein. Neben einer Schulung in der Interviewtechnik sehen sie es als ebenso essenziell an, eine Grundhaltung zu einem hypothesenprüfenden Vorgehen zu vermitteln. Im Zuge der Revision des Protokolls sind die Anforderungen an die Kompetenzen der Interviewer noch einmal angestiegen. Die Freiheitsgrade zur individualisierten und flexibilisierten Protokollanwendung sind aus guten Gründen angestiegen. Diese erhöhten Freiheitsgrade stellen an den Interviewer wiederum höhere Anforderungen an

  • Sensibilität, Selbstreflexion, Kontrolle eigener, impliziter Vorannahmen,

  • hypothesengeleitetes Vorgehen,

  • Verständnis und Wachsamkeit gegenüber den subtilen Verzerrungs- und Suggestionsrisiken aufseiten des Kindes wie des Interviewers,

  • Kompetenzen zur parallelen Entwicklungsbeurteilung und aussagepsychologischen Einordnung der Antworten des Kindes [4, 18].

Diese und weitere Kompetenzen sind bei Einsatz des revidierten Protokolls noch einmal wichtiger geworden. Die „Leitplanken“ für die Gesprächsführung sind weiter gestellt als in der formal stärker durchstrukturierten Standardfassung. Ohne Professionalität in der Gesprächsführung kann die neu gewonnene Flexibilisierung wieder in Subjektivität, Willkürlichkeit und Zufälligkeit münden. Training in der Interviewdurchführung geht damit über das handwerkliche Einüben korrekter Frageformulierungen hinaus, sondern muss die genannten grundlegenden Fertigkeiten vermitteln.

Kompetenzen zur Entwicklungsbeurteilung und Aussagepsychologie

Über die letzten Jahrzehnte haben Entwicklungspsychologie und Entwicklungspsychopathologie die jeweiligen kognitiven, gedächtnisbezogenen, sprachlichen und kommunikativen Voraussetzungen für valide Aussagen bei Kindern in bestimmten Entwicklungsstufen zunehmend genauer bestimmen können. Die sogenannte Aussagetüchtigkeit [18] umfasst die Fähigkeit des jeweiligen Kindes, einen erlebnisbasierten, also tatsächlich erlebten Sachverhalt zuverlässig wahrnehmen, abspeichern (codieren), im Gedächtnis behalten, abrufen (decodieren) und im Interview ohne gravierende motivationale und emotionale Einflüsse und Verfälschungen wiedergeben (reproduzieren) zu können. Die Fähigkeit, zu täuschen und zu lügen und das eigene Antwortverhalten konsistent auf erwünschte Wirkungen beim Interviewer abzustimmen und konsequent durchzuhalten, stellt pikanterweise in formaler Hinsicht einen Indikator für eine mentale „Reife“ dar. Dieser Entwicklungsstand wird – bei großer interindividueller Variabilität – etwa bis zur Einschulung erreicht.

Die Beurteilung der Aussagetüchtigkeit eines Kindes kann zunehmend mit bestimmten Altersangaben hinterlegt werden. Solche Referenzwerte basieren auf gruppenstatistischen Durchschnittsangaben. Das jeweils individuell betroffene Kind kann davon abweichend sehr akzeleriert sein und valide Aussagen zu einem noch sehr jungen kalendarischen Alter liefern. Andere Kinder können kognitiv oder sozioemotional retardiert bzw. entwicklungspsychopathologisch gestört sein. Da die Referenzwerte der Aussagenpsychologie eine hohe interindividuelle Streuung aufweisen, kann das kalendarische Alter für die Beurteilung im Einzelfall also immer nur einen ersten Anhaltspunkt darstellen. Entscheidend für die Beurteilung der Aussagetüchtigkeit wird das individuelle mentale Entwicklungsalter.

In einer hochakuten Gefährdungssituation kann in der Regel keine formale Entwicklungsdiagnostik vorgeschaltet werden, um das individuelle Entwicklungsalter diagnostisch einzugrenzen. In der klinischen Praxis ist der Interviewer daher gefordert, parallel zu den einleitenden Passagen des Interviews, Verhaltensbeobachtungen zur Einschätzung des Entwicklungsalters und der Aussagetüchtigkeit vorzunehmen, um sich dann im weiteren Verlauf der Befragung an den Entwicklungslevel des Kindes zu adaptieren, wenn die Kernthemen des Interviews behandelt werden.

Verhaltensbeobachtung während des Gesprächseinstiegs

Die verlängerte Einstiegsphase in der revidierten Fassung dient also nicht nur dem Vertrauens- und Kooperationsaufbau, sondern auch einer Entwicklungsbeurteilung und damit einhergehenden „Einjustierung“ auf den Entwicklungsstand des Kindes. Dazu eignet sich in besonderer Weise die Interviewphase der Befragung zu einer thematisch neutralen zurückliegenden Episode, bevor zum eigentlichen Kernthema übergegangen wird. Dieser Interviewteil wird einerseits genutzt, um mit dem Kind die Schilderung eines episodischen Narrativs einzuüben, andererseits um das Kind dahin gehend zu beobachten, wie kompetent es

  • Wortschatz, Metaphern und Grammatik beherrscht,

  • sich fokussiert oder aber thematisch springt,

  • vom konkreten Geschehensablauf abschweift und Hinzufügungen einwebt,

  • mit Aufforderungen und sozialen Erwartungen umgeht,

  • sequenzielle Ereignisse korrekt auf dem Zeitstrahl einordnet,

  • mehrere gleichartige Episoden (z. B. Zoobesuche) beim Abruf aus dem Gedächtnis als solche distinkt auseinanderhält oder miteinander vermischt (später relevant für die mentale Abgrenzung einzelner Misshandlungsepisoden).

Die Verhaltensbeobachtung während der Einstiegsphase wird also auch genutzt, um noch entwicklungsangepasster die Befragung zu den ergebniskritischen Passagen führen zu können.

Entwicklungsangepasste Gesprächsführung

Die diagnostische Berücksichtigung von Entwicklungsalter und Aussagetüchtigkeit geht über die aussagepsychologische Bedeutung hinaus. Das Interview ist kein eindimensionaler Informationsfluss vom Kind zum Interviewer, sondern ein interaktionelles, zirkuläres Geschehen. Die Gesprächsresultate hängen daher nicht alleine von dem Entwicklungsalter und der Aussagetüchtigkeit, also von Persönlichkeitsmerkmalen, des Kindes ab. Vielmehr wirken sich kommunikative Rückkoppelungen und Passungen zwischen Kind und Interviewer förderlich oder hinderlich auf die Bereitschaft des Kindes aus, im Rahmen seiner mentalen Aussagetüchtigkeit Informationen preiszugeben oder aber zurückzuhalten. Verlauf und Ergebnis eines Interviews hängen ebenso von der Kompetenz des Interviewers ab, sich angemessen und responsiv auf das kognitive, emotionale und soziale Entwicklungsniveau des Kindes einzustimmen. Erst wenn der Interviewer nicht nur „technisch“ die Skills protokollgerechter Frageformulierung, sondern auch kommunikativ die Skills einer entwicklungsangemessenen Gesprächsführung beherrscht, wird das Kind eine Bereitschaft aufbauen, seine vielleicht noch bruchstückhaften oder schambesetzten Erinnerungen zu erkunden und authentisch auszusprechen. Aussagetüchtigkeit beinhaltet damit nicht nur eine kognitive, sondern auch eine motivationale und diese wiederum eine interaktionelle Dimension.

Formale und erfahrungsbasierte Kompetenzen bei Kinderärzten, Kinderpsychiatern und Kinderpsychologen

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt werden nur die wenigsten Kinderärzte, Kinderpsychiater und Kinderpsychologen über ein systematisches Training in der Durchführung einer suggestionsfreien und protokollgerechten Interviewdurchführung verfügen. Dennoch darf angenommen werden, dass alle kinderbezogenen Berufsgruppen aufgrund ihrer täglichen Praxiserfahrung im Umgang mit gesunden wie entwicklungsverzögerten wie psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen aller Altersstufen grundsätzlich über gute Voraussetzungen für eine entwicklungsangepasste Interviewdurchführung verfügen:

  • Die Kinderdisziplinen verfeinern mit jedem Behandlungskontakt im Allgemeinen und mit jeder formalen Entwicklungsuntersuchung im Besonderen ihr erfahrungsbasiertes Wissen über die alterstypische Ausprägung relevanter Entwicklungsdimensionen. Dies verfeinert vielfach den diagnostischen Blick, auch ohne vorgeschaltete formale Entwicklungsuntersuchung eine orientierende Einschätzung zum individuell vorliegenden Entwicklungsalter zu generieren und sich dann sprachlich und interaktionell schnell darauf einzustellen.

  • Der Beruf des Kinderarztes ist jedem Kind schon vor Einstieg in ein Interview aus vorangegangenen Kontakten vertraut. Für Kinder kann der Kinderarzt eine Vertrauensperson darstellen, wenn er bei Krankheit geholfen hat und die Eltern respektvoll über ihn sprechen. Dieser Vertrauensvorschuss kann die Bereitschaft des Kindes stärken, bei einer Befragung zu Misshandlungsereignissen authentische Aussagen zu machen, da es annimmt, dass diese Informationen in seinem Interesse verwendet werden.

  • Es darf angenommen werden, dass vielen klinisch-medizinisch tätigen Praktikern eingehende Kenntnisse zu den rechtlichen Grundlagen der Befragung von Kindern nur begrenzt zur Verfügung stehen. Ebenso sind Aspekte der Kostenabrechnung in der Praxis oft unklar.

Anwendungssettings des Protokolls: Strafverfahren, Jugendamt, Kinderheilkunde

Unterschiedliche Settings, gemeinsamer Auftrag

Eine Befragung des Kindes bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung und damit auch die Anwendung des NICHD-Protokolls kann in mindestens drei professionellen Kontexten mit primär unterschiedlichen, letztlich aber wieder sachlich wie kollegial verbundenen Auftragslagen durchgeführt werden:

  • Strafverfolgung nach Anzeige: Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht,

  • Sicherung des Kindeswohls und Hilfeplanung: Jugendamt und Jugendhilfe,

  • medizinische Differenzialdiagnostik und Therapie: Kinderdisziplinen, hier vorrangig Pädiatrie, Kinderpsychologie und Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie die Rechtsmedizin.

Es ist bemerkenswert, dass in der Praxis des Kinderschutzes nicht primär Professionelle, sondern vielmehr Laien die erste Weichenstellung vornehmen, in welchem Kontext eine erste Befragung des Kindes durchgeführt wird. Wenn im Kindergarten oder in der Schule, in der Nachbarschaft, in der erweiterten Familie, bei einer Tagesmutter oder im Sportverein der Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung virulent wird, treffen die dort tätigen Personen eine Entscheidung, ob und wer wem gegenüber wann den Verdacht und die Sorge kommuniziert.

Polizei und Strafverfolgungsbehörden, Jugendamt und Medizin können unmittelbar adressiert werden. Insbesondere wenn akute Gefährdung oder Verdunkelungsgefahr droht bzw. nur ein kurzes Zeitfenster zur Spurensicherung verbleibt (z. B. Spermaspuren bei sexuellem Missbrauch), werden die jeweils von Laien adressierten Professionen unmittelbar in eine Abklärung des Sachverhaltes einsteigen. Diese schließt vielfach eine Befragung des Kindes ein. Daher ist grundsätzlich in allen Settings die Anwendung des NICHD-Protokolls zur Qualitätssicherung zielführend.

Neben der gemeinsamen Ausrichtung am Kindeswohl ergeben sich in den jeweiligen Settings jedoch auch Unterschiede hinsichtlich der jeweils relevanten gesetzlichen Grundlagen, Aufträge, Erkenntnisinteressen, Prüfstrategien und weiteren Untersuchungsmethoden, die ergänzend zur Befragung des Kindes zur Anwendung kommen. Die Eltern und dann auch das Kind werden je nach Befragungskontext unterschiedliche Fantasien entwickeln, was das Ziel der Befragung ist und welche Konsequenzen resultieren bzw. drohen können, wenn man Informationen preisgibt. Diese Fantasien und Zuschreibungen beeinflussen maßgeblich die Aussagebereitschaft.

Strafverfolgung

Bei einer Anzeige (Offizialdelikt) erfolgt die Befragung als Vernehmung von Opferzeugen durch Polizei und Staatsanwaltschaft mit dem Ziel der Sachverhaltsaufklärung und Beweissicherung im Vorfeld eines möglichen Strafverfahrens. Die Informationen aus der Befragung des Kindes sind mit anderen kriminalpolizeilichen Ermittlungsergebnissen (z. B. Spurensicherung, Analyse des Tatortes, weitere Zeugenbefragungen) abzugleichen. Die Aussage des Kindes ist daraufhin abzuprüfen, ob die Hypothese, eine Aussage des Kindes ist erlebnisbasiert (eine Misshandlung hat tatsächlich stattgefunden), zu verifizieren oder zu verwerfen ist im Abgleich mit der Hypothese, die Aussage ist lügenbasiert bzw. suggestionsbasiert [18]. Die Leitfrage ist hier: Welche Indizien und Beweise ergeben sich aus der Befragung des Kindes im Rahmen des Ermittlungsverfahrens für oder gegen eine Anklage vor Gericht?

Die Exploration durch die Strafverfolgungsbehörden mag beim Kind eine Zuschreibung auslösen, dass die Befragung vorrangig ein kriminalistisches Ziel verfolgt, an deren Ende eine Bestrafung stehen kann. Richtet sich der Verdacht auf vertraute Bezugspersonen, möchte das Kind möglicherweise vermeiden, dass diese aufgrund von Informationen, die es preisgibt, überführt und bestraft werden. Dies kann das Antwortverhalten in Richtung einer geringen Kooperation bis hin zur Aussageverweigerung bzw. Aussageverfälschung (Lügenhypothese) beeinflussen.

Einige Evaluationsstudien zum NICHD-Protokoll sind in den Settings polizeilicher Ermittlung bzw. staatlicher Kinderschutzdienste und nicht im medizinischen bzw. pädiatrischen Setting erfolgt [10, 12]. Die dort geschilderten Beobachtungen einer starken Zurückhaltung der Kinder zu Gesprächsbeginn könnten daher neben den „technischen“ Problemen einer nicht hinreichend geschickten Gesprächsführung des Interviewers auch dem Setting der Strafverfolgung und damit einhergehender Konsequenzerwartungen aufseiten der Familie und des Kindes geschuldet sein.

Jugendamt

Die Befragung des Kindes steht beim Jugendamt entweder kurzfristig im Kontext einer akuten Gefährdungseinschätzung (z. B. Entscheidung zur Notwendigkeit einer Inobhutnahme) oder dient mittelfristig der prognostischen Entscheidungsfindung über ein sicheres und kindgerechtes Umfeld im Rahmen der Hilfeplanung im Sinne des SGB VIII. Neben der Befragung des Kindes zu Episoden einer Misshandlung (Mikroanalyse) sind solche Hilfeplanentscheidungen von weiteren diagnostischen und prognostischen Informationen zu den vorliegenden individuellen wie innerfamiliären psychosozialen Risiko- und Schutzfaktoren (Makroanalyse) abhängig. Die Leitfragen sind: Besteht eine akute, interventionspflichtige Gefährdung des Kindeswohls bzw. in welchem Setting kann das Kind zukünftig ohne weitere Gefährdung leben und welche Hilfsmaßnahmen sind dazu zu organisieren?

Pädiatrie und Medizin

Die Befragung des Kindes steht hier zunächst im Kontext medizinischer Differenzialdiagnostik, auch wenn selbstverständlich die Fragen der Gefährdungseinschätzung und Strafverfolgung unmittelbar einfließen. Aus pädiatrisch-medizinischer Sicht richtet die Hypothesenprüfung sich auf die Alternative: Leidet das Kind an einem medizinischen Problem bzw. einer Unfallfolge oder ist es Opfer einer Misshandlung? Die Aussage der Eltern eines Kindes mit atypischem Verletzungsmuster („Unser Sohn ist die Treppe heruntergestürzt“) ist zum Beispiel mit radiologischen Befunden und dem empirisch begründeten Wissen über unfalltypische vs. misshandlungsbedingte Verletzungsmuster sowie mit der Befragung des Kindes zu der Episode eines Treppensturzes oder eines alternativen Schädigungshergangs abzugleichen. Ein Mädchen mit genitaler Infektion (z. B. Syphilis), ein Junge mit perianaler Wunde oder ein Kind mit mehrzeitigen Hämatomen oder Frakturen sind weitere Beispiele für die Aufgabenstellung einer medizinischen Differenzialdiagnostik [19, 20]. Solche differenzialdiagnostischen Fragestellungen erfordern die gleiche evidenzorientierte Fundierung und Leitlinienorientierung, wie sie heute in der Medizin insgesamt Standard sind (vgl. www.kinderschutzleitlinie.de). Die allgemeine Leitfrage lautet hier: „Welche medizinischen Differenzialdiagnosen ergeben sich bei dem vorliegenden Befund und welche vorläufige Verdachtsdiagnose ergibt sich aus dem Abgleich der Aussagen des Kindes mit den vorliegenden medizinischen Untersuchungsbefunden?“

Interdisziplinäre Arbeitsteilung und Kooperation

Suggestionsfreie, differenzierte und valide Befragungsergebnisse sind gleichermaßen zieldienlich für eine kindgerechte Hilfeplanung, die polizeiliche Ermittlung im Vorfeld eines potenziellen Strafverfahrens sowie die medizinische Differenzialdiagnostik und Entwicklung einer schlüssigen Verdachtsdiagnose zur Genese der Symptomatik.

Im Zusammenwirken der unterschiedlichen Disziplinen kommt dem medizinisch-pädiatrischen Kinderschutz vielfach die Aufgabe und Funktion einer sehr frühen Weichenstellung und Entscheidungshilfe auch für die Jugendhilfe, die Gerichte und therapeutische Anschlussinterventionen zu:

  • Die Gefährdungs- und Prognosebeurteilung und letztlich Entscheidungen von Jugendamt und Gerichten zu Inobhutnahme, Herausnahme oder Rückführung des Kindes sowie die Urteile der Strafverfolgungsbehörden hängen oft nicht zuletzt davon ab, wie „hart“ die Befunde einer erfolgten Schädigung des Kindes medizinisch-pädiatrisch belegt und dokumentiert sind. Die Belastbarkeit der Befunde des medizinischen Kinderschutzes ergibt sich regelmäßig aus der Verbindung von medizintechnischer Diagnostik und Interview.

  • Ein belastbarer pädiatrischer/kinderpsychologischer Ausgangsbefund bildet vielfach erst die Grundlage für eine belastbare Hilfeplanung unter Einschluss sozialpädagogischer Anschlussinterventionen des Jugendamtes. Die Mitwirkung der Eltern und der Familie kann im Lichte klarer Befunde unstrittiger eingefordert und legitimiert werden. Eindeutige medizinische Befunde bilden so die Grundlage für ein nicht abweisbares Arbeitsbündnis mit den Eltern auf Basis der gemeinsamen Sorge um das Wohl des Kindes.

  • Das Gleiche gilt für die Vereinbarung kinder- und jugendpsychiatrischer, psychotherapeutischer, familien- oder paartherapeutischer Anschlussinterventionen. Diese können mit sehr viel mehr Nachdruck eingefordert werden, wenn unabweisbare medizinisch-pädiatrische Ausgangsbefunde vorliegen. Solange Eltern bei unklarer Befundlage eine erfolgte Misshandlung anzweifeln können, so lange kann auch eine erfolgte Traumatisierung des Kindes bagatellisiert werden und die unterstützende Mitwirkung bei einer Traumatherapie in Abrede gestellt werden.

  • Eine pädiatrisch-medizinische Untersuchung und Dokumentation kann auch später noch einmal relevant werden, selbst wenn ein akuter Misshandlungsverdacht nicht abschließend geklärt werden kann. Bei Wiederholungsverletzungen oder sich erst zeitverzögert ergebender Aussagebereitschaft kann eine akribische und gerichtsfeste Dokumentation zu einem späteren Zeitpunkt in der Zusammenschau von mehrzeitigen Befunden wieder strafverfolgungs- und hilfeplanrelevant werden [19, 20].

Fazit

Die Anwendung des evaluierten, halbstrukturierten NICHD-Interviewprotokolls stellt einen deutlichen Fortschritt bei der qualifizierten Befragung von Kindern bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung dar. Seine Nutzung erhöht gleichermaßen den Umfang und die Validität der Aussagen. Es schützt vor wesentlichen Suggestions- und Verzerrungseffekten. Eine kompetente Interviewdurchführung geht jedoch über eine formal protokollgerechte Befragungstechnik hinaus. Das NICHD-Protokoll kann in unterschiedlichen Settings der Medizin (vorrangig den Kinderdisziplinen) wie auch in der Jugendhilfe und den Gerichten wie auch im Rahmen der Strafverfolgung gleichermaßen hilfreich angewendet werden.