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1 Einleitung

„Deutschland ist Autoland“ (Radkau 2008, S. 314; Kagermann 2019). Das Narrativ hat sich in unseren Köpfen festgesetzt, verfestigt wohl schon, als in den 1960er-Jahren die „Freie Fahrt für freie Bürger“Footnote 1 – die Bürgerinnen fehlten, sie waren auch nicht wirklich mitgedacht – abseits politischer Schattierungen zum übermächtigen Leitmotiv der deutschen Verkehrspolitik wurde. Alles klar demnach, ein Deutschland ohne Autodominanz nicht vorstellbar? Als Sozialwissenschaftler*innen sollten uns solche festgefahrenen Ansichten stutzig machen, ein periodisches Hinterfragen vor dem Hintergrund der laufenden Forschung und neuer gesellschaftlicher Entwicklung scheint jedenfalls angebracht. Der vorliegende Beitrag macht sich deshalb auf, aus historischer Perspektive die Verkehrs- und Mobilitätsgeschichte Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert zu skizzieren, dies bewusst auch provokativ im Sinne eines „Bürsten wider den Strich“. Dabei wird der Blick immer wieder auch von außen auf Deutschland gerichtet, in erster Linie aus der Schweiz, die sich selber gerne als „Eisenbahnland“ sieht, aber letztlich ähnlich vom Auto dominiert wird wie Deutschland. Der Beitrag will aus dieser historisch vergleichenden Perspektive helfen, die Ansatzpunkte für eine Verkehrswende zu schärfen. Nach einigen grundlegenden Ausführungen zum Verhältnis von Mobilität und Verkehr werden in der gebotenen Kürze und mit einem Fokus auf dem Personenverkehr zentrale Prozesse der deutschen Verkehrsentwicklung seit dem 19. Jahrhundert skizziert, dies immer wieder auch im Vergleich zur benachbarten Schweiz.

2 Verkehrsentwicklung und Mobilität

Die Grundzüge der Verkehrsentwicklung der letzten beiden Jahrhunderte lassen sich in wenigen, einfachen Stichworten skizzieren: Der Verkehr wurde schneller und vor allem pro zurückgelegtem Kilometer enorm viel billiger (vgl. grundlegend dazu: Merki 2008). Die dadurch eingesparten Kosten wurden mehrheitlich nicht für andere Lebenssphären verwendet, sondern die zurückgelegten Distanzen wuchsen und die immer luxuriöseren Verkehrsmittel machten das Reisen bequemer und sicherer. Am Anfang dieser Entwicklungen stehen die Eisenbahn und das Dampfschiff, danach die Individualverkehrsmittel Fahrrad und Auto, letzteres wird rasch zum dominierenden Verkehrsmittel. Wenig später kommt wieder ein (weitgehend) kollektives Verkehrsmittel dazu, das Flugzeug. Die Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte präsentiert sich in weiten Teilen als Geschichte zunehmender Handlungsoptionen. Neue Angebote auf dem Markt haben die bestehenden im Sinne von Edgertons „Shock of the old“ (2006) nur selten ganz verdrängt, sondern lediglich neu positioniert und zusätzliche Handlungsoptionen geschaffen.

So viel in aller Kürze zur Verkehrsentwicklung. Wird der Begriff „Mobilität“ vom Begriff „Verkehr“ unterschieden, wie das seit den 1990er-Jahren gerade von den deutschen Sozialwissenschaften mit guten Argumenten propagiert wird (Canzler und Knie 1998; Buhr et al. 1999), sieht die langfristige Entwicklung durchaus anders aus und weniger eindeutig als im obigen, rein verkehrshistorischen Kontext. Ein so verstandener Mobilitätsbegriff umfasst nicht nur realisierte Ortsveränderungen, sondern darüber hinaus auch die individuellen Potenziale zur Bewegung. Er adressiert die Zugänge zum Mobilitätssystem, die Mobilitätskompetenzen, die Zwecke und Aneignungsformen. Qualität und Entwicklungsstand eines Mobilitätssystems messen sich in diesem Sinn nicht nur an den Verkehrs- und Transportleistungen, sondern auch an der Art und Weise, wie die individuellen Mobilitätsbedürfnisse befriedigt werden können, wie die Mobilitätschancen, aber auch die unerwünschten Nebenwirkungen der Mobilität, innerhalb der Gesellschaft verteilt sind. Mobilität ist in diesem Sinne ein zentrales Phänomen unseres Alltags. „Sie ist existentielles Bedürfnis, kulturelle Praxis, hedonistischer Konsum. Unterwegssein ist anthropologische Notwendigkeit, sie ist Erfahrung, Welterschliessung, Risiko, Lust und Last zugleich. Mobilität ist vielschichtig in ihren Rhythmen, den ihr zugrundeliegenden Motiven und in ihren Wegemustern. Mobilitätshandeln ist zweckgebunden, mehr oder weniger routiniert, manchmal bewusst inszeniert, oft wenig reflektiert oder spontan und nicht weiter begründbar“ (Haefeli 2022, S. 9).

Die hohe Emotionalität verkehrspolitischer Debatten in Deutschland und anderswo – etwa um ein Tempolimit auf Autobahnen – lassen sich aus einem solchen differenzierten Verständnis von Mobilität und Verkehr besser nachvollziehen als aus einer rein „rational“ verkehrsbezogenen Perspektive. Auf der Autobahn möglichst schnell zu fahren, dürfte beispielsweise selten ausschließlich der Reisezeitverkürzung dienen, sondern ist immer auch Ausdruck einer spezifischen kulturellen Praxis und oft auch einfach das Resultat nicht hinterfragter Verhaltensroutinen. Viel spricht deshalb für eine integrierte Behandlung von mobilitäts- und verkehrspolitischen Aspekten in der dringend notwendigen Debatte um eine Verkehrswende.

3 Die Eisenbahn befeuert die Industrialisierung

Nähern wir uns den Dingen nun aus einer diachronen Perspektive: Die vielleicht wichtigste Verkehrsinnovation seit der Erfindung des Rads war die Motorisierung des Verkehrs, zunächst durch die Dampfmaschine, später durch den Elektro- und den Explosionsmotor (Radkau 2008; Fremdling 1975; Roth 2005; Ziegler 1996; Wolf 1992). Vor dem Ersten Weltkrieg waren es vor allem die Eisenbahn und das Dampfschiff, ab dem Ende des 19. Jahrhunderts auch das Fahrrad, der Omnibus und die Strassenbahn, welche parallel, und in sich ständig aufschaukelnder Wechselwirkung mit vielfältigen Entwicklungen außerhalb des Verkehrssektors, die rasante Industrialisierung Deutschlands vorantrieben und die historisch höchsten Wachstumsraten der städtischen Bevölkerung ermöglichten. Der enorme Stellenwert der Erreichbarkeit durch immer schnellere Verkehrsmittel hat sich mit der Eisenbahn verfestigt und wurde damit zu einem Eckpfeiler jeder Vorstellung von Modernität. Eng verbunden war damit eine hohe Wertschätzung ständig wachsender individueller Aktionsräume. Beispielsweise forderte der Bund der Landwirte schon kurz vor 1900, dass zukünftig kein Punkt in Deutschland weiter als eine halbe deutsche Meile – knapp vier Kilometer – vom nächsten Bahnhof entfernt liegen dürfe. Das Ziel wurde nicht erreicht, die Richtung späterer Verkehrs- und Mobilitätspolitik aber war damit bereits vorgegeben. 1910 verfügte Deutschland mit 60.000 Schienenkilometern über das längste Streckennetz Europas. Damit lässt sich als erster Befund schon festhalten, dass auch ohne Autos bedeutender Wohlstand möglich wurde.

Wie in den meisten Ländern standen sich auch in der deutschen Eisenbahnpolitik zwei gegensätzliche Paradigmen gegenüber: Die eine Position betrachtete die Eisenbahn aus einer betriebswirtschaftlichen Optik, verpflichtet der Aufgabe, ihre Kosten selbst zu tragen, oder gar Gewinne zu erzielen. Die zweite Position stellte die Eisenbahn in den Dienst gesamtgesellschaftlicher Ziele und verband damit volkswirtschaftliche, aber auch vielfältige sozialpolitische Intentionen. Die Bahn wurde als „Daseinsvorsorge“ (Gegner und Schöller 2005) gesehen und nicht selten und gerade in Deutschland auch als Möglichkeit staatlicher Beschäftigungspolitik. In der Praxis haben sich die beiden paradigmatischen Haltungen fast überall vermischt, allerdings mit unterschiedlichen Akzenten.

Während beispielsweise in der Schweiz trotz der 1902 realisierten Verstaatlichung vieler Privatbahnen in den Schweizerischen Bundesbahnen SBB viele betriebswirtschaftliche Elemente erhalten blieben, sah Deutschland die Bahn lange Zeit viel stärker im Kontext gesamtstaatlicher Ziele. Der Versuch, mit der 1924 gegründete „Deutschen Reich-Gesellschaft“ (DRG) unternehmensähnliche Strukturen einzuführen, brachte zwar zunächst einige Impulse, scheiterte letztlich aber erstens an der Beharrungskraft der Bahnkader, die sich weiterhin als Reichsbeamte sahen und zweitens am fehlenden Willen der Politik, die Bahn aus der direkten Führung durch den Verkehrsminister zu entlassen. Das Scheitern der DRG mag auch damit zusammenhängen, dass sie von den Alliierten von außen aufgezwungen war oder zumindest so wahrgenommen wurde und dass sie im Rahmen der Versailler Verträge Gewinne als Reparationszahlungen abführen musste. Vor allem aber beschäftige die Bahn aus arbeitsmarktpolitischen Gründen in der Zwischenkriegszeit und darüber hinaus viel mehr Personal als sie eigentlich gebraucht hätte. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verlor die gerne als „Dawes-Bahn“ diskreditierte DRG weiter an Bedeutung und wurde 1937 offiziell aufgelöst, die Bahn wurde wieder direkt dem Verkehrsminister unterstellt (Kopper 2007, S. 423–437; Gottwald 2009, S. 77–114). Selbst die Niederlage im Zweiten Weltkrieg führte zu keiner Neustrukturierung, auch weil die Alliierten in der Beamtenschaft der Bahn keine personellen Neubesetzungen forderten. Der Apparat blieb aufgebläht, gemäß Christoph Kopper beschäftige die Bahn noch Mitte der 1950er-Jahre etwa 45.000 Arbeitskräfte mehr, als sie benötigte (Kopper 2007, S. 437). Es war wohl nicht einfach die Last der Reparationszahlungen, welche die Bahn – nach den verheißungsvollen Entwicklungen bis zum Ersten Weltkrieg – seit der Zwischenkriegszeit lähmte, vielmehr zeigt sich eine landestypische Industriepolitik, welche älter war als die Konkurrenz durch das Auto, die aber dessen Siegeszug letztlich erleichtert hat.

Die längst überfällige Modernisierung der Bahn, nicht zuletzt die Elektrifizierung, wurde in dieser Zeit verhindert, was die Bedeutung der Bahn in Deutschland für viele Jahrzehnte, letztlich bis in die Gegenwart, geschmälert hat (Haefeli 2016, S. 103–104). Noch 1961 erbrachte die deutsche Bahn erst 22 % der Zugförderleistung mit elektrischer Traktion, der Anteil des Diesels betrug 24 %, derjenige des Dampfs 54 % (Voigt 1965, S. 603). Die Schweizer Bundesbahn SBB beispielsweise hatte sich dagegen schon vor dem Zweiten Weltkrieg weitgehend elektrifiziert, dies sicher auch, weil die Schweiz anders als Deutschland über keine grossen Vorräte an preiswerter Kohle verfügte (Haefeli 2022, S. 23). Und nicht nur technisch verloren die deutschen Eisenbahnen an Boden, auch die überfällige Modernisierung des Selbstverständnisses, von einer staatlichen Anstalt der Daseinsvorsorge hin zu einem kundenorientierten Mobilitätsdienstleister, ist bis heute trotz unstrittiger Erfolge im Bereich des Hochgeschwindigkeitsverkehrs noch zu wenig gelungen (Gegner und Schöller 2005, S. 63). Die deutsche Bahn geriet im Vergleich zu ausländischen Bahnen – die prominentesten Beispiele sind Japan und die Schweiz – ins Hintertreffen. Vor allem aber ebnete die in weiten Teilen gescheiterte Modernisierung der Bahn dem Auto den Weg zur Dominanz ab der Mitte des 20. Jahrhunderts.

4 Massenmotorisierung als „politikfreier“ Prozess

Damit sind wir bei der Massenmotorisierung der Nachkriegsjahrzehnte. West-Deutschland ist diesbezüglich unabhängig von den oben geschilderten Prozessen kein Einzelfall in Europa (Merki 2002; Mom 2015). Im Gegenteil verlief diese überall in Westeuropa ähnlich. Das Auto passte einfach zu gut zu den gesellschaftlichen Leitbildern der „Trentes Glorieuse“, der Verherrlichung von Individualismus und bürgerlicher Kleinfamilie im Zeichen des „American Way of Life“; und die wachsende Kaufkraft der Haushalte tat ihr Übriges (Lutz 1989). Die Massenmotorisierung kann damit als gesellschaftspolitisch wohl begründet gelten und sie wurde in West-Deutschland politisch noch konsequenter gefördert als in den meisten anderen westeuropäischen Ländern. Der Slogan „Wohlstand kommt auf guten Straßen“, welcher die Deutsche Straßenliga selbstbewusst dem 3. Deutschen Straßentag von 1957 voranstellte (Klenke 1995, S. 31), wurde in den kommenden Jahren zum Mantra der Deutschen Straßenlobby, welches seine Magie bis heute nicht ganz verloren hat. Das Auto wurde zum gesellschaftlichen Aufstiegsziel par excellence stilisiert. Für die Zeit bis in die 1970er-Jahre hat Dietmar Klenke überaus treffend von einem „politikfreien Automatismus“ in Richtung Autodominanz gesprochen, denn Opposition gab es weder von rechts noch von links. Es wurden Pfadabhängigkeiten geschaffen, welche sich auch nach einer gewissen Entzauberung des Autos im Gefolge der Umweltwende der letzten Jahrzehnte nicht mehr rückgängig machen ließen.

Ein Beispiel für solche Pfadabhängigkeiten ist die höchst folgenreiche und konzeptionell wenig durchdachte Einführung der Pendlerpauschale 1955, welche ursprünglich primär sozial- und regionalpolitisch motiviert war; weder die Autolobby noch das Verkehrsministerium hatten sich an vorderster Front dafür stark gemacht. Die Pauschale war zudem mit 50 Pfennig pro Kilometer sehr hoch und sie konterkariert bis in die Gegenwart die raumordnungspolitischen Ziele auf das Schärfste (Klenke 1995, S. 36). Ein zweites Beispiel ist das in den 1960er-Jahren eingeführte Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz als Subventionspolitik des Bundes für eine „modernisierte“ städtische ÖPNV-Infrastruktur. Diese lockte die Kommunen mit Subventionen bis zu 90 % und führte den ÖPNV in vielen Städten wegen überdimensionierten U-Bahnen oder unterirdischen Straßenbahnen an den Rand des Ruins, während sie gleichzeitig dem Auto an der Oberfläche zusätzlichen Raum schuf, was dessen Dominanz letztlich nochmals erhöhte. Die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs wurde denn auch häufig damit gerechtfertigt, dass sein Ausbau unter Tage zugleich der Entlastung der Straße diene (Haefeli 2010, S. 149–158).

Die langfristig prägenden Folgen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz werden besonders im Vergleich zur Entwicklung in der Schweiz deutlich. Auch die Schweizer Städte planten in den 1960er-Jahren große unterirdische Netze des öffentlichen Verkehrs und Stadtautobahnen, die Parallelen zu Deutschland sind offensichtlich. Jedoch waren weder die Kantone noch der Bund Willens oder in der Lage, diese ÖPNV-Infrastrukturen in einem nennenswerten Ausmaß zu subventionieren, weshalb die Städte ihre Projekte nicht weiterverfolgen konnten. In der Folge wandten sie sich zuerst eher widerwillig, aber nach der umweltpolitischen Wende um 1970 immer überzeugter einer inkrementalistischen, aber letztlich vergleichsweise erfolgreichen Förderung des öffentlichen Verkehrs zu. Langfristig wurden damit in der Schweiz auch volkswirtschaftlich günstigere Lösungen gefunden (Haefeli 2005, S. 193–214).

Bei den Stadtautobahnen hätten auch in der Schweiz Subventionsmöglichkeiten bestanden, hier scheiterten die Projekte im direktdemokratischen System der Schweiz am lokalen Widerstand, den es in Deutschland nach 1970 durchaus auch gab, der sich im dortigen politischen Kontext aber nicht durchsetzen konnte. Im Stadtverkehr fielen so in den 1960er-Jahren zentrale Entscheide in der Schweiz anders aus als in Deutschland, jedoch weniger auf Grund reflektierter verkehrspolitischer Konzeptionen, denn als Folge politisch-institutioneller Unterschiede zwischen den beiden Ländern. Nimmt man noch die oben erwähnte erfolgreiche Modernisierung der Schweizer Bahn im Fernverkehr hinzu, wird deutlich, wieso sich der öffentliche Verkehr in der Schweiz auch im Zeichen des Automobilismus viel besser behaupten konnte als in West-Deutschland. Dass die Schweiz durchaus mit einem gewissen Recht ein überdurchschnittlich gut funktionierendes Verkehrssystem für sich behaupten kann, wurzelt also stark in Entscheidungen, die vor 1970 gefallen sind und die nicht primär das Resultat verkehrspolitischer Analysen waren (Haefeli 2008, S. 289–296).

Die deutsche Entwicklung war aber – und der Hinweis darauf dürfte wichtig sein – letztlich wie oben schon angetönt demokratisch recht gut abgestützt. Widerstände gegen neue Verkehrsinfrastrukturen gab es vor 1970 nur vereinzelt und sie blieben weitgehend wirkungslos. Dies auch aufgrund einer selten großen Übereinstimmung der wichtigen politischen Akteure: Die Politik der CDU-Verkehrsminister und diejenige der SPD-Vertreter hat sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht entscheidend unterschieden. Die hohe Wertschätzung von Mobilität und Verkehrswachstum, die sich bereits in der Eisenbahnpolitik des 19. Jahrhunderts manifestiert hatte, wurde auch im Zeitalter des Autos nicht hinterfragt, ganz im Gegenteil. Es veränderten sich einfach die Verkehrsmittel. Legendär ist in diesem Zusammenhang die Forderung im „Verkehrspolitisches Programm für die Jahre 1968 bis 1972“ (nach dem damaligen sozialdemokratischen Verkehrsminister Georg Leber auch Leber-Plan genannt), wonach allen Deutschen ein Autobahnanschluss in höchsten 25 km Distanz von ihrem Wohnort zu gewährleisten sei. Die Demokratisierung des Autos wurde damit endgültig zu gesellschaftspolitischen Maxime (vgl. Canzler 2016).

Die deutsche Verkehrspolitik wurde also eher in aller Öffentlichkeit am Stammtisch als in den finsteren Hinterzimmern der Auto- und Baulobby geschrieben. Und sie lässt sich gewiss nicht aus einer rein verkehrsbezogenen Optik verstehen, sondern nur, wenn die oben skizzierten vielfältigen Bedeutungszusammenhänge von Mobilität mitberücksichtigt werden. Die autodominierte Aufbruchstimmung im Nachkriegsboom ist zweifellos neben den bahnspezifischen Weichenstellungen der Zwischenkriegszeit ein zweiter zentraler Strang der deutschen Verkehrspolitik mit Einfluss bis heute. Langfristig selbstverstärkende Mechanismen bewirkten für viele eine Art systemischen Zwangs zur Autohaltung, auch nach einer gewissen Entzauberung des Autos nach 1970 im Zeichen wachsender Sorgen um den Zustand der Umwelt (Sachs 1984; Kuhm 1997; Köhler 2018). Der Topos vom „Autoland“ Deutschland sollte trotzdem relativiert werden. Dies erstens mit einem Blick auf die Motorisierungsraten in Europa im Jahr 2021: Die Motorisierungsrate Deutschland (580 Autos pro 1000 Personen) liegt nicht weit über dem EU-Durchschnitt (567) und andere große Länder wie Italien (675) weisen deutlich höhere Raten auf.Footnote 2 Selbst die Motorisierung im „Eisenbahnland“ Schweiz (546) liegt nur wenig unter der derjenigen Deutschlands. Die Massenmotorisierung ist also abseits von nationalen Sonderwegen eher als übergreifendes Phänomen der Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg zu sehen. Die Rede vom Autoland Deutschland hängt zweitens stark mit der Bedeutungszuschreibung der Automobilwirtschaft zusammen. Die Denkfigur, wonach die Automobilwirtschaft als Leitsektor der deutschen Volkswirtschaft zu sehen sei, hat sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkriege verfestigt, ihre Vorherrschaft scheint ungebrochen. Im Zeichen des Wirtschaftswunders schien eine solche Einschätzung auch wohl begründet, die Automobilindustrie hat zweifellos Wohlstand geschaffen und den Ruf Deutschlands als „Exportweltmeister“ verfestigt. Die Lesart könnte aber auch hier eine ganz andere sein: Wenn erstens heute vier Prozent der Erwerbstätigen eng mit der Automobilwirtschaft verbunden sind,Footnote 3 so sind dies 96 %, also fast alle, nicht. Zweitens gilt es, die Bedeutung der deutschen Automobilwirtschaft auch im internationalen Vergleich einzuordnen. In der Schweiz gibt die offizielle Statistik den Anteil des Autosektor mit etwa 4,4 % an, denn die Zulieferindustrie gerade für die deutschen Autobauer spielt in der Schweizer Wirtschaft eine bedeutende Rolle.Footnote 4 Auch wenn solche länderübergreifenden Statistiken immer mit einer gewissen Vorsicht zu lesen sind, relativiert dieser Befund doch einiges.

Drittens scheint eine kontrafaktische Betrachtung des Automobilismus in Anlehnung an die klassische Studie von Robert Fogel (1964) zum – seiner Meinung nach überschätzten – Beitrag der Eisenbahn zur Industrialisierung in den USA interessant. Fogels Analysen mögen in Vielem aus heutiger Sicht hinterfragt werden (Winiwarter und Martin 2007, S. 230–233), aber immerhin hat er ein heuristisches Werkzeug entwickelt, das im Prinzip auch die Wachstumseffekte des Automobilismus zu erfassen erlaubt. Im Zentrum einer solchen Argumentation stünde der Gedanke, dass die Wirkung des Automobils nur beurteilen könne, wer eine kontrafaktische Vorstellung davon habe, wie sich eine Wachstumsgesellschaft ohne sie entfaltet hätte. Wie würde Deutschland demnach aussehen, wäre die Autodominanz seit der Mitte des 20. Jahrhunderts weniger entschieden umgesetzt worden? Für die Schweiz haben Eisinger und Siegenthaler (2008) dies versucht, mit einem Fokus auf räumliche Entwicklungen. Bezüglich dieser kontrafaktischen Realität einer autolosen Entwicklung stellen sie zunächst die Frage, ob die Eisenbahn nicht zu ähnlichen Ergebnissen hätte führen können? Insgesamt kommen sie zum plausiblen Schluss, dass der Einfluss auf die Siedlungsentwicklung sich ohne Auto kaum in ähnlichem Maße in die Fläche verlagert hätte. Städte und stadtnahe Gebiete wären verdichtet worden, ausgestattet mit einem gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehrsnetz. Also genau die Entwicklung, welche die Raumordnungspolitik heute mühevoll und mit beschränktem Erfolg anstrebt. Ob die Massenmotorisierung in ihrer heutigen Form für alle Zukunft als alternativlos zu gelten hat, lässt sich vor dem Hintergrund solcher Überlegungen mit Fug und Recht anzweifeln (Canzler et al. 2018, S. 32).

Die Frage nach einen kontrafaktischen Entwicklungspfad ist damit selbstverständlich keineswegs vollständig beantwortet, nicht für die Schweiz und auch nicht für Deutschland. Sie scheint aber reizvoll und könnte die Diskussion um die Verkehrswende aus einer ergänzenden Perspektive befruchten. In der Summe der Argumente lässt sich jedenfalls in Frage stellen, ob die Rede vom Autoland Deutschland das Verhältnis der deutschen Bevölkerung zur Mobilität nicht mehr verschleiert als erklärt. Gerade der hier anschließende Blick auf das Flugzeug könnte eine solche Argumentation stützen.

5 Fernreiseboom dank billigen Flugreisen

Die Anfänge der deutschen Luftfahrt reichen bis an den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Wie auch andernorts ist in dieser Phase der enge Zusammenhang zwischen militärisch getriebener Entwicklung und ziviler Nutzung der neuen Optionen charakteristisch. Fliegen blieb aber über fast das ganze 20. Jahrhundert das Privileg reicher Eliten, was sich erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts grundlegend ändern sollte. Flugreisen wurden seit der Jahrtausendwende zunehmend von einem sorgfältig geplanten Highlight zu einer routinemäßig unternommenen Alltagspraxis. Gleichzeitig zeigt sich zumindest bei urbanen Eliten in der Schweiz, dass der Autoverkehr immer mehr zu einem bewusst eingesetzten Element eines multimodalen Mobilitätskonzepts wird (Haefeli et al. 2020). Fliegen und Autofahren gleichen sich demnach als soziale Praktiken mehr und mehr an.

Drei Faktoren spielten dabei die entscheidende Rolle. Erstens und vor allem sind es auch hier die Preise. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sanken die Kosten des Fliegens pro Tonnenkilometer dank technischem Fortschritt enorm. Zweitens führte die Liberalisierung des Luftverkehrs im EWG-Raume zwischen 1989 und 1993 zur Etablierung neuer Billigfluglinien und einem teilweise ruinösen Preiskampf, in dem viele Staaten nicht davon zurückscheuten, ihre Flag-Carriers mit massiven direkten und indirekten Subventionen zu stützen. Diese Subventionen lassen sich gut in den Kontext der Forderungen um gute Bahnanschlüsse für alle vor 1900 sowie in die Zielsetzungen des Leber-Plans einordnen: Mobilität und Verkehrswachstum rechtfertigen staatliche Eingriffe in den Markt ganz offensichtlich unabhängig vom Verkehrsmittel. Insgesamt sanken die Ticketpreise für die Passagiere zwischen etwa 1950 und dem Ende des Jahrhunderts inflationsbereinigt um 97 % (Meyer 2016, S. 92). Drittens verfügten die Nachfragenden über wachsende finanzielle Ressourcen und mehr Ferientage. Das Hauptsegment der Flugpassagiere verlagerte sich in der Folge vom Geschäfts- zum Freizeitverkehr (Spode 2004; Fabian 2016). Dieser dritte Faktor wird in der verkehrswissenschaftlichen Forschung in seiner Bedeutung gerne unterschätzt, was zu einer latenten Überschätzung der Steuerungsmöglichkeiten klassischer Verkehrspolitik führt: Gestiegene Verkehrsleistungen sind eben immer auch und wahrscheinlich vor allem die Folge und nicht bloß die Ursache von Wirtschaftswachstum.

Bezeichnend für die deutsche Infrastrukturpolitik der ersten Nachkriegsjahrzehnte ist die Entwicklung der terrestrischen Infrastruktur des Fliegens. Die in den 1960er-Jahren neugebauten Flughäfen verfügten über gute Autobahn-, aber über keine Bahnanschlüsse (Dienel 1998, S. 115). Umgesteuert wurde diesbezüglich in Deutschland relativ spät, etwa mit dem Anschluss des Flughafens Frankfurt/Main an den Hochgeschwindigkeitseisenbahnverkehr im Jahr 1999.

Die stürmische Entwicklung des Flugverkehrs der letzten Jahrzehnte hatte aus Sicht einer Verkehrswende gravierende Folgen, die in den aktuellen Debatten immer noch eher stiefmütterlich behandelt werden. Gerade aus der Perspektive des Klimawandels lässt sich die Bedeutung des Flugverkehrs nicht mehr kleinreden, und sie muss in den Diskussionen um die Verkehrswende künftig zwingend eine größere Rolle spielen. Allerdings ist die Datenlage schlecht, was ja häufig auf ein fehlendes Problembewusstsein hindeutet. Die großen nationalen Erhebungen zum Mobilitätsverhalten in Deutschland berücksichtigen die Flugreisen nur bis zur Landesgrenze, was selbstredend eine groteske Verzerrung mit sich bringt. Welche gesellschaftlichen Gruppen im Rahmen welcher Mobilitätskonzepte wieviel fliegen, bleibt so letztlich im Dunkeln.

Etwas besser ist die Datenlage (ausnahmsweise) in der Schweiz: Gemäß dem Mikrozensus Mobilität und Verkehr legte eine durchschnittliche Person 2015Footnote 5 etwa 25.000 Km pro Jahr zurück, davon je etwa 9000 mit dem Auto und mit dem Flugzeug.Footnote 6 Die Klimawirkungen des Fliegens sind pro Kilometer bekanntlich deutlich höher als im terrestrischen Verkehr. Das UBA rechnet mit mittleren Emissionsfaktoren von für das Auto 154 g CO2/Pkm, und für das Flugzeug (im Inland): 214 g CO2/Pkm.Footnote 7 Demnach übersteigen die spezifischen Klimawirkungen des Fliegens diejenigen des Autos in der Schweiz bereits 2015 um gut 40 %. Daraus ließe sich gewiss ein politischer Auftrag ableiten.Footnote 8 Auch wenn Daten fehlen, gibt es wenig Grund für die Annahme, dass in den reichen Gebieten Europas („blaue Banane“), zu denen unter anderem auch Süddeutschland gehört, weniger geflogen wird als in der Schweiz.

6 Fazit: Kontinuitäten und wachsende Widersprüche

Das 19. und das 20. Jahrhundert sind in Deutschland insgesamt von einem beispiellosen Wirtschaftswachstum geprägt, allen Krisen und Verwerfungen zum Trotz. Der Blick auf die langfristigen Prozesse macht dabei deutlich: Dieser Wohlstand ist nicht erst auf guten Straßen gekommen, er ist schon im 19. Jahrhundert mit der Eisenbahn eingefahren und landet heute mit den Billigflügen auf unseren Flughäfen. Und er ist immer auch in erster Linie das Resultat gesamtgesellschaftlicher Entwicklung. Wer nach den langfristigen Trends unseres Verkehrsverhaltens fragte, sollte also den Blick auf das große Ganze nicht verlieren, zentral sind dann nicht einzelne Verkehrsmittel, sondern die Kontinuität wachsender Verkehrsleistungen. Die Wachstumsorientierung oder je nach Sichtweise der Wachstumszwang als konstitutives Merkmal der Moderne zeigt sich im Verkehrsbereich besonders ungebrochen: Schneller und weiter, darum ging es in erster Linie (Sieber 2021). Dass das gesellschaftspolitisch gewollt war und über den eigentlichen Wachstumsbeitrag des Verkehrssystems hinaus gefördert wurde, belegen die vielfältigen Subventionen, von staatlichen Vorleistungen in große Infrastrukturen (Eisenbahnen. Straße, Flughäfen) bis zu direkten und indirekten Betriebssubventionen aller Art (von der Pendlerpauschale über die Nutzung von Geschäftsautos für private Zwecke bis zur steuerlichen Bevorzugung des Kerosins).

Dieser „Steigerungslauf“ wachsender Verkehrsleistungen ist einerseits zweifellos ungebrochen, er stößt aber andererseits zunehmend an Grenzen. Die ungewollten negativen Nebenwirkungen des Verkehrs drängen immer stärker in den Vordergrund und manifestieren sich in der Klimapolitik, im Kampf um den öffentlichen Raum, um saubere Luft, ruhige Nachbarschaften und unberührte Landschaften. Die Repolitisierung der Verkehrspolitik ist jedenfalls offensichtlich. Für viele wird dabei immer deutlicher, dass sich eine gelingende und befriedigende Mobilität nicht einfach nur am Tempo und der zurückgelegten Anzahl von Kilometern messen lassen darf.

Die Geschichtswissenschaft kann also helfen, die Analyse der Verkehrsprobleme zu schärfen. Kann sie aber auch Lösungsansätze einbringen? Bescheidenheit ist angebracht, Lehren aus der Geschichte lassen sich in aller Regel nicht so ohne weiteres in die Zukunft projizieren. Anregungen sind aber vielleicht möglich. Den aus einer historischen Perspektive erklärbaren, aber trotzdem verzerrten Blick auf das Auto zu korrigieren, könnte einige Akzente neu setzen: So wenig die Verkehrspolitik einseitig das Auto protegieren sollte, so falsch ist es ebenso, die dringend benötigte Verkehrswende lediglich an einem neuen Verhältnis zum Auto zu messen oder gar einfach dessen Elektrifizierung als Allheilmittel zu fordern. Gerade die enorme Zunahme des Flugverkehrs wäre stärker zu adressieren.

Darüber hinaus kann die vorliegende Skizze der historischen Entwicklung im Sinne des in diesem Text eingeführten Verständnisses von Mobilität als Plädoyer für eine Mobilitätspolitik verstanden werden, die weit über die traditionelle Verkehrspolitik hinausgreift.