Schlüsselwörter

1 Einleitung

Die Komplexität der gesellschaftlichen Transformationsaufgaben ist enorm. Das gilt auch für die unterschiedlichen Perspektiven, Anforderungen und Konfliktdimensionen, die bei der Aushandlung von lokal passenden Lösungsoptionen und Transformationspfaden berücksichtigt werden müssen. Experimentelle und transdisziplinäre Forschungsformate können als Reaktion auf ein strukturelles Problem der rein wissenschaftlichen Erkenntnis- und Evidenzproduktion verstanden werden. Denn wissenschaftliche Konzepte und Modelle lassen sich nicht ohne Weiteres in die Praxis übertragen und genügen allein nicht, um die Transformationsherausforderungen bearbeiten zu können. Dies ist ein zentraler Grund dafür, dass transdisziplinäre Formate, die neben der Wissenschaft gezielt weitere gesellschaftliche Akteursgruppen (Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft) einbeziehen, stetig an Bedeutung gewinnen. Sie werden als der Weg betrachtet, die Lücke zwischen Forschung und Praxis zu schließen und „sozial robustes Wissen“ (Nowotny 1999, 2003) über Transformationspfade und Lösungsstrategien zu generieren. Dieser Beitrag diskutiert das Potenzial von transdisziplinären Experimentierräumen als Forschungsstrategien der Mobilitätsforschung, die Orte hervorbringen, an denen Alternativen erlebt und erprobt werden können. Dazu werden diese experimentellen Formate in einem ersten Schritt im Kontext der transdisziplinären Reallaborforschung verortet und hierbei die idealtypische Prozesslogik und zudem die verschiedenen Wissensformen (System-, Ziel- und Transformationswissen) eingeführt, die in solchen Forschungsformaten gewonnen werden können. Der zweite Teil des Beitrags konturiert die Spezifika des transdisziplinären Experimentierraums im Bereich der Mobilitätsforschung. Im Unterschied zu anderen wissenschaftlichen Forschungsdesigns der sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung erfordert die Umsetzung von Experimentierräumen eine intensivere Berücksichtigung der rechtlichen Spielräume. Auch die Voraussetzungen für verkehrliche Interventionen sowie Handlungsspielräume und Hemmnisse müssen auf der Ebene von Kommunalpolitik und -verwaltung beachtet werden, da Kommunen die konkreten Orte sind, an denen die Experimentierräume und ihre Realexperimente umgesetzt werden. Ein besseres Verständnis dieser Zusammenhänge ermöglicht es, Aspekte und Anforderungen für eine gewinnbringende Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxisakteuren zu bestimmen, die im dritten Abschnitt des Beitrags diskutiert werden. Zugleich werden so die unterschiedlichen Rollen und auch Grenzüberschreitungen klassischer wissenschaftlicher Tätigkeiten sichtbar, die Forschende in diesen Settings einnehmen können und sollten. Schließlich werden auch die Chancen behandelt, die diese transdisziplinären Forschungskonstellationen eröffnen, um verschiedene Ausrichtungen des Wissenstransfers gewinnbringend nutzbar zu machen.

2 Reallabore im Kontext transdisziplinärer Forschung

In der Transformations- und Nachhaltigkeitsforschung, also auch in der sozial-ökologisch orientierten Mobilitätsforschung, erfreut sich der Begriff des Reallabors seit einigen Jahren enormer Popularität. Als Oberbegriff steht er für vielfältige Forschungsvorhaben mit transdisziplinärer und transformativer Ausrichtung, die beanspruchen, wissenschaftliche Forschung mit aktiven, interventionistischen Beiträgen zum gesellschaftlichen Wandel zu verbinden (Beecroft et al. 2018; Schäpke et al. 2018; Engels et al. 2019; Mevissen 2019). Es handelt sich hier somit um ein Forschungsformat an der Schnittstelle zwischen Transformations- und transformativer Forschung.

Transdisziplinäre Forschungsformate zielen allgemein darauf ab, ein strukturelles Problem der rein wissenschaftlichen Erkenntnis- und Evidenzproduktion und der damit verbundenen Begrenzung disziplinärer wissenschaftlicher Wissensbestände zu überwinden. Um konkrete und lokale Transformationsherausforderungen zu bewältigen, genügen wissenschaftliches Wissen, Modelle und Konzepte allein nicht. Es braucht hier vielmehr eine Weiterentwicklung und Spezifizierung durch die Auseinandersetzung mit konkreten Praxiskontexten. Außerdem: die Anreicherung durch Praxis- und Erfahrungswissen, um den notwendigen Schritt vom Wissen zum Handeln zu bewältigen (Wagner und Grunwald 2015, S. 26). Um „sozial robustes Wissen“ (Nowotny 2003) und somit gesellschaftlich tragfähige Lösungen zu erarbeiten, gilt es deshalb, den Forschungsprozess unmittelbar in der Gesellschaft zu verankern und eine Integration von praktischem und wissenschaftlichem Wissen zu bewerkstelligen. Ein entscheidender Zugewinn transdisziplinärer Forschung besteht zudem darin, dass das erzeugte Wissen nicht allein durch Relevanzkriterien der wissenschaftlichen Peers validiert wird, sondern sich in konkreten Praxiskontexten im Sinne einer doppelten Validierung beweisen muss (Knie und Simon 2021). Dieser Modus der gemeinsamen Wissensproduktion wird im Anschluss an Sheila Jasanoff (2004) als Ko-Produktion von Wissen bezeichnet. Wesentliches Ziel der Ko-Produktion von Wissen im Kontext von Reallaboren ist hierbei, modellfähiges Gestaltungswissen für transformative Prozesse an konkreten Orten zu erarbeiten (Böschen et al. 2021). Zentrale Gruppen von Praxisakteuren sind hier Beteiligte aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft – aber auch aus NGOs. Welche Praxisakteure in welchem Mischungsverhältnis involviert werden, hängt von der lokalen Problem- und Zielstellung der transdisziplinären Projekte ab. Hinsichtlich der angestrebten Wissensproduktion lassen sich im Prozess transdisziplinären Forschens drei idealtypische Wissensarten unterscheiden: (1) Systemwissen über die aktuellen Strukturen und Prozesse und historischen Hintergründe (Ist-Zustand), (2) Ziel- bzw. Orientierungswissen als Bewertung des Ist-Zustandes, möglicher Zukunftsszenarien und Veränderungen und Leitbilder (Soll-Zustand) sowie (3) Transformationswissen über die möglichen Wege und Lösungskorridore für den Übergang (Transition) vom Ist- zum Soll-Zustand (Pohl und Hirsch Hadorn 2008). Verschiedene Forschungsformate sind unterschiedlich gut geeignet, bestimmte Wissensarten zu generieren. Während die klassischen passiven Erhebungsformate über Befragungen und Beobachtungen zum aktuellen Status quo vorrangig System- und (im begrenzten Maße) Zielwissen erheben können, sind gerade aktiv intervenierende experimentelle Formate – wie Realexperimente im Rahmen von Reallaboren – geeignet, um das entscheidende Transformationswissen zu generieren.

2.1 Kerncharakteristika von Reallaboren

Den Ausgangspunkt für das Forschungsformat des Reallabors bildete die wissenschaftliche Auseinandersetzung und konstruktive Wendung des – ursprünglich kritisch konnotierten – Begriffs des „Realexperiments“ von Groß 2005 als Bezeichnung für Interventionen in den gesellschaftlichen Kontext (Wanner et al. 2018). Mit der Zielstellung der Unterstützung realer Transformationsprozesse in konkreten Räumen wird im Reallaboransatz eine Übertragung des naturwissenschaftlich geprägten Labor-Begriffs in die transdisziplinäre und kollaborative Erforschung gesellschaftlicher und politischer Prozesse und Dynamiken angestrebt (Schäpke et al. 2017, 2018; Wanner und Stelzer 2019). Reallabore bringen verschiedene Wissensträger und -typen zusammen und verschmelzen, erproben und prüfen heterogene Wissensbestände anhand realer experimenteller Interventionen in lokalen Kontexten. In der wissenschaftlichen Community – allen voran durch Aktivitäten rund um das Wuppertal Institut – wird seit einigen Jahren versucht, die Konsolidierung der Kerncharakteristika des Reallabor-Ansatzes voranzutreiben (Beecroft und Parodi 2016; Schäpke et al. 2017, 2018; Wanner und Stelzer 2019). Dem aktuellen Diskussionsstand folgend, zeichnen sich Reallabore als Forschungsansatz dadurch aus, dass:

  1. 1.)

    sie einen Beitrag zur Transformation in gesellschaftlich relevanten Problemfeldern leisten (gerade im deutschsprachigen Raum), meist nachhaltigkeitsorientiert sindFootnote 1 und dazu beitragen, Transformationsprozesse zu verstehen und durch Reflexion und Evaluation Gründe für den Erfolg und Misserfolg von konkreten Lösungsoptionen aufzuzeigen,

  2. 2.)

    Realexperimente ihren methodischen Kern bilden, die genutzt werden, um in einem zeitlich und geografisch begrenzten Rahmen die Brücke vom Wissen zum Handeln zu schlagen und so Wissen und Evidenz über Lösungsstrategien zu generieren,

  3. 3.)

    sie im Modus transdisziplinärer Forschung arbeiten und so Strukturen schaffen für eine gemeinschaftliche Wissensproduktion von (interdisziplinären) Wissenschaftsteams und Beteiligten aus der Praxis, die weitere erfahrungsbasierte Wissensbestände oder lokales Kontextwissen in die Prozesse einbringen. Im transdisziplinären Forschungsprozess werden hier gängigerweise die drei Phasen des Co-Designs (gemeinsame Problemdefinition), der Co-Produktion (Vorbereitung und Umsetzung von Realexperimenten) und der Co-Evaluation (Auswertung und Wissensintegration der Ergebnisse) unterschieden,

  4. 4.)

    die Forschung als ständiger Lern- und Reflexionsprozess zu verstehen ist, sowohl mit Blick auf die eigene Forschungspraxis als auch in Bezug auf die erzeugte gesellschaftliche Wirkung.

Von einigen Forschenden wird ergänzend das Kriterium der Langfristigkeit betont. Reallabore sollen als Forschungsinfrastrukturen verstanden werden, die auf Langfristigkeit, Skalierbarkeit und Transfer angelegt sind, um so der Langwierigkeit gesellschaftlichen Wandels und sozialer Veränderungsprozesse zu entsprechen und übertragbare Lösungen erarbeiten zu können. Gerade auf Grund der üblichen fördermittelabhängigen Projektförmigkeit, in der Reallabore aktuell zumeist aufgesetzt werden, scheint dieses Kriterium jedoch in realitas bisher wenig wirkmächtig. Grundlegend kann der Versuch, solche Kerncharakteristika zu schaffen, als eine Reaktion auf die „Verwässerung“ des Reallaboransatzes verstanden werden (Wanner und Stelzer 2019, S. 6).

2.2 Reallabore und -experimente: Empirische Vielfalt und methodologische Unschärfen

In der nationalen und internationalen Forschungslandschaft haben sich vielfältige Formen des Reallaboransatzes etabliert, die nicht ohne Weiteres trennscharf voneinander abgegrenzt werden können. Sie machen verschiedene Formen des lokalen Experimentierens für die Wissensgenerierung nutzbar wie transition labs, living labs oder urban labs mit den korrespondierenden experimentellen Formaten wie transition oder street experiments (van Hoose et al. 2022; Wanner und Stelzer 2019). Reallabore sind nach Engels et al. (2019, S. 8 f.) dabei durch drei charakteristische Spannungsdimensionen gekennzeichnet. Diese betreffen die Dimension der Kontrolle (controlled experiments versus messy cocreation), der Pfadabhängigkeit (testing emergent technologies versus demonstrating viability) sowie das Verständnis der Situiertheit der Erkenntnisse (real-world setting versus scalable solutions). Der praktische Umgang mit diesen Spannungsdimensionen hängt stark mit der ko-produktiven Anlage von Reallaboren sowie dem Anspruch die Umsetzung von lokalen Interventionen zusammen. Diese Aushandlungen werden zugleich auch stark von den politischen und strukturellen Rahmenbedingungen der Felder, in denen die Reallabore situiert sind, sowie durch Machtverhältnisse innerhalb der einbezogenen Akteurskonstellation geprägt. Auch wenn ein idealtypisches Verständnis von Transdisziplinarität suggeriert, dass alle einbezogenen Akteure die gleichen Chancen hätten, den Prozess und die Ausrichtung von Reallaboren und den Realexperimenten zu prägen, ist dies tatsächlich nur selten der Fall. Die Intensität der Beteiligung von Praxisakteuren bei transdisziplinären Projekten kann dabei – sowohl mit Blick auf die unterschiedlichen Phasen eines Projektes als auch mit Blick auf die grundlegende Intensität – durchaus unterschiedlich ausfallen und zwischen einer punktuellen Beteiligung und einer gleichberechtigten Mitwirkung innerhalb des Kernprojektteams changieren (Stauffacher et al. 2012; Schäpke et al. 2018; Kläver und Götting 2023). Damit das Ziel der gemeinsamen und lösungsorientierten Ko-Produktion von Wissen erzielt werden kann, ist es jedoch entscheidend, dass Praxisakteure nicht nur den empirischen Untersuchungsgegenstand oder das Zielpublikum der Forschung bilden (Defila und Di Giulio 2019, S. 3), sondern ihr Praxiswissen und die Problemperspektiven tatsächlich im Arbeitsprozess integriert werden.

Die Begriffe des Reallabors und auch des Realexperiment spielen semantisch mit einer Nähe zu wissenschaftlich tradierten Begriffen des Labors und des Experiments. Aus wissenschaftlicher Perspektive gehen mit diesen Begriffen gewisse Anforderungen an das Forschungsdesign und die Zielstellung von Experimenten einher. Gemein ist allen wissenschaftlichen experimentellen Forschungsdesigns, dass sie gezielt Interventionen bzw. Variationen von Beobachtungssituationen vornehmen und versuchen, Veränderungen, die sich durch diese ergeben, mit wissenschaftlichen Methoden zu erfassen. Klassische experimentelle Formate bilden hier Labor- und Feldexperimente, die vorab abhängige und unabhängige Variablen definieren und auf das quantitative Hypothesentesten orientiert sind. Reallabore und -experimente verfolgen konzeptionell und methodologisch jedoch andere Zielstellungen (Arnold und Piontek 2018). Wegen des Mangels an Kontrolle der Randbedingungen der Realexperimente können kausalanalytische Verfahren hier nur sehr begrenzt eingesetzt werden. Realexperimente stehen somit qualitativen Formen des Experimentierens deutlich näher als den quantitativ orientierten. Sie betrachten soziale Situationen ganzheitlich und erheben aus diesem Grund auch nicht den Anspruch auf Replizierbarkeit von Forschungsergebnissen oder die Kontrolle der Randbedingungen. Das methodologische Problem besteht hier allerdings darin, dass das qualitative Experiment (Kleining 1986 in wenig genutztes sozialwissenschaftliches Forschungsdesign ist und experimentelle Formate deswegen vielfach an der quantitativen Experimentallogik und -methodologie bemessen werden. Doch die reduktionistische Perspektive auf soziale Beobachtungssituationen und das alleinige Messen der Wirkzusammenhänge vorab festgelegter Variablen ist auch nicht der primäre Zweck von Realexperimenten. Vielmehr steht die lösungs- und problemorientierte Aushandlung von heterogenen Wissensbeständen und die gemeinsame ko-kreative Wissensgenerierung im Zentrum. Durch ihre gezielten Interventionen schaffen sie neue Erfahrungsräume und provozieren die Irritationen eingeübter Routinen. Realexperimente sind primär explorative Erkundungsverfahren zur Lösung gesellschaftlicher Problemlagen. Die Planung und Umsetzung von Realexperimenten erfolgen hierbei in den Phasen des Co-Designs und der Co-Produktion durch die beteiligten transdisziplinären Akteure. Wissenschaftliches Wissen wird dabei zwar als wichtiger Bestandteil eingespeist, es ist aber nicht immer – wie in rein wissenschaftlichen Experimenten – das dominierende Moment, das die konkrete Ausformung von Realexperimenten prägt.

Hinsichtlich des Stellenwerts von Realexperimenten im Kontext von Reallaboren zeigt sich in der aktuellen Forschungslandschaft ein recht heterogenes Bild. Während Realexperimente von vielen Forschenden als zentrales Kerncharakteristikum des transdisziplinären Reallaborformats betrachtet werden (siehe oben), sehen es andere Wissenschaftler*innen als ein mögliches, aber nicht zwingendes Kriterium an (Defila und Di Giulio 2019). Dieses heterogene Verständnis zeigt sich auch allgemein in der aktuellen projektbezogenen Nutzung des Reallaborbegriffs. Als Reallabore werden aktuell sehr verschiedenartige Formen transdisziplinärer Forschungsprojekte bezeichnet, die gemeinsames Lernen und transdisziplinäre Wissensproduktion zum Ziel haben. Zum Teil scheint es so, dass jegliche Form der Beteiligung von Praxisakteuren und die Auseinandersetzung mit lokalen Kontexten und Herausforderungen als Reallabor gelabelt und der eigentliche Ansatz so „verwässert“ wird.Footnote 2 Vielfach handelt es sich um Projekte, in denen – wissenschaftlich unterstützt – durch Dialog- und Workshop-Formate Bürger*innen in Partizipationsformaten aktiviert werden, um sich mit Mobilitäts- und anderen Nachhaltigkeitsthemen auseinanderzusetzen und so gemeinsam System- bzw. Zielwissen zu generieren.Footnote 3 Diese kritische Markierung der Verwässerung soll die Notwendigkeit und den Beitrag zur Transformation, den solche Projekte leisten, in keiner Weise negieren. Für viele beteiligte Praxisakteure, gerade aus dem Bereich der kommunalen Politik und Verwaltung, ist auch dieser Modus der Zusammenarbeit mit heterogenen Akteursgruppen inklusive Wissenschaftler*innen neu und wird entsprechend auch als ‚experimentell‘ empfunden. Partizipation und die Auseinandersetzung mit Problemen und Potenzialen der Akzeptanzsteigerung bspw. für Mobilitätsalternativen sind zudem zentrale Bausteine und Baustellen der gesellschaftlich getragenen Transformation des Mobilitätssystems. Das Experiment als Kernmethode des Reallabors wird hier aber vielfach ersetzt durch eine eher grundlegende Erprobung von lokal passenden Formaten für eine transdisziplinäre Wissensproduktion im Rahmen von Förderprojekten. In dieser sehr weiten Auslegung sind Reallabore transdisziplinäre Lernorte.

3 Transdisziplinäre Experimentierräume in der Mobilitätsforschung

Der Begriff des transdisziplinären Experimentierraums ist der Versuch einer Rückbesinnung auf den experimentellen und interventionistischen Kern des Reallaboransatzes, der die Umsetzung konkreter Veränderungen an realen Orten durch transdisziplinäre Ko-Produktion hervorbringt und zugleich wissenschaftlich untersucht. Konzeptionell betrachtet, handelt es sich somit um eine bestimmte Form von Reallaboren. Der transdisziplinäre Experimentierraum in der Mobilitätsforschung fokussiert hier solche zeitlich und räumlich begrenzten Interventionen, die zur Auseinandersetzung mit möglichen Transformationspfaden anstoßen, indem sie neue Mobilitätsformen und veränderte Regeln für den öffentlichen Raum erproben (Canzler und Knie 2019) und nicht nur über diese diskutieren. Von besonderem Interesse ist dabei die konkrete und lokale Umsetzung von verkehrlichen Maßnahmen. Das gemeinsame Ausprobieren von Alternativen, ohne vorab konkret festlegen zu müssen, ob man genau diese auch beibehalten möchte, kann ein wichtiges Lösungspotenzial für vielschichtige festgefahrene Problemlagen bieten. Wie stark die Ausgestaltung von Reallaboren und -experimenten durch rechtliche und weitere strukturellen Rahmenbedingungen, aber auch durch die Ebene des Politischen geprägt ist und welchen Einfluss dies auf die Aushandlungen und Machtverhältnisse der beteiligten Akteure hat, wird gerade mit Blick auf Reallabore im Bereich der Mobilität sehr deutlich.

Denn die aktuellen verkehrlichen Zustände sind nicht einfach naturwüchsig gegeben. Sie sind Ergebnis aktiver politischer Entscheidungen der Verkehrs-, Siedlungs- und Wirtschaftspolitik der letzten Dekaden sowie der gesellschaftlichen Tradierung und damit korrespondierender Normalitätsannahmen und Handlungsmuster (Canzler et al. 2018). Es liegt in unserem menschlichen Naturell, dass unser Zugang zur Welt, zum Möglichen und Vorstellbaren stark durch unsere eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen geprägt wird. Klassiker der Soziologie, wie Peter Berger und Thomas Luckmann (2004), haben ihr wissenschaftliches Werk und Wirken der Frage verschrieben, wie Menschen als soziale Wesen in eine Gesellschaft hineinsozialisiert werden und wie erlebte Strukturen und Routinen unsere wahrgenommen und genutzten Handlungs- und Entscheidungsoptionen prägen. Dies gilt auch für den von Menschen wahrgenommenen „Möglichkeitsraum“ (Canzler und Knie 1998) im Bereich der Mobilität und die damit verbundenen alltäglichen Handlungsroutinen. Mit Berger und Luckmann (2004) gesprochen, haben wir es mit den Resultaten einer gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion zu tun, deren Institutionalisierungsprozesse für große Teile der Gesellschaft in einer Blackbox verschwunden sind (Knie 2023). Man weiß vielfach nicht um die Hintergründe, die zu den heutigen verkehrlichen Regularien und infrastrukturellen Ausformungen geführt haben und um die Wandelbarkeit eben dieser Realität. Vielmehr werden die eigenen Handlungsroutinen im institutionalisierten Korsett der aktuellen verkehrlichen Zustände entwickelt und eingeübt. Die (rechtlich und finanziell) strukturelle Privilegierung des motorisierten Individualverkehrs wird befördert dabei bestimmte Arten des Mobilitätshandelns, während ökologisch-nachhaltige Mobilitätsoptionen – und die Entwicklung daran ausgerichteter Handlungspraktiken – keine gleichartige rechtliche und infrastrukturelle Unterstützung erfahren. Diese Ungleichheit zeigt sich beispielsweise in den grundlegenden Perspektiven und Zielen der maßgeblichen Gesetze und Verordnungen des Verkehrsrechts wie dem Straßenverkehrsgesetz (StVG) und der Straßenverkehrsordnung (StVO) oder dem Personenbeförderungsgesetz (PBefG).

Realexperimente verändern die Lebenswirklichkeit der lokal betroffenen Menschen vielfach deutlich. Die Einführung neuer Mobilitätsalternativen wie On-Demand-Angebote, die Neuaufteilung von Straßenraum durch Pop-up-Radwege, temporäre Fußgängerzonen oder Shared Space, die saisonale Umgestaltung von Straßenflächen durch Sommerstraßen oder die Umnutzung von bisherigen Parkflächen für Bepflanzung oder Parklets bieten Anstöße für eine (gemeinsame) Auseinandersetzung mit Normalitätsannahmen und Routinen. Sie machen eine andere Aufteilung des öffentlichen Raums direkt erfahrbar. Dass hierbei unterschiedliche Perspektiven und Interessen aufeinanderprallen und ausgehandelt werden müssen, liegt bei solchen provozierten Routinebrüchen in der Natur der Sache. Realexperimente als explorative Formate der Wissensgenerierung und ihre intensive wissenschaftliche Begleitung erlauben zudem Einblicke in Prozesse einer De-Institutionalisierung und De-Legitimierung des autozentrierten Mobilitätssystems. Gerade die Untersuchung der Konfliktlinien und der Aushandlungszwang zwischen den unterschiedlichen Akteursgruppen sind hier der Motor der Ko-Produktion von Ziel- und Transformationswissen. Durch solche realen Umsetzungen werden bestimmte Probleme und Herausforderungen aber auch das zu ihrer Bearbeitung notwendige Transformationswissen lokalisier- und bearbeitbar. Orientiert an Geels’ (2002) Mehrebenen-Modell von Transformationen (MLP), das zwischen den drei Ebenen Landschaft, sozio-technisches Regime und Nische unterschiedet, können Experimentierräume so als Nischeninnovationen konzeptualisiert werden. Diese können dazu beitragen, De-Institutionalisierungsprozesse und -potenziale des sozio-technischen Regimes der Automobilität zu identifizieren, alternative Arrangements zu testen und ihre Wirkungspotenziale für die nachhaltige Mobilitätswende zu untersuchen (Van Hoose et al. 2022). Nach dem MLP-Konzept können Veränderungsprozesse sowohl durch Änderungen auf der übergeordneten Landschaftsebene der kulturellen Werte und Normen als auch durch Nischenaktivitäten entstehen, die De-Institutionalisierungs und De-Legitimierungsprozesse mit Blick auf die sozio-technischen Regime und ihre Strukturen produzieren. Die Zusammenhänge zwischen der Landschafts-, Regime- und Nischenebene sind dabei als dialektisch und durchaus dynamisch zu betrachten. Bezogen auf die Experimentierräume bedeutet dies konkret, dass durch die vermeintlich „kleinen“ Nischenaktivitäten in Experimentierräumen durchaus Anstöße für die Veränderung rechtlicher Handlungsspielräume und Regularien hervorgehen können, die sowohl auf der Regime- als auch auf der Landschaftsebene folgenreich sein können (vgl. Beiträge von Knie und Canzler in diesem Band).

3.1 Kommunen als Schlüsselakteure von Experimentierräumen

Um die Klimaziele zu erreichen, ist – wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im April 2021 zum Klimagesetz deutlich aufzeigte – die Transformation des autozentrierten Verkehrssystems notwendig. Neben Gesundheitsschädigungen durch Luft- und Lärmbelastungen werden die Folgen des verkehrlichen Flächenfraßes und der Versiegelung durch Überschwemmungen und Hitzestress in städtischen Wärmearchipelen offensichtlich. Gerade in Städten und Ballungszentren gewinnen Diskussionen um eine gerechte Verteilung des städtischen Raums zudem an Bedeutung. Schon 2011 rief der Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WGBU 2011) dazu auf, dass Kommunen bei der Umsetzung von Experimenten mit Signalwirkung mutiger sein und zu Orten des Wandels und der Transformation werden sollten.

Die multiple Akteurskonstellation von Verwaltung, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, die in einem Experimentierraum aufeinandertrifft, agiert in einem rechtlich stark regulierten Bereich. Die rechtliche Verantwortung und Haftung für die Umsetzung verkehrlicher Maßnahmen im öffentlichen Straßenraum liegen in der Hand der jeweiligen kommunalen Politik- und Verwaltungseinheiten. Sie sind aus diesem Grund Kernakteure für Experimentierräume im Mobilitätsbereich. Im Fall von Klagen, Unfällen oder Regressansprüchen sind sie es auch, die rechtlich belangt werden und Rechenschaft über die rechtliche Legitimität der Versuche ablegen müssen. In der gesellschaftspolitisch zum Teil stark konfliktären Diskussion um den Abbau von Privilegien für den motorisierten Individualverkehr sind es diese Akteure, die den Kopf hinhalten, falls Experimente starke, nicht intendierte Effekte auslösen oder aufgrund von Klagen nach Phasen des Co-Designs nicht umgesetzt werden oder abgewandelt werden müssen. Um das Potenzial von Experimentierräumen im Mobilitätsbereich konstruktiv zu diskutieren, ist es daher notwendig, die Handlungsspielräume und rechtlichen Rahmenbedingungen zu verstehen, anhand derer sich kommunale Politik- und Verwaltungsakteure für solch ein Vorgehen entscheiden. Zugleich wird so auch deutlich, welche konstruktive Rolle Wissenschaftler*innen in einem solchen Setting einnehmen können, um hier einen produktiven Beitrag zu leisten.

3.2 Rechtliche Handlungsspielräume für temporäre Maßnahmenerprobungen

Betrachtet man die rechtliche Lage, die das Erproben neuer nachhaltiger Verkehrslösungen ermöglichen soll, scheint es auf den ersten Blick, als seien die Spielräume hinlänglich groß. Sowohl in der Straßenverkehrsordnung (StVO) als auch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) finden sich Experimentier- bzw. Erprobungsklauseln, die Verkehrsversuche ermöglichen (sollen). Experimentierräume, die diese Optionen für sich nutzbar machen, firmieren häufig unter dem Begriff des „regulatorischen Experimentierraums“ (BMWI 2019). Ausnahmegenehmigungen oder Sondernutzungserlaubnisse bilden oft die rechtliche Grundlage für Realexperimente im öffentlichen Raum. Sie haben gemeinsam, dass sie gezielt temporär und räumlich begrenzt rechtliche Regelungen außer Kraft setzen und die so entstehenden Spielräume für die Erprobung von alternativen Raumnutzungen, Mobilitätspraktiken und verkehrlichen Maßnahmen nutzen. Die Erkenntnisse der experimentellen Variationen zielen darauf ab, empirisches Material für ein regulatorisches Lernen des Gesetzgebers zu bilden, da sie Hemmnisse und Irritationspunkte des regulatorischen Rahmens aufzeigen und so sowohl den nötigen Änderungsbedarf (Zielwissen) als auch potenzielle Konsequenzen (Transformationswissen) möglicher Änderungen hin zu einer klimafreundlichen, sozial gerechten post-automobilen Gesellschaft evidenzbasiert illustrieren.

Auf den zweiten Blick sieht die Lage jedoch anders aus. Zwar gibt es rechtliche Spielräume und ordnungsrechtliche Möglichkeiten, um nachhaltige Mobilitätsalternativen zu stärken und umzusetzen. Zudem sind Kommunen auf Basis der Nachhaltigkeitsziele unter Druck, ihren Teil zu den CO2-Reduktionszielen beizutragen. Tatsächlich sind viele Kommunen jedoch gehemmt, vorhandene rechtliche Spielräume zu nutzen und auf diese Weise mögliche Änderungen des Status quo wie eine Neuaufteilung des öffentlichen Raums, Tempo 30, eine neue Stellplatzordnung oder eine Parkraumbewirtschaftung voranzutreiben. Eine große Herausforderung bei der Nutzung der aktuellen Experimentierklauseln besteht darin, dass der Rahmen, den diese für das Experimentieren bieten, sehr begrenzt ist, ihre Nutzung zugleich jedoch höchst anforderungsreich und mit Unsicherheiten verbunden. Aktuell bildet die Experimentierklausel im § 45 der StVO die zentrale Grundlage für temporäre Erprobungen verkehrlicher Maßnahmen im Straßenraum. Straßenverkehrsrechtliche Anordnungen, die diese Option nutzten, sind rechtlich jedoch nur zulässig, wenn sie zur Gefahrenabwehr dienen und die dafür eingesetzten Maßnahmen eine Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mittel aufweisen. Mit Blick auf die Gefahrenlage muss nachgewiesen werden, dass eine konkrete Gefahr für die Sicherheit (von Verkehrsteilnehmer*innen oder ihrem Eigentum) oder die Ordnung (i. S. der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs) vorliegt. Um die Experimentierklausel zu ziehen, gilt es, diese konkrete Gefahr für den Ort der umzusetzenden Maßnahme zu begründen und nachzuweisen, dass es mit hinreichend großer Wahrscheinlichkeit in einem überschaubaren Zeitraum zu Schadensfällen kommen könne.Footnote 4 Das zweite Kriterium, das bei einer rechtlichen Prüfung herangezogen wird, bildet die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Es ist zu belegen, dass die Maßnahmen so effizient und in ihrer Eingriffstiefe so gering wie möglich ausfallen und auf eine Verbesserung der Schutzziele der Sicherheit und Ordnung (konkreter: auf die Flüssigkeit und Leichtigkeit) des Verkehrs abstellen. Sollte sich die angestrebte Gefahrenabwehr mit weniger starken Eingriffen in die gewohnheitsmäßigen „Freiheitsrechte“ von Verkehrsteilnehmer*innen und Anwohner*innen umsetzen lassen, so sind diese zu wählen. Gerade der Aspekt der Verhältnismäßigkeit und die geforderte Abwägung der eingesetzten Mittel birgt für die Kommunen rechtlich vielfältige Unsicherheiten. Die Sorge vor Klagen von Anwohnenden, Gewerbetreibenden oder anderen Kritiker*innen, die sich in ihren (gewohnheitsmäßigen) Freiheitsrechten durch die Maßnahmen zu stark eingeschränkt fühlen, ist groß. Rechtliche Unsicherheit führt dazu, dass viele Kommunen von einem ambitionierten Einsatz der Möglichkeiten der Experimentierklausel-Nutzung absehen. Der Gestaltungsspielraum, der sich durch die StVO-Experimentierklausel für Realexperimente im Bereich nachhaltiger Mobilität ergibt, ist somit nicht nur thematisch stark begrenzt, ihre rechtssichere Anwendung ist mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit oft auch nicht gegeben.

In der praktischen Konsequenz bedeutet die Fokussierung auf die Gefahrenabwehr und die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Maßnahmen, dass vielfältige Ziele nachhaltiger Mobilität und Stadtentwicklung – wie die Attraktivitätssteigerung von ÖV- oder Sharing-Angeboten, Begrünungs- und Entsiegelungs- oder Klimaanpassungsmaßnahmen, eine Neuaufteilung von öffentlichen Räumen zugunsten des Fuß- und Radverkehrs oder Verkehrsberuhigungen durch Superblocks – mit der Nutzung von Experimentierklauseln weder konkret adressiert noch rechtssicher erprobt werden können. Wenn überhaupt, können sie nur „unter dem Radar“ als Nebenziele der Erprobung verfolgt werden, aber nicht die Begründung für eine temporäre Maßnahmenerprobung bilden. Mit der geplanten Novelle der Straßenverkehrsgesetzes im Sommer 2023 war die Hoffnung verbunden, dass neben der Leichtigkeit des Verkehrs auch andere klima- und nachhaltigkeitsorientierte Ziele der „städtebaulichen Entwicklung“ eine legitime Grundlage für eine lokale Verkehrspolitik und die gemeinsame Lösungserprobung bilden können und sich so die Handlungsspielräume von Kommunen vergrößern. Die ausgebliebene Zustimmung des Bundesrates und Uneinigkeit der Länder haben diesen Prozess jedoch ausgebremst.

Neben Experimentierklauseln gibt es weitere rechtliche Spielräume, die den Rahmen für eine Erprobung verkehrlicher Maßnahmen in Experimentierräumen erlauben. Ausnahmen oder Sondernutzungsgenehmigungen können in begrenztem Rahmen auch durch die kommunalen Verwaltungsbehörden selbst erlassen werden. Die Beantragung einer Sondernutzungsgenehmigung, um beispielsweise im Rahmen der europäischen Mobilitätswoche Parkplätze kurzfristig in Parklets oder Straßenabschnitte in Fußgängerzonen umzuwandeln, ist weit weniger „riskant“ und ressourcenaufwendig als die Nutzung von Experimentierklauseln für eine ausgedehntere Erprobung. Erfolgreiche und gut dokumentierte Beispiele nachhaltiger verkehrlicher MaßnahmenFootnote 5 schaffen zugleich wichtige Erkenntnisse und motivieren auch andere Kommunen zum Experimentieren. Eine differenzierte Aufbereitung oder ein Leitfaden für die Nutzung rechtlicher Handlungsspielräume von Kommunen zum Zwecke der Erprobung nachhaltiger verkehrlicher Maßnahmen gibt es bislang kaum. Aus den oben aufgezeigten Gründen der jeweils notwendigen Betrachtung der konkreten und lokalen Vorzeichen, unter denen Maßnahmen genehmigungsfähig sind, wird auch deutlich, warum das so ist.

3.3 Kommunale Handlungsspielräume und politischer Wille zur Transformation

Neben den rechtlichen Handlungsspielräumen gibt es auch weitere Aspekte, die die „Experimentierfreude“ von Kommunen als zentralen Partner in Experimentierräumen entscheidend beeinflussen. Wichtige Erkenntnisse bezüglich der strukturellen Hemmnisse lassen sich hierbei durch eine direkte Zusammenarbeit und praktische Auseinandersetzung mit den kommunalen Akteuren gewinnen. Jüngere Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung zeigen, dass neben ausreichend großen rechtlichen Handlungsspielräumen weitere zentrale Voraussetzungen für erfolgreiche Transformationsaktivitäten in Kommunen vorliegen müssen (Horn 2022; Oltmanns et al. 2022; Klein-Hitpaß und Ruhrort 2023). Für den Kontext des Experimentierens wird nachfolgend auf zentrale Herausforderungen eingegangen: das ausreichende Maß an politischer Unterstützung und kommunalen Handlungsspielräumen sowie die oft knappe Ressourcenlage.

Politisches Backing und kommunale Handlungsspielräume

Ein ausreichend großes politisches Backing, also der Wille zur Transformation, Rückhalt und eine Unterstützung der zuständigen politischen Entscheider*innen für die Erprobung und Umsetzung von nachhaltigen Mobilitätswendemaßnahmen sind zwingend notwendig. Ambitionierte Verwaltungsakteure sind zwar Schlüsselfiguren, sie haben jedoch keine ausreichende (rechtliche) Legitimation, verkehrliche Maßnahmen gegen den Willen und die Weisungsbefugnis der politischen Instanzen umzusetzen. Dieser Aspekt wird umso komplexer, da Kommunen nur über solche Maßnahmen entscheiden können, die auch in ihrer Zuständigkeit liegen. In vielen Fällen müssen kommunale Akteure bei der Umsetzung verkehrlicher Maßnahmen somit nicht nur ihre lokalen politischen Verantwortlichen auf ihrer Seite wissen, sondern darüber hinaus auch entsprechende Entscheider*innen in Landkreisen und Landes- oder Bundesbehörden.

Ressourcen der Verwaltung

Zweitens sind die personellen Ressourcen in den kommunalen Verwaltungen sowie die vorhandenen Kompetenzen im Bereich nachhaltiger Mobilität in vielen Kommunen stark begrenzt. Dies gilt insbesondere für kleinere Kommunen und solche, die erst Erfahrung mit der Umsetzung nachhaltiger Mobilitätsmaßnahmen sammeln müssen. Da die Umsetzung verkehrlicher Maßnahmen vielfach auch andere Ressorts der Verwaltung betrifft (wie Klima- und Umweltschutz und Wirtschaftsförderung), erfordern ambitionierte Projekte, dass auch weitere Verwaltungsakteure für die konstruktive Mitarbeit motiviert werden. Die transdisziplinäre Zusammenarbeit in Experimentierräumen ist für kommunale Verwaltungen ein ressourcenintensives Unterfangen. Projektstellen, die häufig mit Reallaboren einhergehen, bieten hier zwar oft die Chance, befristet weiteres qualifiziertes Personal einzustellen. Doch gerade im Bereich der Stadt- und Regionalplanung fehlt es derzeit oft an geeigneten Bewerber*innen, um den weiteren Kompetenz- und Kapazitätsausbau in den Kommunen voran zu bringen. Ein Grund ist, dass Stellen in der Verwaltung aktuell für Mitarbeitende mit Hochschulabschluss vielfach finanziell nicht attraktiv sind. Da Maßnahmenumsetzungen auch finanzielle Ressourcen benötigen, geht es bei finanzschwachen Kommunen auch um die Abwägungen und Priorisierung unterschiedlicher Verwaltungsaufgaben. Die Notwendigkeit und Relevanz einer Maßnahmenerprobung müssen somit auch innerhalb der Verwaltung und insbesondere bei den zu beteiligenden Instanzen auf ausreichend hohe Akzeptanz stoßen.Footnote 6

4 Potenziale des bi- und multidirektionalen Wissenstransfers von Experimentierräumen

Wie eingangs skizziert, besitzen transdisziplinäre Experimentierräume für die sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung ein hohes Potenzial für die Generierung von Ziel- und Transformationswissen. Die Chancen des Wissenstransfers, die sich in transdisziplinären Experimentierräumen eröffnen, verlaufen dabei gerade nicht einseitig von der Wissenschaft in die Praxis, sondern sind bi- bzw. multidirektional.Footnote 7 Das gemeinsame Lernen und Generieren von problem- und lösungsorientiertem Wissen bildet den Kern solcher Projekte. Für Wissenschaftler*innen bieten Experimentierräume einen entscheidenden Zugang zu einer Fülle von empirischem Untersuchungsmaterial für vielfältige Forschungsthemen und für die Prüfung und Weiterentwicklung wissenschaftlicher Konzepte im Sinne ihrer doppelten Validierung. Eine produktive Zusammenarbeit mit Forschenden im Experimentierraum muss sich jedoch auch aus kommunaler Perspektive und mit Blick auf die knappe Ressourcenlage „lohnen“. Langjährige Versuche in Experimentierräumen und Reallaboren, die vorrangig dem Forschungsinteresse von Wissenschaftler*innen dienen, sind für die unter Handlungsdruck stehenden kommunalen Akteure wenig attraktiv. Experimentierräume bieten aber ein großes Potenzial, eine win-win Situation für die Wissenschaft und die Praxisakteure – und hier auch gerade die kommunalen Verwaltungen – zu schaffen.

Ein möglicher Themenbereich für eine gemeinsame Wissensgenerierung, der sich an den Herausforderungen kommunaler Verwaltungsakteure orientiert, ist der rechtliche Rahmen. Dieses für die Umsetzung von Experimentierräumen essenzielle Themenfeld ermöglicht es Sozialwissenschaftler*innen, ein vertieftes Wissen über Handlungsspielräume und -begrenzungen zu generieren und so auch die Potenziale zu thematisieren, die sich durch eine Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen ergeben (könnten). Für Sozialwissenschaftler*innen besteht die Aufgabe hier nicht darin, neue Gesetzestexte zu verfassen, sondern empirisch fundierte Erkenntnisse zu liefern. Innerhalb von Experimentierräumen können Forschende außerdem aktiv dazu beitragen, die Inhalte aufzubereiten und so die transdisziplinären Dialogformate und konfliktären Diskussionen kommunikativ zu unterstützen. Zudem können sie aufzuzeigen, welcher Bedarf an Veränderungen der aktuellen Gesetzeslage daraus abgeleitet werden kann und wie sich dieser (politisch und öffentlich) vermitteln lässt, um den Wandel zu einem ökologisch-nachhaltigen Mobilitätssystem zu befördern.

Unter dem Vorzeichen der knappen Ressourcenlage kann die Dokumentation der Prozesse der transdisziplinären Zusammenarbeit und die Generierung geeigneter Daten zu Evaluationszwecken von kommunaler Seite meist nur soweit verfolgt werden, wie dies zur angestrebten Maßnahmenumsetzung rechtlich notwendig ist. Eine Beteiligung bei der Erhebung, Aufbereitung und Auswertung von Daten durch wissenschaftliche Partner nützt dabei nicht nur den Praxisakteuren des Experimentierraums, sondern verbessert zugleich die Datenbasis der wissenschaftlichen Community. Mit wissenschaftlicher Unterstützung können die Dokumentation der Ergebnisse gesichert und zugleich aussagekräftige Evaluationsergebnisse erarbeitet werden. Ohne diese Unterstützung bleibt dies vielfach ressourcenbedingt aus, sodass hier große Forschungslücken vorliegen (Kuss und Nicholas 2022) und die Beurteilung von Skalierungs- und Transfermöglichkeiten von Ergebnissen von Experimentierräumen erschwert wird. Der wissenschaftliche Mehrwert liegt mit Blick auf die angestrebte Generierung von Ziel- und Transformationswissen auf der Hand. Innerhalb der jeweiligen Experimentierräume kann durch eine prozessbegleitende Dokumentation der Entscheidungen und ihrer Grundlagen, der Prozesse und Konfliktlinien und der vielfältigen Wirkungen der Interventionen die Transparenz stark befördert werden. Auch über die konkreten Experimentierräume hinaus ist die Nachfrage nach dokumentierten Praxisbeispielen und konkreten Formen und Formaten für die Beteiligung von Bürger*innen und weiteren Stakeholdern sehr hoch. Auf politischer Ebene schaffen gut dokumentierte Experimentierräume empirisches Material für eine Politikberatung, die die Hemmnisse des aktuellen Rechtsrahmens auf Basis wissenschaftlicher Analysen belegt, Transformationspotenziale durch das Ausprobieren von alternativen (regulatorischen) Rahmungen erprobt und darauf aufbauende Handlungsempfehlungen für Anpassungen und Veränderungen des regulatorischen Rahmens bietet. Nimmt man diesen Anspruch des regulatorischen Lernens durch Experimentierräume ernst, so wird sehr deutlich, welches Potenzial von Experimentierräumen für die De-Institutionalisierung und De-Legitimierung des aktuell dominanten sozio-technischen Regimes der Automobilität besitzen könnte.

Neben der prozessbegleitenden Datengenerierung können Wissenschaftler*innen durch ihre zielgruppenspezifische Aufbereitung von Erkenntnissen zur Verbreitung von Transformationswissen beitragen. Kommunikative Kompetenzen der Wissensvermittlung ebenso wie der Transfer von Erkenntnissen aus nationalen und internationalen Beispielfällen von erfolgreichen nachhaltigkeitsorientierten Verkehrsversuchen und -maßnahmen helfen sehr im Umgang mit und den Abbau von Einwänden gegen Verkehrswendemaßnahmen. Diese können die diskursiven Prozesse innerhalb der multiplen Akteurskonstellation und somit auch die Akzeptanzsteigerung für nachhaltige Mobilitätsmaßnahmen stark befördern.

Wie diese Zusammenschau von möglichen Funktionen und Aktionsfeldern von Forschenden in Experimentierräumen aufzeigt, überschreiten Wissenschaftler*innen hierbei vielfach ihre klassische Rolle als distanzierte Beobachter und Datenproduzenten. Die Rollenprofile von Wissenschaftler*innen werden durch ihr aktives Bekenntnis zur transformativen Forschung pluraler. Auch wenn ein zentraler Beitrag weiterhin in der klassisch wissenschaftlichen und methodisch geleiteten Datengenerierung und -analyse liegt, agieren sie darüber hinaus vielfach als Wissenstransferagenten und „facilitator“ (Hilger et al. 2018) oder „knowledge broker“ (Wittmayer und Schäpke 2014) und stimulieren die Prozesse durch vielfältige interdisziplinäre Wissensbestände und -hintergründe. Aus wissenschaftlicher Sicht sind solche Aktivitäten ebenfalls erkenntnisreich, um Transformationswissen darüber zu gewinnen, in welchen lokalen Aushandlungssituationen bestimmte Begründungen und Narrative anschlussfähig und wirkmächtig sind, um Dialogprozesse lösungsorientiert voranzutreiben. Mit dem gezielten Einspeisen von Wissensbeständen und der Ausrichtung von Forschungsaktivitäten auf bestimmte Zielgruppen und Forschungsthemen besitzen Forschende eine potenzialreiche und machtvolle Position, um die Lernprozesse und Wissensgenerierung in Experimentierräumen zu prägen. In der Rolle von „reflective scientists“ (Hilger et al. 2018), reflektieren sie gezielt ihre eigene Rolle und Positionalität (Marguin et al. 2021) im Forschungsprozess sowie die internen und externen Machstrukturen in diesen transdisziplinären Konstellationen. Auch als „change agents“ (ebd.), die aktiv Intervention hervorbringen und anstoßen, können Forschende in Experimentierräumen wirken. Dabei nutzen sie ihre Netzwerke und bauen weitere auf, auch und gerade, um weitere Akteure als Change Agents zu empowern und sie so darin zu unterstützen, selbst nachhaltigkeitsorientierte Veränderungen und Interventionen zu initiieren und umzusetzen.

5 Fazit

Für den Wissenstransfer und die ko-produktive Wissensgenerierung der verschiedenen transformationsrelevanten Akteursgruppen bieten Experimentierräume ein besonderes Potenzial. In Experimentierräumen kann der gesellschaftliche Wandel und der Umgang mit Transformationsherausforderungen nicht nur beobachtet und wissenschaftlich vermessen werden. In ihnen können sozio-technische Innovationen erprobt und die Generierung von Mobilitätslösungen stimuliert werden. Durch die Integration von Praxisakteuren und -wissen erweitern transdisziplinäre Experimentierräume die Wertschöpfungskette von wissenschaftlichem Wissen und ermöglichen eine – über die klassischen Peers hinausgehende – doppelte Validierung von Erkenntnissen. Transformative Forschungsformate und ihre transdisziplinäre Ausrichtung ermöglichen entscheidende Erkenntnisgewinne für die wissenschaftlichen Disziplinen und das Wissenschaftssystem. So gelingt es, Transformationswissen darüber zu generieren, wie Kommunen als Schlüsselakteure der Mobilitätswende fungieren (müssen), welche rechtlichen Spielräume Kommunen aktuell für sich nutzbar machen können und welche Rolle Forschende in solchen transdisziplinären Konstellationen einnehmen sollten, um im Rahmen von Experimentierräumen nachhaltige Mobilitätsmaßnahmen im öffentlichen Straßenraum zu erproben. Eine erfolgreiche Mobilitätswende braucht sozial robuste Konzepte für die zukünftigen Transformationswege. Durch realexperimentelle Interventionen und die Umsetzung nachhaltiger Mobilitätsmaßnahmen regen Experimentierräume zu Routinebrüchen bei tradierten Gewohnheiten und zur Diskussion über alltägliche Gewissheiten der uns umgebenden Welt an. Sie greifen aktiv in die Lebenswelt der Betroffenen ein und schaffen reale Erfahrungs- und Erlebnisräume für nachhaltige Mobilitätmaßnahmen. So tragen sie dazu bei, die vorstellbaren und erlebbaren Möglichkeitsräume vielfältiger Akteure produktiv zu erweitern. Zugleich provozieren sie bewusst das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Erwartungen und Interessen und erzwingen so eine Aushandlung über die gewünschte Zukunft und Transformationsziele. Experimentierräume sind deshalb zugleich oft Brenngläser für gesellschaftliche Konflikte und Transformationsherausforderungen und können helfen, diese zu identifizieren und Lösungswege zu erproben. In der Heuristik des MLPs (Geels 2002) handelt es sich um Nischenaktivitäten, die zentrale Erkenntnisse über die Strukturen des dominanten Automobil-Regimes und dessen De-Institutionalisierung und De-Legitimierungprozesse eröffnen. Sie sind damit entscheidende Werkzeuge zur Generierung von Transformationswissen.

Im Kosmos der Wissenschaft hat die Relevanz von Transferaktivitäten, transdisziplinärer Forschung und der Ko-Produktion von Wissen in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Diese fortscheitende Etablierung transdisziplinärer Forschung und der Ausbau entsprechender Förderkulissen führen zu einer Erweiterung der Spielfelder wissenschaftlicher Aktivitäten und Arbeitsprofile (Knie und Simon 2021). Neben der wissenschaftlichen Beobachtung wirken Wissenschaftler*innen durch Aktivitäten der Stimulation und direkten Intervention in die transdisziplinären Prozesse der Erprobung lokal-innovativer Mobilitätslösungen hinein. Wie eingangs thematisiert, überschreiten Forschende in Experimentierräumen ihre klassische Beobachtungsrolle. Zwar nehmen Forschende hier auch eine begleitende Rolle ein und generieren System- und Zielwissen durch wissenschaftliche Analyse, die Beobachtung und Dokumentation der Prozesse im Experimentierraum sowie die Evaluierung der Ergebnisse. Wenn wissenschaftliche Akteure beteiligt sind und sich auf ihre transformative Arbeit einlassen, werden sie zugleich in einer „stimulierenden“ bzw. „intervenierenden“ Rolle aktiv. Als transformative Forschungspartner*innen werden sie selbst Prozesse initiieren, z. B. indem sie bestehende Netzwerke – die in die Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft hineinreichen – nutzen oder im Vorfeld ziel- und themenabhängig neue Kontakte knüpfen. In ihrer stimulierenden Rolle werden sie die (Lern-)Prozesse und Interaktion im Raum aktiv unterstützen, Aktivitäten moderieren, Konfliktdimensionen identifizieren und zwischen unterschiedlichen Wissensbeständen und Perspektiven sowie (zwischen widerstreitenden) Interessen und Machtungleichgewichten vermitteln.

Der produktive Beitrag, den Forschende bei der lösungsorientierten Bearbeitung gesellschaftlicher Herausforderungen in transdisziplinären Forschungskontexten wie Experimentierräumen leisten, regt dabei auch zur kritischen Reflexion über den gesellschaftlichen Impact von Wissenschaft und ihrem Reputationssystem an. Denn unter dem steigenden Handlungsdruck von gesellschaftlichen Krisen, Transformationskonflikten, und -herausforderungen ändern sich auch die Anforderungen an das Wissenschaftssystem. Das Entstehen von Forschungsnetzwerken im Bereich der transdisziplinären und partizipativen Forschung sowie (nachhaltigkeitsorientierten) Reallaborforschung sind deutliche Anzeichen dafür, dass hier gerade neue Konstellationen und Peer Communitys entstehen, die die Etablierung und Konsolidierung dieses Wissenschafts- und Forschungsbereichs aktiv vorantreiben. Ein Motor dieser Initiativen liegt dabei in einem veränderten Verständnis des Beitrags und Aktivitätsgrades von Wissenschaft und Forschung bei der Bearbeitung und Lösungsfindung gesellschaftlicher Herausforderungen. Die Erweiterung der Rollenspektrums von Wissenschaftler*innen bindet allerdings zusätzliche Ressourcen und ist zeitintensiv. Die klassischen wissenschaftlichen Reputationssysteme bleiben bislang weiterhin primär auf hochrangige wissenschaftliche Publikationen ausgerichtet (Knie und Simon 2021). Gerade für junge Forschende und ihre Karrierewege ist diese ressourcenintensive Rollenüberschreitung vielfach herausfordernd. Wissenschaftler*innen, die sich für die transformativen Modi von Forschung entscheiden, sind sich in der Regel über die Reputationsklippen und Konfliktbereiche bewusst, die solche transdisziplinären Forschungssettings produzieren. Auch und gerade aufgrund einer reflektiert normativen Positionierung und Nachhaltigkeitsorientierung entscheiden sich Forschende oft jedoch, bewusst eben diese Konflikte auszutragen, da sie zugleich auch die privilegierten (neuen) Handlungsspielräume und -arenen als gewinnbringende Erweiterung ihrer eigenen Erkenntnis- und Aktionsräume verstehen.