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Das Thema Verkehr war lange Jahre ein Nischenthema in den Sozialwissenschaften. Infrastrukturen, Verkehrsmittel und Verkehrsregeln galten als Commodity, also als selbstverständliche Grundausstattung, die einfach „da war“ und die Grundlage gesellschaftlicher Entwicklung bildeten. Dabei war die Raumüberwindung als Voraussetzung sozialer Differenzierung spätestens seit Simmel eine soziologische Gewissheit, ohne dass aber die technische Beschaffenheit oder Dinglichkeit der dazu notwendigen Instrumente interessiert hätte. Räumliche und soziale Mobilität wurden als gegenseitige Bedingung und als Voraussetzung für Fortschritt nach dem Motto verstanden: nur wer sich bewegt, kommt voran. Gesellschaftlicher Aufstieg und ökonomischer Wohlstand gelten ohne Bewegung im Raum bis heute als undenkbar. Die großen politischen Programme der Nachkriegszeit hatten daher die Absenkung des Raumwiderstandes als zentrale Aufgabe. Die Entstehung der Europäischen Gemeinschaften nach dem Zweiten Weltkrieg diente vor allen Dingen einem Zweck: maximale Beweglichkeit für Menschen und Güter. Partei- und systemübergreifend galt die Ermöglichung räumlicher Beweglichkeit als Kernelement der Infrastrukturpolitik.

Wie diese Beweglichkeit operativ und technisch umgesetzt werden könnte, war in den Sozialwissenschaften eher nicht von Interesse. Diese Detailarbeit an den technischen Grundlagen der Vergesellschaftung überließ man gerne anderen Disziplinen wie den Geschichts- oder Ingenieurwissenschaften. Dabei hatte die Art und Weise, wie Bewegungen im Raum praktisch organisiert waren, enormen Einfluss auf die soziale Struktur der Gesellschaft. Ohne die Verkehrsinfrastruktur wäre die Dynamik der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht denkbar. Der raumgreifende und entfernungsintensive Lebens- und Arbeitsstil mit der Idee der Kleinfamilie im Mittelpunkt, der die westlichen Nationen bis heute maßgeblich prägt, konnte nur durch die Ermöglichung einer extensiven räumlichen Mobilität entstehen.

Im Zentrum der politischen Mobilitätsgarantien stand das Automobil, dessen Förderung auch deshalb so erfolgreich war, weil es nicht nur ein infrastrukturelles, sondern auch ein sozialpolitisches Programm war: Teilhabe am Leben durch verkehrliche Ermöglichung, soziale Integration durch Motorisierung und Zugang zu materiellem und kulturellem Kapital.

So dominant die Rolle des Autos für die Entwicklung der modernen Gesellschaft auch war und bis heute ist, so unreflektiert ist sie. Dass dem Auto besondere Privilegien eingeräumt und die Verkehrsinfrastruktur systematisch und flächendeckend so ausgerichtet wurden, dass dieses Verkehrsmittel seine Attraktivität ausspielen und seine Versprechungen einhalten konnte, wurde vielfach vergessen und ganz tief im kollektiven Gedächtnis vergraben. Dies wird aber spätestens jetzt zum Problem für die sozialwissenschaftliche Erklärkunst, weil das Paradigma der unbegrenzten Raumüberwindung an seine ökologischen und funktionalen Grenzen stößt. Kann eine moderne hocharbeitsteilige Gesellschaft auch mit weniger physischer Beweglichkeit auskommen oder wie kann eine gesellschaftspolitische Perspektive jenseits einer uneingeschränkten räumlichen Mobilität aussehen? Wenn wir uns aus Klimaschutzgründen weniger und vor allem anders bewegen und die Freiheiten des Autos begrenzen müssen, funktioniert dann noch das soziale Integrationsmodell in dieser Gesellschaft? Wieviel „Bewegungslosigkeit“ ist gesellschaftlich verkraftbar?

Die Corona-Pandemie mit ihren Lockdown-Phasen hat unter anderem nämlich auch gezeigt: eine in ihren Mobilitätsoptionen stark eingeschränkte Gesellschaft vergrößert die soziale Ungleichheit und verstärkt tradierte Rollenbilder. Dabei geht es nicht allein um ungleich verteilte materielle Möglichkeiten, sondern auch um die soziale Position und um Machtressourcen. Die Chancen, überhaupt im Homeoffice arbeiten zu können, sind abhängig von der Art der beruflichen Tätigkeit und der Güte der informationstechnischen Vernetzung, aber auch von den in Arbeits- und Tarifverträgen fixierten Rechten und vom spezifischem Knowhow, die digitalen Optionen souverän nutzen zu können.

Eine empirische Realität gilt weiterhin: Verkehrshandeln und Einkommensentwicklung sind eng miteinander verknüpft. Bisher galt eine Korrelation zwischen Wohlstandsniveau und räumlich-physikalischen Verkehr: wer sich mehr, länger und weiter bewegt, verdient mehr. Umgekehrt hieß das: wer mehr verdienen will, muss sich offenkundig auch im Raum mehr bewegen. Es ist eine empirisch offene Frage, ob sich mit höheren Anteilen digitaler Mobilität und einer zumindest partiellen Substitution physisch-räumlicher durch digitale Mobilität dieser Zusammenhang tatsächlich auflöst. Gibt es so etwas wie eine Entkopplung von individueller und kollektiver Prosperität und Verkehrsmenge?

Es ist Zeit für eine Bestandsaufnahme. Kann sich eine demokratische und offene Gesellschaft auch weniger Verkehr leisten, vor allen Dingen auch weniger Autos? Es geht dabei im Kern zunächst einmal nicht um ökologische Fragen, sondern viel grundlegender um die Ermöglichung des Sozialen, sozusagen um das Betriebssystem von Gesellschaft. Aktuelle empirische Beobachtungen zeigen, dass die Ermöglichungsfunktionen des Automobils gelitten haben und teilweise gar nicht mehr bestehen bzw. von digitalen Optionen zunehmend abgelöst werden. Zwar hat auch in städtischen Verdichtungsgebieten die Zahl der Fahrzeuge zugenommen, aber die damit gefahrenen Kilometer stagnieren oder werden weniger, die Einstellungen gegenüber den Autos insgesamt werden kritischer. Gleichzeitig haben es die im verkehrspolitischen Kontext immer ins Spiel gebrachten Busse und Bahnen, die gerne als Rückgrat einer Verkehrswende bezeichnet werden, schwer, in einer modernen, automobil dominierten Siedlungsstruktur noch hinreichend Akzeptanz zu finden. Die Folgen der Pandemie zeigen auch, dass der Wunsch nach orts- und zeitunabhängiger Arbeit größer geworden ist und allgemein die Flexibilität gesellschaftlicher Praktiken zugenommen hat. Der öffentliche Verkehr mit Linienführung, getakteten Fahrplänen und starren Tarifen kann diese Flexibilität nicht bieten.

Es könnte also sein, dass sich zumindest Teile der Gesellschaft von den angebotenen Verkehrsmitteln bereits emanzipiert haben. Das Verkehrskleid scheint insgesamt der modernen Gesellschaft nicht mehr recht zu passen. Digitale Optionen gewinnen an Gewicht, teilweise treten sie an die Stelle persönlicher Treffen und physischer Ortsveränderungen. Das könnte das empirische Material für eine soziologische Erklärung des möglichen Umbaus bzw. einer Anpassung der verkehrlichen Infrastruktur sein.

Dass Veränderungen dringend notwendig sind und die Organisation des Verkehrs auch gesellschafts- und klimapolitisch neu justiert werden muss, hat der Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom März 2021 als Kommentar zum Klimaschutzgesetz der Bundesregierung deutlich gemacht: die Folgekosten der Massenmotorisierung sind zu hoch und bedrohen die Freiheitsrechte der zukünftigen Generationen. Das oberste Gericht ermahnt die Bundesregierung, Kriterien einer nachhaltigen Verkehrspolitik verbindlich festzulegen und ambitionierte Reduktionsziele zu bestimmen, durchzusetzen und das Erreichen dieser Ziele auch überprüfbar zu machen. Die in der Konsequenz auf den Beschluss vorgenommenen Anpassungen zeigen jedoch die weiterhin geltende Macht des bisherigen Paradigmas: die Ziele sollen mit einer Erhöhung der Elektrifizierungsquote bei den Antrieben, mehr erneuerbaren Energien und einem massiv erhöhten Anteil im Öffentlichen Verkehr erreicht werden. Von einer „neuen Mobilität“ im Sinne von weniger Verkehr und verbunden mit einem darauf abzielenden Umbau des Verkehrssystems ist keine Rede. Die Bundesregierung scheint die oben beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklungen nicht berücksichtigen zu wollen.

Die Eckpunkte dieses Handbuches sind damit beschrieben: Ausgangspunkt ist, dass die Veränderung des Verkehrssystems aus Klimaschutzgründen notwendig ist und zugleich soziale Teilhabechancen sichern soll. Die Verkehrswende steht damit auf der politischen Agenda. Aber unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen wird diese Veränderung auch realistisch und akzeptiert? Und umgekehrt gefragt: Bewirken gesellschaftliche Wandlungsprozesse wie die Pluralisierung von Lebensstilen und die allgegenwärtige Digitalisierung von sich aus eine Transformation des Mobilitätssystems und wenn ja, wird dieser Wandel tatsächlich zu ökologischer Nachhaltigkeit führen?

Bei der Konzeption des Handbuchs standen zwei Ziele im Vordergrund: Erstens soll ein aktueller Überblick über die sozialwissenschaftliche Forschungslandschaft zum Thema Mobilität und Verkehr gegeben werden. Dabei soll deutlich werden, was die spezifische sozialwissenschaftliche Sicht auf das Thema ausmacht und wie sich diese von anderen disziplinären Zugängen wie der Verkehrsplanung oder der Verkehrsökonomie abgrenzt. In der gesellschaftlichen, aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion über Mobilität und Verkehr dominieren bisher immer noch ökonomisch-individualistische Perspektiven auf der einen und planerisch-technische Lösungsansätze auf der anderen Seite. Erst in jüngster Zeit gelingt es vermehrt, auch soziologische und politikwissenschaftliche Perspektiven prominent in die Debatte einzubringen. Das Handbuch will das Wissen der sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung bündeln und kompakt zugänglich machen.

Neben dieser Konsolidierungsfunktion besteht das zweite Ziel des Handbuchs darin, den Mehrwert sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse für eine Lösung gesellschaftlicher Krisenphänomene, insbesondere der Klimakrise, aufzuzeigen. Das Feld der sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung spannt sich zwischen verschiedenen disziplinären Perspektiven auf: Dazu gehören die Soziologie, die Politikwissenschaft und die Politische Ökonomie, die Human- bzw. Verkehrsgeografie, aber auch die Verkehrs- und Technikgeschichte bis hin zur Sozialpsychologie. Dieses Spektrum spiegelt sich im Handbuch wider. Auf theoretischer Ebene sind sowohl system- und handlungstheoretische Ansätze sowie relationale Theorieansätze vertreten. Die Beispiele reichen von sozialgeografischen Ansätzen des „Mobilities Turn“ und technik- und innovationssoziologischen Ansätzen über kultursoziologische und modernisierungstheoretische Herangehensweisen bis hin zu Perspektiven der Politischen Ökonomie. Dabei wird deutlich, wie sich die sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung über die rein disziplinär-akademische Forschung hinaus in gesellschaftliche Transformationsprozesse einbringt. Neben der Darstellung theoretischer Zugänge und bisheriger Erkenntnisse sind pointierte Thesen dazu formuliert, unter welchen Bedingungen moderne Gesellschaften ihre Mobilitätssysteme zukünftig gezielt ökologisch und sozial verträglich umbauen können oder was einem solcher Umbau möglicherweise – und auch im Grundsatz – im Wege steht. Explizit kritische Perspektiven zu den Optionen von Veränderungen unter den bestehenden Bedingungen erhalten hier einen breiten Raum. Sie könnten helfen, die Instrumente des Umbaus zu schärfen und sich nicht in normativen Verstrickungen zu verfangen.

Die sozialwissenschaftliche Leistungsbilanz wird sich auf die folgenden Themenfelder beziehen, die zugleich die Kapitelstruktur des Bandes ausmachen:

  • Mobilität als sozialwissenschaftliches Forschungsfeld

  • Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung

  • Mobilität und Alltag

  • Mobilität und Sozialstruktur

  • Mobilität und Technik

  • Mobilität und Politik

  • Mobilität und Wirtschaft

  • Transformationsperspektiven

Dabei werden Produktionsweise und Erscheinungsformat den digitalen Möglichkeiten angepasst. Die Texte erscheinen im Open Access-Format gleichsam in mehreren Lieferungen. Am Ende wird es zwar auch ein dickleibiges Buch geben, aber zwischenzeitlich können die online gestellten Texte kommentiert und von den Autor*innen verändert werden. Es handelt sich sozusagen um ein Handbuch, das ständig im Werden ist und damit (hoffentlich) lange aktuell bleibt.