Schlüsselwörter

1 Einführung

„Wer über Kapitalismus nicht reden will, sollte über Verkehr schweigen! Das heißt im Umkehrschluss: Wer die negativen Folgen der Verkehrsentwicklung verurteilt, muss sich mit dem Kapitalismus auseinandersetzen!“ (Schwedes 2017, S. 31). Dieser Aufruf des Verkehrswissenschaftlers Oliver Schwedes richtet sich primär an die sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung. Er insistiert darauf, dass die Verkehrsentwicklung in einem engen Artikulationsverhältnis mit der Entwicklung der kapitalistisch geformten sozialen Verhältnisse steht. Folglich stellt sich die Herausforderung für die Mobilitätsforschung, diese Zusammenhänge zu entschlüsseln. Dies ist jedoch keineswegs banal, zumal sich bisher kein eigenständiger Strang einer historisch-materialistischen Mobilitätsforschung herausgebildet hat. Gleichwohl gibt es durchaus Anknüpfungspunkte historisch-materialistischer Forschungsansätze, die sich mit dem Zusammenhang von sozialen und ökologischen Krisendynamiken beschäftigen (Wissen 2020), an die Mobilitätsforschung. Darüber hinaus gab und gibt es auch im deutschsprachigen Raum zahlreiche kleinere Forschungsprojekte, die sich aus historisch-materialistischer Perspektive mit Mobilität beschäftigt haben bzw. sich beschäftigen (siehe dazu etwa Plehwe 1997; Haas 2020).

Im Folgenden zweiten Abschnitt sollen einige Wesensmerkmale skizziert werden, die den inneren Zusammenhang von Kapitalismus und Verkehrsentwicklung ausmachen, um eine historisch-materialistische Perspektive auf Mobilität klarer zu konturieren. Im dritten Abschnitt sollen anknüpfend an Tobias Haas (2020) vier gesellschaftliche Dimensionen diskutiert werden (Ökonomie, Ideologie, integraler Staat und Alltagspraxen), zu denen historisch-materialistische Ansätze Beiträge zur Mobilitätsforschung leisten können. Abgeschlossen wird der Beitrag mit einigen Überlegungen, welcher weitere Forschungsbedarf zur Mobilitätspolitik aus einer historisch-materialistischen Perspektive besteht.

2 Kapitalismus, Wachstum, Verkehrswachstum und die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse

Dieser Abschnitt basiert auf Kapiteln 3 und 3.1 des Working-Papers „Verkehr und Postwachstum – die Suche nach Anknüpfungspunkten“ (Haas 2018).

Der Kapitalismus ist ein sehr dynamisches System, das auf mehreren Konkurrenzverhältnissen basiert: sowohl zwischen Kapital und Arbeit, aber auch der Unternehmen untereinander. Das System ist darauf ausgerichtet, dass der bestehende privat angeeignete Kapitalstock stetig vermehrt wird, indem Arbeitskraft ausgebeutet und Natur angeeignet wird. Dies hat tiefgreifende Implikationen für die Mobilität von Waren und Menschen. Die Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise sorgt dafür, dass der Umfang von und der Bedarf nach Verkehr stetig ansteigt (Malm 2016).

Der Ausgangspunkt der marxistischen Theorie ist, dass Menschen sich Natur aneignen und zu ihren Zwecken umgestalten. Die Menschen sind einerseits selbst Teil der Natur, andererseits konstituieren sie sich gerade durch ihre bewusste und kollektive Arbeit an der Natur als Gesellschaft. Das heißt, die Naturaneignung ist immer gesellschaftlich vermittelt (Marx 1971). Die kapitalistische Produktionsweise bringt bestimmte gesellschaftliche Naturverhältnisse hervor, die dazu neigen, von der eigenen Qualität der Natur zu abstrahieren und sie tendenziell schrankenlos auszubeuten. Damit untergräbt der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen und impliziert grundlegend krisenhafte Naturverhältnisse (Görg 2003). Im Laufe ihrer Geschichte haben die kapitalistischen Gesellschaften ihre Umwelt tiefgreifend umgestaltet und eigene gebaute Umwelten (Fabriken, Kraftwerke, Wohngebäude, Energienetze etc.) geschaffen (Harvey 2006). Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Verkehrsinfrastrukturen (Eisenbahn- und Straßennetze, Bahnhöfe, Produktionsstätten, Parkplätze, Tankstellen etc.), die auf einem immensen Input an fossilen Brennstoffen basieren und zugleich erst die Raumüberwindung ermöglichen, die eine Basis für das kapitalistische Wachstum ist.

Historisch betrachtet ist Wirtschaftswachstum ein relativ neues Phänomen. Vor dem Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert speiste sich Wirtschaftswachstum, eine in dieser Zeit unbekannte Kategorie, vorwiegend aus dem Zuwachs der Bevölkerung. Erst im späten 18. Jahrhundert steigt, getrieben durch die kapitalistischen Industrialisierungsprozesse in England, der Output der produzierten Waren pro Kopf kontinuierlich an. Allerdings nimmt das Wachstum einen räumlich und zeitlich sehr unterschiedlichen Verlauf. Zwei ineinandergreifende Aspekte waren zentral für die Dynamisierung der ökonomischen Entwicklung: die Durchsetzung kapitalistischer Formen und die durch die Erfindung der Dampfmaschine begünstigte Nutzung fossiler Energieträger (Altvater 2016, S. 811–816).

Das System der Lohnarbeit ermöglichte es in Verbindung mit der Nutzung fossiler Energieträger (der Kohle), die Arbeitsproduktivität stetig zu erhöhen. Die Extraktion und Verbrennung fossiler Rohstoffe geht einher mit einer tiefgreifenden Transformation der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Der energetische Input der Gesellschaft basierte nicht mehr vorrangig auf den verfügbaren erneuerbaren Energien (Holz sowie Wind- und Wasserkraft) und der tierischen und menschlichen Körperkraft, sondern die in Jahrtausenden in der Kohle (später auch Erdöl und -gas) eingelagerten Energien werden für die gesellschaftliche Produktion nutzbar gemacht. Damit werden zugleich CO2-Emissionen freigesetzt. Entsprechend wurde durch den fossilen Extraktivismus die Grundlage für den gravierenden Anstieg der Treibhausgasemissionen gelegt (Malm 2016, S. 279–316). Die Weltdurchschnittstemperatur hat sich bereits um mehr als ein Grad Celsius erhöht.

Neben den Formen der intensiven Akkumulation, die auf eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität abzielt, spielten im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung immer auch Formen der extensiven Akkumulation eine bedeutende Rolle. Die extensive Akkumulation zielt darauf ab, zusätzliche Räume und noch nicht kommodifizierte gesellschaftliche Sphären für die Kapitalverwertung zu erschließen. Diese Prozesse werden anknüpfend an Karl Marx und Rosa Luxemburg häufig als Landnahme bezeichnet (Dörre 2013). Im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung greifen Formen der intensiven und extensiven Akkumulation immer ineinander bzw. verstärken sich wechselseitig (Becker 2002). So ging etwa die Erhöhung der Arbeitsproduktivität mittels des Einsatzes fossiler Energieträger und der Entwicklung neuer Technologien damit einher, dass verstärkt Rohstoffe extrahiert und Absatzmärkte für die produzierten Waren geschaffen werden mussten.

Zudem war die räumliche Ausweitung der Produktionsprozesse mit der Notwendigkeit verbunden, entsprechende Verkehrsinfrastrukturen zu schaffen, die die Mobilität der Waren (und Arbeiter_innen) ermöglichen. Zugleich stellten diese Infrastrukturen und die damit korrespondierenden Verkehrsmittel wichtige Anlagesphären für das Kapital dar. Zunächst die Eisenbahn-, später die Autoindustrie entwickelten sich zu zentralen Branchen des neuen Industriekapitalismus. Der wachsende Verkehr ist also eine Voraussetzung für kapitalistische Akkumulation und Wachstum und beschleunigt diese gleichzeitig (Altvater 2016, S. 817–819).

Im späten 18. und 19. Jahrhundert wurde das Eisenbahnnetz in Europa massiv ausgeweitet. Auch die Dampfschifffahrt und die entsprechenden Hafeninfrastrukturen wurden ausgebaut, Flüsse wurden begradigt. Damit wurde die Geschwindigkeit zur Überwindung des Raumes von seinen „natürlichen“ Schranken entkoppelt (Reheis 2016, S. 827–829). Insofern ging der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur mit der im Kapital angelegten Tendenz zur Schaffung des Weltmarktes einher:

„Die Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben. Jede Grenze erscheint als zu überwindende Schranke. Zunächst, jedes Moment der Produktion selbst dem Austausch zu unterwerfen und das Produzieren von unmittelbaren, nicht in den Austausch eingehenden Gebrauchswerten aufzuheben, d. h. eben, auf dem Kapital basierte Produktion an die Stelle früherer, von seinem Standpunkt aus naturwüchsiger Produktionsweisen zu setzen. Der Handel erscheint hier nicht mehr als zwischen den selbständigen Produktionen zum Austausch ihres Überflusses vorgehende Funktion, sondern als wesentlich allumfassende Voraussetzung und Moment der Produktion selbst“ (MEW 42, S. 321).

Damit ist eine weitere zentrale Kategorie historisch-materialistischer Theoriebildung angesprochen: der Raum. Nach dem Verständnis von Henry Lefebvre (1991) ist Raum immer das Ergebnis von gesellschaftlicher Praxis. Diese soziale Produktion des Raums nimmt im Kapitalismus eine spezifische Form an. So geht die kapitalistische Entwicklung mit Urbanisierungsprozessen einher, die das ungleiche Beziehungsgefüge von Stadt und Land rekonfiguriert. Die städtischen Industrialisierungsprozesse und der damit zusammenhängende Bedarf an Arbeitskräften musste durch Formen der ursprünglichen Akkumulation ermöglicht werden, die auf einer Überwindung feudaler Abhängigkeitsverhältnisse, aber auch auf einer Zerstörung bzw. Einhegung der (ländlichen) Allmenden basierten. Die Stadt wurde der entscheidende Ort „für eine vom Grundeigentum unabhängige Existenz und Entwicklung des Kapitals“ (Schmid 2010, S. 124).

Nach dem Verständnis von David Harvey setzt sich die kapitalistische Landnahme bzw. Umgestaltung der räumlichen Verhältnisse bis heute fort. Er spricht von einer Zeit-Raum-Kompression im Kapitalismus. Der Aufbau tendenziell weltumspannender Verkehrsnetze ist eine wesentliche Voraussetzung für die tatsächliche Durchsetzung des Weltmarkts. Zugleich verkörpern die Verkehrsinfrastrukturen im Sinne einer gebauten Umwelt ein wichtiges Feld kapitalistischer Investitionen. Mit der verkehrlichen Erschließung des gesamten Erdballs wird der Raum einerseits homogenisiert. Andererseits spitzt sich die dem Kapitalismus immanente ungleiche räumliche Entwicklung zu, die wesentlich durch die Anbindung unterschiedlicher Räume an Mobilitätssysteme vermittelt ist (Harvey 2006).

In der Phase des Fordismus bekam die Entwicklungsdynamik des Kapitalismus und damit einhergehend das Verkehrs- und Wirtschaftswachstum eine ganz neue Qualität. Dies gilt auch im Hinblick auf die Zuspitzung der Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Zunehmend wurde offensichtlich, dass die Wirtschaftsweise zu massiven Schädigungen der Umwelt führt, die negativ auf die Entwicklungsmöglichkeiten und die Lebensqualität in den Gesellschaften zurückwirkt. Der Fordismus lässt sich als eine Phase kapitalistischer Entwicklung fassen, die sich in Folge der großen Weltwirtschaftskrise nach 1929 etablierte und in den 1950er- und 60er-Jahren ihre Blüte erlebte.Footnote 1 Die Phase war durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet: die Reorganisation des Produktionsprozesses mittels der Einführung der Fließbandarbeit und der Taylorisierung des Fertigungsprozesses und damit zusammenhängender immenser Produktivitätszuwächse; die Fertigung von standardisierten, industriell gefertigten (Massen-)Konsumgütern; die Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten infolge relativ hoher Lohnabschlüsse und die gesellschaftliche Interessensvermittlung mittels massenintegrativer Apparate (Volksparteien, Gewerkschaften); das geschlechterpolitische Arrangement der bürgerlichen Kleinfamilie, die Lohnarbeit männlich und Hausarbeit weiblich definierte. International abgesichert wurde die fordistische Entwicklungskonstellation nach dem Zweiten Weltkrieg durch das Bretton-Woods-System (Hirsch und Roth 1986). Die fordistische Entwicklungskonstellation ging zudem einher mit einer Verallgemeinerung der imperialen Produktions- und Lebensweise in den kapitalistischen Zentren, also einer Lebensweise, die auf einer stetigen Aneignung von Natur und Arbeitskraft aus dem Globalen Süden basiert (Brand und Wissen 2017, S. 85–94).

In dieser Phase des organisierten Kapitalismus wurde das Automobil zum zentralen Verkehrsmittel, die verkehrliche Infrastrukturentwicklung auf die Automobilität ausgerichtet. Durch die Charta von Athen wurde im Jahr 1933 das Leitbild der funktional differenzierten Stadt in der Fachwelt verbreitet, in der Arbeiten, Wohnen und Freizeit räumlich getrennt werden sollten. Die zur Erholung und der Reproduktion der Ware Arbeitskraft dienenden neu entstehenden Einfamilienhaussiedlungen sollten durch ein gut ausgebautes, autogerechtes Straßennetz mit den Arbeits- und Produktionsstätten verknüpft werden. In der städtischen Politik und der Alltagspraxis der Subjekte setzte sich das Konzept der autogerechten Stadt in der Bundesrepublik allerdings erst seit den 1950er-Jahren durch. Damals wurde es zum Leitbild der Stadtplanung und Manifestation der fordistischen Entwicklungsweise auf der urbanen Ebene (Holzapfel 2016, S. 86). Mit zunehmender Automobilisierung wurde der öffentliche Verkehr nach und nach marginalisiert. So entschied etwa der (West-)Berliner Senat Anfang der 1960er-Jahre – wie viele andere Stadtregierungen in den westlichen Gesellschaften – die Straßenbahnen abzuschaffen (Knie 2016, S. 42). In den USA haben General Motors und andere Konzerne mit darauf hingewirkt, dass bis in die späten 1950er-Jahre mehr als 90 % des Straßenbahnnetzes stillgelegt wurden (Paterson 2007, S. 73–73). Am deutlichsten bildete sich die neue automobilzentrierte städtische Konfiguration in Los Angeles heraus. Der Niedergang des öffentlichen Verkehrs korrespondierte mit dem Niedergang des Stadtzentrums und einer forcierten Suburbanisierung, in der das Automobil als einziges verbliebenes Fortbewegungsmittel fungierte (Läpple 1997, S. 200–201).

Zugleich handelt es sich beim Automobil zu einem gewissen Grad um ein positionelles Gut. War das Automobil in seinen Anfängen den Reichen vorbehalten, verlor es nach und nach seinen exklusiven Status (Gorz 2009; Sachs 1984). Die Zahl der in der BRD zugelassenen Automobile stieg von einer halben Million im Jahr 1950 auf 16,5 Mio. im Jahr 1975 an (Canzler 2016, S. 71). Damit einher gingen verschiedene Probleme von Verkehrsstaus über Unfälle, ein massiver Flächenverbrauch bis zu rasant ansteigenden verkehrsbedingten Emissionen. Darüber hinaus wurden mit den neu entstandenen automobilen Möglichkeiten zugleich neue Abhängigkeiten und Zwänge geschaffen: der Zwang weite Wege zum Arbeitsplatz zurückzulegen, große Summen für den Kauf und die Unterhaltung eines Autos aufzubringen und sich mit dem wachsenden Verkehrsfluss zu arrangieren: „Die scheinbare Autonomie des Besitzers verschleierte seine radikale Abhängigkeit“ (Gorz 2009, S. 56). Mit den offensichtlich werdenden Schattenseiten der autogerechten Gesellschaft entwickelten sich seit den frühen 1970er-Jahren Debatten in sozialen Bewegungen und in der Wissenschaft, die die Automobilität kritisch hinterfragten und die Frage nach Alternativen aufwarfen.

Neben den materiellen Eigenschaften des Autos spielen zugleich kulturelle Dynamiken und die Produktion von automobilen Subjektivitäten eine wichtige Rolle, um die „Erfolgsgeschichte“ des Automobils zu verstehen (Paterson 2007, S. 121–165; Sachs 1984). Im Lauf des 20. Jahrhunderts avancierte das Automobil zum zentralen Symbol für Fortschritt, Wohlstand und Unabhängigkeit. Die Bedeutung des Autos geht also weit über seine funktionalen Eigenschaften zur Überwindung des Raumes bzw. der Befriedigung von Mobilitätsbedürfnissen hinaus. Vielmehr wird Automobilität vielfach mit Freiheit und Wohlstand konnotiert und mit der Erschließung neuer Möglichkeitsräume verbunden, die etwa über Automobilclubs wie den ADAC und einschlägige Zeitschriften popularisiert wurden:

Die Aufladung des Autos als Ausdruck einer „freien“ Gesellschaft drückt sich auch in der heute etwas skurril anmutenden Einordnung des damaligen Vize-Präsidenten des ADAC, Hans Bretz, aus, der in den 1950er-Jahren das Automobil als Ausdruck einer „nicht kollektivistischen Gesellschaftsform“ (zitiert nach Manderscheidt 2012, S. 154) überhöhte.

Neben dem automobilen Freiheitsversprechen ist die Durchsetzung der Automobilität vielfach verwoben mit patriarchalen Geschlechterverhältnissen. Das Auto ist eng mit einer hegemonialen Männlichkeit verbunden, die sich in automobilen Alltagspraktiken und einer symbolischen Verbindung des männlichen Körpers mit der Macht der Maschine ausdrückt. Die dominanten Geschlechterverhältnisse äußern sich etwa in sexistischer Werbung und einer entsprechenden Konnotation des Automobils, aber auch darin, dass die Automobilisierung der Gesellschaft in der Phase des Fordismus weitgehend auf die erwerbstätigen Teile der Bevölkerung beschränkt blieb, also vorwiegend die Männer (Paterson 2007, S. 47–49; Brand und Wissen 2017, S. 137–141).

Der stetige Bedeutungszuwachs des Automobils korrespondierte allerdings nicht nur mit einer immer tieferen Verankerung der Automobilität in den Alltagspraxen. Vielmehr wurde auch die Automobilindustrie im Laufe des 20. Jahrhunderts zur globalen Leitindustrie und ein wichtiges Terrain der Arbeiterkämpfe. Beverly Silver (2005) zeigt, dass die räumliche Expansion der Automobilindustrie auch getrieben war von Kämpfen der Arbeiter_innen im Autosektor. Durch die stetig wachsende automobile Durchdringung der westlichen kapitalistischen Gesellschaften konnten stets neue Formen der Landnahme erfolgen und die kapitalistische Akkumulationsdynamik erneuern. Entsprechend konstatierte bereits im Jahr 1946 der Unternehmensanalyst Peter Drucker: „The automobile industry stands for modern industry all over the globe. It is to the twentieth century what the Lancashire cotton mills were to the early nineteenth century: the industry of industries“ (zitiert nach Paterson 2007, S. 93).

Insofern lässt sich festhalten, dass in der fordistischen Entwicklungskonstellation nicht nur ein großes BIP-Wachstum erzielt wurde. Breite Massen der Bevölkerung partizipierten an dem wachsenden Output von Gütern und Dienstleistungen. Ulrich Beck (1986, S. 122) prägte den Begriff des Fahrstuhl-Effekts: Zwar wurden die Klassengegensätze weder überwunden noch geschmälert, aber alle fuhren im Fahrstuhl nach oben zu mehr (Konsum-)Möglichkeiten. Das Auto wurde zum Symbol des neuen Wohlstands und Fortschritts, die hohen Wachstumsraten ermöglichten eine stabile Entwicklungskonstellation und die Einhegung gesellschaftlicher Konflikte (Dörre 2013, S. 119–120). Gleichwohl wurde das BIP-Wachstum wie auch das Verkehrswachstum mit enormen sozialen und ökologischen Problemen und neuen Abhängigkeiten erkauft. Der Fordismus war die Phase der Universalisierung der imperialen Lebensweise im globalen Norden.

Damit ist die Verkehrsentwicklung aus einer historisch-materialistischen Perspektive nicht zuletzt eng mit Fragen der Mobilitätsgerechtigkeit verbunden. Auch wenn in der Literatur keine einheitliche Definition dieses Begriffs vorliegt, soll er hier in einem umfassenden Sinne verstanden werden: Mobilitätsgerechtigkeit ist dann gegeben, wenn auf allen Scales (von der Quartiers- bis zur globalen Ebene) die Beschäftigten in den Mobilitätsunternehmen gute Arbeitsbedingungen vorfinden, wenn alle Menschen einen gleich guten Zugang zu Mobilitätsangeboten haben und wenn alle Menschen gleich gut vor den negativen Auswirkungen des Verkehrs geschützt werden (Klimakrise, Lärm, Luftverschmutzung).

Während die Entwicklungskonstellation bis in die 1970er-Jahre hinein in der historisch-materialistischen Debatte als fordistisch klassifiziert wird, herrscht keine Einigkeit darüber, wie die darauf folgende Phase bezeichnet werden soll. Häufig wird sie deshalb lediglich als post-fordistisch bezeichnet. Unstrittig ist jedoch, dass sich die kapitalistischen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend gewandelt haben. So haben sich die Formen der Arbeitsorganisation grundlegend geändert. Statt starrer, extrem arbeitsteiliger, tayloristischer Formen fand ein Übergang zu flexibleren Formen und just-in-time Produktion statt, die unter Schlagwörtern wie Toyotismus gefasst werden (Jürgens et al. 1993). Zudem wurde eine Spaltung der Beschäftigten durchgesetzt in Kernbelegschaften, die (noch) stark von den Errungenschaften des Fordismus profitieren, und prekären Randbelegschaften, die zumeist über Leiharbeitsfirmen beschäftigt werden. Zudem fand nach dem Ende des Fordismus ein Übergang von einer Niedrig- zu einer Hochzinspolitik und die Aufwertung des Finanzsektors statt. Die Staaten wandelten sich in diesem Prozess selbst zu nationalen Wettbewerbsstaaten und trieben die Veränderungen aktiv voran. Einmal in Gang gesetzt mussten sich die Staaten an dem sich intensivierenden Standortwettbewerb ausrichten, der durch die Liberalisierung und Deregulierung des Handels und der Finanzmärkte befeuert wurde (Hirsch 1996).

Im Zuge dieser Umbrüche haben sich zwar die Gesellschaften verändert und durch flexiblere Lebensentwürfe haben sich auch die Mobilitätsbedürfnisse ausdifferenziert. Gleichwohl hat sich an dem grundlegenden Zusammenhang, dass durch die stetige Orientierung auf Kapitalakkumulation in immer kürzeren Zeiträumen immer mehr Waren und Personen über immer längere Distanzen bewegt werden sollen, nichts geändert. Insofern ist es wenig überraschend, dass das Verkehrswachstum häufig das Wirtschaftswachstum übertrifft und der nach wie vor überwiegend auf fossilen Energieträgern basierende Verkehrssektor ganz wesentlich das Klima aufheizt (Altvater 2016). In der postfordistischen Phase hat sich also die autodominierte Gesellschaft nicht grundlegend verändert. Sie trägt wesentlich dazu bei, dass sich die Krise der Naturverhältnisse verschärft. Gesellschaftliche Krisen und Konflikte spitzen sich zu.

3 Dimensionen historisch-materialistischer Mobilitätsforschung

Historisch-materialistische Ansätze können dazu beitragen, die grundlegenden Strukturen des kapitalistischen Verkehrssystems sowie die aktuell mit ihm assoziierten Krisen und Umbrüche zu verstehen. Sie können ferner einen Beitrag dazu leisten, Ansatzpunkte für die Überwindung des Dilemmas von kapitalistischem Wachstum, sozialer Polarisierung und einer voranschreitenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen zu finden. Für eine solche Analyse ist eine Unterscheidung von vier gesellschaftlichen Dimensionen gewinnbringend, wie sie Haas (2020) für das Verständnis einer hegemonialen Verankerung des Automobils vorgeschlagen hat: die Ökonomie, die Ideologie, die Alltagspraxen und der integrale Staat. Diese Dimensionen beeinflussen sich wechselseitig und sind als analytische Differenzierungen zu verstehen, die sich in der komplexen empirischen Wirklichkeit vielfältig überlagern.

3.1 Ökonomie

Im Gegensatz zu den meisten anderen Ansätzen in der Mobilitätsforschung bildet für historisch-materialistische Perspektiven die Ökonomie der Mobilität einen wichtigen Bezugspunkt. Zum Verständnis der Verkehrswirtschaft ist es wichtig zu berücksichtigen, dass die entsprechenden Unternehmen sich entlang der Wertschöpfungsketten in verschiedene Fraktionen und Teilbranchen differenzieren. Da sind zunächst die Automobilindustrie und die Zuliefererbeitriebe. Diese spielen nicht nur in Deutschland und der EU, sondern weit darüber hinaus eine bedeutende Rolle. Der weltweite Fahrzeugbestand beträgt mehr als eine Milliarde Autos. Mehr als fünf Prozent der globalen Industriearbeiter_innen sind im Automobilsektor beschäftigt, der von wenigen Großkonzernen dominiert wird und auf vielfache Weise mit anderen Sektoren verflochten ist (Ölindustrie, Rohstoffe, Bausektor etc.) (Mattioli et al. 2020, S. 4).

Im Zuge der sich gegenwärtig vollziehenden Elektrifizierung des Verkehrs zeichnen sich Rekonfigurationen der globalen Wertschöpfungsketten ab. So stellen etwa die Konkurrenz von Tesla und chinesischen Herstellern die deutschen Automobilunternehmen, die sehr lange am Verbrennungsmotor festgehalten haben und es teilweise immer noch tun (Stichwort: E-Fuels), vor große Herausforderungen. Insbesondere einige Zulieferbetriebe, die ausschließlich Teile für den fossilen Antriebsstrang herstellen, sind in ihrer Existenz bedroht. Doch zugleich ergeben sich etwa mit der Ansiedlung von Batteriefabriken oder neuen Werken (wie Tesla in Grünheide) neue Wertschöpfungspotenziale (Daum 2022).

Ferner vollzieht sich nicht nur eine Umstellung des Antriebsstrangs, sondern der Verkehr wird zunehmend digitalisiert. Insofern stellt sich auch die Frage, ob und wie die globalen Tech-Giganten (Apple, Alphabet, Amazon, Microsoft) weiter in den Verkehrssektor eindringen werden und wie sich das Verhältnis von Automobilindustrie und Tech-Konzernen gestalten wird. Diese Rekonfiguration der globalen Produktionsnetzwerke, die auch den Logistik- und den Rohstoffsektor betreffen, macht eine just transition erforderlich. Kristina Dietz und Louisa Prause (2023, S. 61) verweisen auf Schätzungen der Internationalen Energieagentur, wonach zwischen 2020 und 2040 die Nachfrage nach Lithium „um das 43-Fache, nach Kupfer um das 28-Fache und nach Kobalt um das 21-Fache steigen wird.“ Der Anstieg der Nachfrage ist nicht ausschließlich, aber zu einem bedeutenden Teil durch die E-Automobilität getrieben. Entsprechend argumentieren Dietz und Prause, dass Mobilitätsgerechtigkeit sämtliche Auswirkungen in den globalen Produktionsnetzwerken berücksichtigen muss. Dazu gehören nicht nur die Arbeitsbedingungen in den Mobilitätsindustrien, sondern auch die Produktionsbedingungen im Bergbausektor sowie die Nord-Süd-Beziehungen im Allgemeinen (vgl. Kap. 2).

Zudem gibt es diverse Anknüpfungspunkte zum Forschungsbereich der industriellen Beziehungen, der zumeist stärker auf den globalen Norden ausgerichtet ist. Inwieweit gelingt es, im Zuge der oben skizzierten Veränderungen gewerkschaftliche und betriebliche Errungenschaften zu erneuern und entlang der Wertschöpfungskette zu vertiefen? (Dörre et al. 2023) Wie ist es möglich, Beschäftigte in neuen Mobilitätsdienstleistungen und im Rahmen von neuen Ansiedlungen gewerkschaftlich zu organisieren? Werden vor dem Hintergrund von gravierenden Veränderungen bis hin zu Werksschließungen neue Konversionskonzepte entwickelt und in Umsetzung gebracht? (Candeias und Krull 2022)Footnote 2 Diese und weitere Fragen stellen sich exemplarisch ausgehend von einer historisch-materialistischen Perspektive auf den Wandel von Mobilität und der damit zusammenhängenden Industrien.

3.2 Ideologie

Dass es sich beim Automobil nicht lediglich um ein beliebiges Konsumgut handelt, ist gut durch Forschungsarbeiten dokumentiert (Sachs 1984; Paterson 2007). Es ist eine Ware, die im öffentlichen Raum genutzt wird und immer auch ein Abbild der ungleichen gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt, die sich etwa entlang der Achsen von Klasse, Rasse und Geschlecht konstituieren. André Gorz schreibt dazu: „Der Massenautomobilismus ist die Konkretisierung eines vollständigen Triumphs der bürgerlichen Ideologie auf der Ebene der Alltagspraxis: Er begründet und unterhält die trügerische Vorstellung, dass sich jedes Individuum auf Kosten aller mehr Geltung verschaffen und bereichern kann“ (2009, S. 53). Dies deutet darauf hin, dass Automobile als privates und damit exklusives Gut Klassenunterschiede im öffentlichen Raum manifestieren und sinnbildlich für die in kapitalistischen Gesellschaften immanenten Statusunterschiede und Konkurrenzverhältnisse sind. Alan Walks zufolge gilt: „[…] automobility and the experience of driving help reproduce an ethos of individualism, self-reliance and competition“ (zit. nach Mattioli et al. 2020, S. 8).

Neuere Forschungen zeigen, dass sich die kulturelle Aufladung des Automobils seit dem Ende der fordistischen Ära verändert hat. Wurde lange Zeit das Auto vor allem als ein Garant für Freiheit und Fortschritt popularisiert (insbesondere in der Zeit, in der der Massenautomobilismus noch nicht so weit entwickelt gewesen ist), lässt sich in jüngerer Zeit beobachten, dass das Auto zunehmend zu einem Rückzugsort stilisiert wird (Haas 2018). Peter Wells und Dimitrios Xenias (2015) fassen diese Veränderung im einprägsamen Titel eines Beitrags folgendermaßen zusammen: „from the freedom of the open road to cocooning“. Nicht mehr das Versprechen von Freiheit dient als wesentliches Verkaufsargument, sondern das Automobil fungiert als Rückzugsraum, um sich vor einer zunehmend krisenhaften Umwelt und den Zumutungen des Massenverkehrs zu schützen. „SUV-Fahren [diene] als Krisenstrategie“, so Brand und Wissen (2017, S. 125). Die veränderte symbolische Zuschreibung und praktische Nutzung des Autos ist also auch Ausdruck gesellschaftlicher Krisen, die von den Subjekten als Verunsicherung ihrer Alltagsroutinen erlebt werden und zu entsprechenden Anpassungsstrategien führen. In Anbetracht der hier nur skizzierten Umbrüche in der politischen Ökonomie des Autos stellt sich die Frage, inwieweit die Hersteller etwa mittels Konzeptautos die Vision als Rückzugsraum weiter popularisieren und wie sich durch luxuriöse Infotainment-Ausstattungen neue Wertschöpfungspotenziale erschließen lassen (Haas und Jürgens 2020).

3.3 Integraler Staat

In der staatstheoretischen Tradition angelehnt an Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas kann der integrale Staat als Nexus zwischen Zivilgesellschaft und Staat im engeren Sinne verstanden werden. Während in der Zivilgesellschaft vor allem Deutungskonflikte um die gesellschaftliche Entwicklungsrichtung ausgetragen werden, ist der Staat als ein soziales Verhältnis zu begreifen, in dem sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse verdichten. Der Staat ist somit kein neutraler Akteur, sondern konstituiert sich durch gesellschaftliche Konflikte und reproduziert die ungleichen Machtverhältnisse in der Gesellschaft. Zudem sind Staaten selbst durch ihre Finanzierung vorwiegend über Steuern abhängig von der Kapitalakkumulation und stehen unter Legitimationsdruck (Gramsci 1994; Poulantzas 2002).

Die Dominanz des Automobils wird in den zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen reproduziert und hat sich tief in die staatlichen Apparate eingeschrieben. Dies ist im Hinblick auf die Verkehrs- und Infrastrukturentwicklung auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen relevant. So setzt etwa die überragende Bedeutung der Automobilindustrie im Modell Deutschland der Entwicklung von alternativen Mobilitätsoptionen relativ enge Grenzen, zumal sich keine Akkumulationsstrategie jenseits des Automobils abzeichnet, die eine Abkehr von der bestehenden, stark auf das Automobil ausgerichteten, kompensieren könnte (Haas 2021; Keil und Steinberger 2023).

Der Staat nimmt mit verschiedenen Instrumenten Einfluss auf die Entwicklung des Verkehrs und spielt in der Verkehrs- und Infrastrukturentwicklung eine zentrale Rolle. Er bestimmt die Grundlagen der Mobilität durch das Ordnungsrecht, konkretisiert deren Ausgestaltung durch Planungsinstrumente auf verschiedenen Ebenen und kann darüber hinaus die Mobilitätsentwicklung über Steuern und Subventionen lenken. Allerdings stellt ein austeritätspolitisches Setting eine harte Restriktion für Investitionen in die Erhaltung der Mobilitätsinfrastruktur dar, wenngleich es durchaus großzügige Förderprogramme für den Markthochlauf der E-Automobilität gegeben hat, die jedoch im Zuge der für 2024 beschlossenen Haushaltskürzungen teilweise ausgelaufen sind (etwa die Prämie für den Kauf von E-Autos). Insofern gibt es innerhalb des Staates auf verschiedenen Maßstabsebenen Konflikte darum, wie hoch die Investitionen in den Mobilitätsbereich ausfallen,Footnote 3 wie diese auf die verschiedenen Verkehrsträger aufgeteilt werden und wer darüber bestimmen darf.

Diese Auseinandersetzungen lassen sich etwa im Rahmen einer historisch-materialistischen Policy-Analyse (HMPA) beforschen, die darauf ausgerichtet ist, den übergeordneten polit-ökonomischen Kontext in Artikulation mit konkreten Policy-Auseinandersetzungen zu bringen (Brand et al. 2022). Mit diesem Ansatz lassen sich beispielsweise die umkämpften Aushandlungen des Bundesverkehrswegeplans oder der Förderinstrumente für E-Autos analysieren. Darüber hinaus spielt auch die nationalstaatliche oder EU-Industriepolitik eine bedeutende Rolle etwa für die Entwicklung der Automobilindustrie (Pichler et al. 2021). Es stellt sich somit die Herausforderung, die Auseinandersetzungen in der Zivilgesellschaft und im Staat im engeren Sinne mit der Entwicklung von Mobilität im Sinne einer HMPA in Artikulation zu bringen.

3.4 Alltagspraxen

Die Auseinandersetzungen in Staat und Zivilgesellschaft wirken sich auch in vielfacher Hinsicht auf die (mobilitätsbezogenen) Alltagspraxen der Menschen aus. Welche Möglichkeiten gibt es im Hinblick auf die Nutzung des ÖPNVs? Wie sind die infrastrukturellen Voraussetzungen für verschiedene Formen von individueller Mobilität? Inwieweit werden neue Sharing-Modelle angeboten und angenommen? Diese wichtigen Fragen stehen häufig im Zentrum der Mobilitätsforschung. Gleichwohl stellt sich aus historisch-materialistischer Perspektive die Frage, inwieweit alltägliches Mobilitätsverhalten vermittelt ist mit den Dynamiken kapitalistischer Vergesellschaftung. Zugleich beeinflussen die alltäglichen Mobilitätspraktiken indirekt auch die politischen Strategiekonflikte im integralen Staat. Alltagsverhalten lässt sich nicht vollständig auf ökonomische und politische Strukturen zurückführen, sondern verfügt über einen Eigensinn, der seinerseits wirkmächtig werden kann.

Das gilt etwa im Hinblick darauf, wie Formen von sozialer Ungleichheit das Mobilitätsverhalten beeinflussen. Damit sind Fragen der Mobilitätsgerechtigkeit aus der Perspektive der Nutzer_innen angesprochen (vgl. Kap. 2). Es gibt eindeutige Befunde, dass mit wachsendem Einkommen der Verkehrssaufwand und damit der ökologische Fußabdruck deutlich steigt. Während in Deutschland 92 % der wohlhabenderen Haushalte über ein oder mehrere Autos verfügen, nutzen Menschen aus ärmeren Haushalten deutlich häufiger den öffentlichen Nahverkehr (Nobis und Kuhnimhof 2018). Im Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse zeigt sich, dass Frauen, die nach wie vor den überwiegenden Teil der Sorgearbeit übernehmen und häufiger in Teilzeit arbeiten, regelmäßig mehrere Wegeketten miteinander kombinieren und entsprechend andere Mobilitätsbedürfnisse als Männer haben. Männer legen pro Tag doppelt so viele Kilometer mit dem Pkw zurück (dies.). Bauhardt (2007) etwa hat gezeigt, dass das Angebot des ÖPNV stark auf (männliche) Berufspendler ausgerichtet ist und weniger auf Menschen, die Sorgetätigkeiten verrichten und entsprechend andere Mobilitätsbedarfe haben. Die Forschung zu mobility justice (mit Fokus auf die USA) verdeutlicht darüber hinaus, dass die ungleiche Entwicklung innerhalb von städtischen Räumen sich häufig entlang von ethnischen Linien entwickelt und Mobilitätsarmut eine starke rassistische Komponente aufweist (Sheller 2018). Entsprechend stellt sich die Herausforderung aus historisch-materialistischer Perspektive, die mobilitätsbezogenen Alltagspraxen in Beziehung zu setzen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und darin eingeschriebenen Ungleichheitsverhältnissen.

4 Perspektiven historisch-materialistischer Mobilitätsforschung

Es sind verschiedene historisch-materialistisch inspirierte Arbeiten zu Mobilität entstanden, aber es hat sich bisher keine kohärente Forschungsrichtung in diesem Feld herausgebildet. Gleichwohl gibt es diverse kleinere Forschungsprojekte, die verschiedene Facetten von Mobilität untersuchen und dabei an Ansätze des historischen Materialismus anknüpfen. In diesem Sinne ist auch das im letzten Abschnitt skizzierte Konzept der vierdimensionalen hegemonialen Absicherung der Automobilität entstanden. Zentrales Merkmal von historisch-materialistischen Zugängen zu Mobilität ist, dass sie empirische Phänomene nicht isoliert betrachten, sondern in Artikulation bringen mit den übergeordneten kapitalistisch geprägten Verhältnissen. Dieser Anspruch entspricht dem Ansatz der HMPA, die neben der Akteurs- und der Prozessanalyse auch den Kontext, also den gesellschaftlichen (Re-)produktionszusammenhang in die jeweilige Analyse einbezieht (Brand et al. 2022).

Vor diesem Hintergrund können historisch-materialistische Ansätze insbesondere Beiträge dazu leisten, die politische Ökonomie der Mobilität zu analysieren. Allerdings muss dabei berücksichtigt werden, dass die Sphären der Ökonomie, der Ideologie, des integralen Staates und der Alltagspraxen aufeinander bezogen sind. In diesem Sinne ist auch die eingangs zitierte Aufforderung von Oliver Schwedes zu verstehen, die Verkehrsentwicklung nicht losgelöst von der Entwicklung des Kapitalismus zu analysieren (Schwedes 2017, S. 31).

In diesem Sinne können historisch-materialistische Forschungsansätze wichtige Beiträge leisten, gerade auch vor dem Hintergrund der sich aktuell vollziehenden Umbrüche und Konflikte in der Gesellschaft, die in der einen oder anderen Art und Weise starke Mobilitätsbezüge haben. Dies gilt sowohl für die Klima- als auch die Migrationspolitik. Gleichwohl gilt es, unterschiedliche Analyseperspektiven und auch unterschiedliche disziplinäre, inter- und transdisziplinäre Zugänge produktiv aufeinander zu beziehen, sodass die Mobilitätsforschung Impulse für eine globale, sozial und ökologisch gerechte Mobilitätswende setzen kann, die notwendigerweise weit über eine Elektrifizierung des Antriebsstrangs von Autos hinausgeht (Dietz und Prause 2023).